Urteil des OLG Köln vom 02.12.1998

OLG Köln (geschwindigkeit, unfall, mithaftung, kläger, geschwindigkeitsüberschreitung, zpo, zufahrt, fahrer, erhöhung, betrug)

Oberlandesgericht Köln, 13 U 152/98
Datum:
02.12.1998
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
13. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 U 152/98
Vorinstanz:
Landgericht Aachen, 10 O 8/96
Normen:
STVG §§ 7, 17; STVO § 3;
Leitsätze:
1. In Situationen, die für einen Kraftfahrer eine extrem starke
Aufforderung zu einer Einfachreaktion (Bremsen) darstellen, können bei
zu fordernder Bremsbereitschaft nur deutlich geringere Reaktionszeiten
als 1 Sekunde zugebilligt werden. 2. Zur Unfallursächlichkeit einer
Geschwindigkeitsüberschreitung des Vorfahrtberechtigten (hier:
mindestens 40 km/h statt zulässiger 30 km/h) und deren Gewichtung bei
der Abwägung nach § 17 StVG.
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Aachen
vom 13. Mai 1998 - 10 O 8/96 - wird zurückgewiesen. Der Kläger hat die
Kosten der Berufung zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Entscheidungsgründe
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Das angefochtene Urteil hält den Angriffen der Berufung in jeder Hinsicht stand. Der
Unfall war für den Zeugen Y. als Fahrer des dem Kläger gehörenden Taxifahrzeugs vom
Typ Mercedes-Benz fraglos nicht unabwendbar i.S.d. § 7 Abs.2 StVG. Ihn trifft vielmehr
wegen nicht unerheblicher Überschreitung der Geschwindigkeitsbegrenzung (auf 30
km/h) im Baustellenbereich ein unfallursächliches Mitverschulden, das bei der
Abwägung nach § 17 StVG keineswegs hinter dem schuldhaften
Mitverursachungsanteil der Beklagten zu 2. völlig zurücktreten kann. In erster Linie kann
hierzu auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Urteils verwiesen werden (§ 543
Abs.1 ZPO). Die Berufungsangriffe geben dem Senat lediglich Veranlassung zu
folgenden ergänzenden Ausführungen:
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1. Die Berufung beanstandet zu Unrecht, daß der Sachverständige Dr. P. - und ihm
folgend das Landgericht - der Beurteilung, daß der Zeuge Y. den Unfall hätte
vermeiden können, eine unverhältnismäßig kurze Reaktionszeit zugrunde gelegt
habe, die selbst von einem "Idealfahrer" nicht erwartet werden könne.
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a. In Situationen, die - wie im vorliegenden Fall - für einen Verkehrsteilnehmer eine
extrem starke Reaktionsaufforderung darstellen und ihm lediglich eine sog.
Einfachreaktion, nämlich ein volles Abbremsen seines Fahrzeugs abverlangen,
können bei zu fordernder Bremsbereitschaft nur deutlich geringere
Reaktionszeiten als 1 Sekunde zugebilligt werden. Eine längere Reaktionszeit als
0,8 sec. (einschließlich der mit ca. 0,2 sec. zu veranschlagenden Brems-Schwell-
Phase) kommt unter dem Blickpunkt der sog. Schrecksekunde nur bei plötzlichem
Auftreten einer unerwarteten Gefahr in Betracht, auf die der Kraftfahrer nicht
eingestellt sein muß (vgl. BGH NJW 1994, 941). Davon kann hier keine Rede sein.
In dem Baustellenbereich war - wenn nicht schon allgemein - jedenfalls bei der
Annäherung an solche Stellen, an denen die Baustellenabsperrung durchbrochen
war, um Anliegern die Zufahrt zu ermöglichen, erhöhte Reaktionsbereitschaft
erforderlich. Das gilt um so mehr, wenn - wie hier - die Sicht auf die Zufahrt (und
umgekehrt) nicht nur durch die Absperrbaken erschwert, sondern - wie von dem
Zeugen Y. bestätigt - durch eine auf der Ecke zwischen der Ausfahrt und der von
ihm befahrenen Hüttenstraße abgestellte Baumaschine teilweise versperrt war.
Die Zubilligung einer Reaktionszeit von - wie es im Gutachten des
Sachverständigen Dr. P. vom 01.02.1997, Seite 20, mit Recht heißt - "allenfalls"
0,9 sec. ist daher unter den gegebenen Umständen eher schon großzügig
bemessen.
b. Im übrigen unterstellt der Sachverständige bei seiner Berechnung zugunsten des
Klägers, daß sich die Beklagte zu 2. aus einer Annäherungsgeschwindigkeit von
mehr als 20 km/h mit einer gerade noch unterhalb einer Bremsspurzeichnung
liegenden Verzögerung von ca. 6 m/s2 in die Anstoßposition hineingebremst hat,
wofür sie dann etwa 1 Sekunde benötigte (Seite 19 jenes Gutachtens). Der
Sachverständige weist mit Recht darauf hin, daß es sich hier um einen
theoretischen Grenzwert handelt, weil den Umständen nach eher von einer
wesentlich geringeren "Einfahrgeschwindigkeit" der Beklagten zu 2. auszugehen
ist und demgemäß auch die Mindestzeitspanne von 1 Sekunde zwischen dem
Beginn des Einfahrens in die Hüttenstraße und der Kollision "mit hoher
Wahrscheinlichkeit deutlichst überschritten wurde" (ebenda). Die
Vermeidbarkeitsbetrachtung des Sachverständigen beruht daher schon auf den
dem Kläger günstigsten Annahmen. Dabei ist sogar unberücksichtigt geblieben,
daß sich der Unfall bei Dunkelheit ereignet hat (wobei die Unfallstelle allerdings
durch Straßenlaternen ausreichend beleuchtet war), so daß es gerade bei einer
unverzögerten Annäherung der Beklagten zu 2. schon als Reaktionsaufforderung
zu werten ist, sobald der von diesem Fahrzeug ausgehende Scheinwerferkegel für
den Zeugen Y. sichtbar wurde.
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2. Wenn selbst die aufgezeigten, eher unrealistischen Prämissen (zugunsten des
Klägers) zu dem Ergebnis führen, daß der Unfall für den Zeugen Y. bei Einhaltung
der vorgeschriebenen 30 km/h noch knapp vermeidbar gewesen wäre, dann kann
auch das unfallursächliche Verschulden des Zeugen nicht ernsthaft mit dem
Einwand in Frage gestellt werden, es sei für einen Fahrer unmöglich, zu
unterscheiden, ober er nun gerade 30 km/h oder schon 31 km/h fahre (Seite 4 der
Berufungsbegründung). Wer die zugelassene Geschwindigkeit so hart an der
Grenze ausschöpft, daß er nicht mehr beurteilen kann, ob er sie bereits
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überschreitet, verhält sich vorwerfbar. Tatsächlich betrug die
Kollisionsgeschwindigkeit des Klägerfahrzeugs indessen, wie der
Sachverständige Dr. P. durch Auswertung des vergleichbaren Kollisionsversuchs
bedenkenfrei eingegrenzt hat, mindestens 40 km/h. Gerade auf diese
Anstoßenergie aber ist das Ausmaß des angerichteten Gesamtschadens
zurückzuführen. An der maßgeblichen Unfallursächlichkeit dieser
Geschwindigkeitsüberschreitung würde es daher auch nichts ändern, wenn eine
Berührung der Fahrzeuge bereits bei einer Ausgangsgeschwindigkeit des
Klägerfahrzeugs von 31 km nicht mehr gänzlich zu vermeiden, jedoch dann auch
nur mit entsprechend geringfügigen Unfallfolgen verbunden gewesen wäre.
3. Die Berufung verkennt ersichtlich, welches Gewicht einer
Geschwindigkeitsüberschreitung von jedenfalls mehr als 30% bei der
Ursachenabwägung nach § 17 StVG beizumessen ist. Selbst nach der älteren
Rechtsprechung, die in der Regel erst bei einer Überschreitung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten von mehr als 20% eine
Quotierung vornahm, könnte hier von einer Mithaftung des Klägers nicht
abgesehen werden. Die neuere Rechtsprechung läßt demgegenüber mit Recht
auch schon geringere Geschwindigkeitsüberschreitungen hierzu genügen. Sie
berücksichtigt damit, daß überhöhte Geschwindigkeit als eine der häufigsten
Unfallursachen gilt, und trägt der Tatsache Rechnung, daß eine lineare Erhöhung
der Geschwindigkeit mit einer dem Quadrat der Geschwindigkeit entsprechenden
Erhöhung der Bewegungsenergie einhergeht (vgl. OLG Köln, VersR 1992, 110,
welches aus diesen Gründen schon eine Überschreitung der zulässigen
Geschwindigkeit von 60 km/h um mindestens 5 km/h zur Begründung einer
Mithaftung ausreichen ließ; ferner etwa OLG Hamm, NZV 1994, 277: Mithaftung
von 2/5 bei 115 km/h statt zulässiger 100 km/h). Eine Mithaftung des Klägers von
25% nach Maßgabe des angefochtenen Urteils ist daher nicht zu beanstanden.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs.1, 708 Nr.10, 713 ZPO.
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Streitwert der Berufung und Beschwer des Klägers durch dieses Urteil: 4.685,90 DM.
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