Urteil des OLG Köln vom 21.07.2006

OLG Köln: wiedereinsetzung in den vorigen stand, angeklagter, begriff, entschuldigungsgrund, beweislast, hausarzt, diagnose, glaubhaftmachung, aufklärungspflicht, wohnung

Oberlandesgericht Köln, 81 Ss 91/06
Datum:
21.07.2006
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
81 Ss 91/06
Tenor:
I. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird auf seine Kosten
verworfen.
II. Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch
über die Kosten der Revision – an eine andere Strafkammer des
Landgerichts Köln zurückverwiesen.
G r ü n d e :
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I.
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Das Amtsgericht Köln hat den Angeklagten "wegen vorsätzlicher
Insolvenzverschleppung und Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen in 4
Fällen unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Köln vom
11.09.2002 unter Auflösung der dort gebildeten Gesamtstrafe zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung
ausgesetzt wird".
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Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten durch Urteil gemäß § 329 StPO
verworfen. Der Angeklagte hat mit Verteidigerschriftsatz vom 12.05.2006 (fristgerecht)
um Wiedereinsetzung in der vorigen Stand gegen die Versäumung der
Berufungshauptverhandlung nachgesucht und Revision eingelegt. Eingangs der
Begründung heißt es:
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"Das Urteil ist rechtsfehlerhaft ergangen. Herr C war krankheitsbedingt und damit
schuldlos verhindert, an dem Termin zur Hauptverhandlung am 09.05.2006
teilzunehmen."
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Mit Verteidigerschriftsatz vom 26.06.2006 ist – "... zu der ... Revision" - Verletzung
materiellen Rechts gerügt worden.
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Das Landgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag durch Beschluss vom 02.06.2006
zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die (fristgerecht) eingelegte sofortige
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Beschwerde des Angeklagten.
II.
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1. Die sofortige Beschwerde ist nicht begründet.
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Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 329 Abs. 3 StPO setzt voraus, dass
zur Entschuldigung geeignete Tatsachen geltend und glaubhaft gemacht werden, die
dem Berufungsgericht nicht bekannt waren (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl., § 329
Rdn. 42 m. w. N.). Der Wiedereinsetzungsantrag kann nicht auf Tatsachen gestützt
werden, die das Berufungsgericht – wenn auch möglicherweise rechtsfehlerhaft – schon
im Verwerfungsurteil behandelt und in diesem als nicht genügend gewürdigt hat (OLG
Düsseldorf, VRS 97, 139; KG VRS 101, 377, 378; ständige Rechtsprechung auch des
Senats, vgl. SenE v. 25.06.1999 - Ss 255/99 - 1 Ws 15/99 = VRS 97, 362; Meyer-Goßner
a.a.O. § 329 Rn. 42 mit weiteren Nachweisen).
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Hier sind die mit dem Wiedereinsetzungsantrag vorgetragenen Gründe bereits in dem
Verwerfungsurteil gewürdigt worden.
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Die sofortige Beschwerde ist daher mit der Kostenfolge aus § 473 Abs. 1 StPO zu
verwerfen.
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2.
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Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der
Sache an das Landgericht.
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Der Revision liegt neben der Sachrüge, die lediglich zur Prüfung der
Verfahrensvoraussetzungen führen würde, weil das Verwerfungsurteil keinen materiell-
rechtlichen Inhalt hat, auch die Verfahrensrüge zugrunde, das Landgericht habe den
Begriff der genügenden Entschuldigung verkannt. Diese Rüge lässt sich der oben
wiedergegebenen Textstelle des Schriftsatzes vom 12.05.2006 entnehmen. Ob mit
diesem Vorbringen lediglich das Wiedereinsetzungsgesuch begründet werden sollte,
kann dahinstehen. Das Vorbringen zur Begründung eines mit der Revisionseinlegung
gleichzeitig gestellten Wiedereinsetzungsantrags kann als Revisionsbegründung im
Sinne von § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO mit herangezogen werden (Senat StV 1989, 53;
SenE v. 07.06.2006 – 81 Ss 71/06; OLG Hamm VRS 104, 145 = NZV 2003, 248 = NStZ-
RR 2003, 86).
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Die Verfahrensrüge ist begründet.
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Die Strafkammer hat den Begriff der genügenden Entschuldigung i. S. d. § 329 Abs. 1
Satz 1 StPO verkannt.
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In den Gründen des Verwerfungsurteils heißt es u.a.:
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"… Im vorliegenden Verfahren machte der Angeklagte bereits in erster Instanz kurz vor
dem Verhandlungstermin vom 14.09.2005 seine Verhandlungsunfähigkeit unter Vorlage
eines ausführlichen Attests seines Hausarztes Dr. D geltend, worauf das Amtsgericht
das nach näherer Maßgabe des Sitzungsprotokolls verlesene Gutachten des
Sachverständigen T vom 01.10.2005 einholte, der bereits im Betreuungsverfahren tätig
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war. Er kam zu dem Schluss, dass der Angeklagte … unter den Folgen einer
Gehirnerblutung mit Aneurysma-Clipping leide, die sich unter anderem in einer
deutlichen Einschränkung seiner kognitiven Leistungsfähigkeit mit temporalen
Kopfschmerzattacken sowie Konzentrationsstörungen zeigten. …
Am 09.05.2006 um 12.14 Uhr erreichte das Gericht per Fax erneut ein Vertagungsantrag
des Verteidigers und Betreuers des Angeklagten. Diesem war das … Attest des
Internisten Dr. D vom selben Tage beigefügt, da der Angeklagte – wovon die Kammer
zu seinen Gunsten ausgeht – den Sachverständigen T nicht zu erreichen vermochte. Dr.
D bescheinigte ihm, dass er aus medizinischer Sicht "bis auf weiteres und insbesondere
heute" nicht in der Lage sei, an der Gerichtsverhandlung teilzunehmen. …
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Weder diese Bescheinigung noch die ergänzend hierzu in der Hauptverhandlung
durchgeführten Ermittlungen reichen aus, um das Ausbleiben des Angeklagten
ausreichend zu entschuldigen. Die Kammer hat durchgreifende Zweifel daran, dass der
Zustand des Angeklagten sich erneut just am Verhandlungstag in einer Weise
verschlechtert hat, welche es ihm nicht einmal erlaubt hätte, an der auf 45, maximal 60
Minuten (mit Pause) angesetzten Verhandlung verantwortlich teilzunehmen, … Diese
Bedenken gründen sich … .
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… war vorliegend festzustellen, dass sich das von Dr. D ausgestellte Attest … in einem
Einzeiler erschöpft, der pauschal Verhandlungsunfähigkeit " bis auf weiteres"
bescheinigt. Es fehlt bereits an der Angabe der konkreten Diagnose. Wenngleich diese
aus Gründen der gerichtsbekannten Umstände vorliegend entbehrlich gewesen sein
mag, so ist weiter zu beanstanden, dass … .
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Der bereits aus der Schriftform gewonnene Eindruck einer nicht hinreichend fundierten
Bescheinigung der Verhandlungsunfähigkeit hat sich durch das Telefonat mit Dr. D …
bestätigt und erhärtet. … erwiderte Dr. D vielmehr, darauf, insbesondere auf die Dauer
der Verhandlung komme es seiner Ansicht nach gar nicht an, da beim Angeklagten das
Problem der immer wieder auftretenden Kopfschmerzattacken und der
Konzentrationseinschränkungen eben fortwährend bestehe. Hiermit steht seine
Einschätzung – erkennbar ohne fundierte Kenntnisse der Anforderungen an die
Verhandlungsfähigkeit – in deutlichem Widerspruch …
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Die demgegenüber unzulängliche Bescheinigung und Bekundung durch den Hausarzt
Dr. D ist dem Angeklagten auch persönlich anzulasten. … Es mag sein, dass der
Angeklagte sich, nachdem er den Sachverständigen T nicht erreicht hatte, in einer
ratlosen Situation befand. Anstatt … Dr. D aufzusuchen, hätte er jedoch diverse
Möglichkeiten gehabt, anderweitig zu verfahren. So hätte er einen Amtsarzt aufsuchen
können, der sich mittels Rücksprache mit der Vorsitzenden ins Bild hätte setzen lassen
können. … Schließlich hätte er auch selbst beim Gericht anrufen und die Vorsitzende
befragen können."
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Diese Ausführungen lassen erkennen, dass die Strafkammer die Beweislast verkannt
hat, soweit sie eine genügende Entschuldigung des Angeklagten im Hinblick auf
"durchgreifende Zweifel" und "Bedenken" an der Richtigkeit der "nicht hinreichend
fundierten Bescheinigung der Verhandlungsunfähigkeit" durch Dr. D. verneint und dem
Angeklagten "anlastet", Dr. D. aufgesucht zu haben, anstatt z. B. einen Amtsarzt
aufzusuchen oder die Vorsitzende zu "befragen".
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Im Rahmen des § 329 Abs. 1 StPO ist nicht entscheidend, ob ein Angeklagter sich
entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt ist (vgl. BGHSt 17, 391 = NJW
1962, 2020; OLG Düsseldorf StV 1987, 9; Senat VRS 75, 113, 116; SenE v. 04.06.1999
- Ss 217/99 B = NStZ-RR 1999, 337 = VRS 97, 370; SenE v. 11.01.2002 - Ss 533/01 B =
DAR 2002, 180; Meyer-Goßner, StPO a.a.O., § 329 Rn. 18 mit weiteren Nachweisen). Er
ist nicht zu einer Glaubhaftmachung oder gar zu einem Nachweis der vorgebrachten
Entschuldigungsgründe verpflichtet (OLG Düsseldorf a.a.O.; KG VRS 108, 110);
vielmehr hat er nur die Entschuldigungsgründe, die das Gericht nicht kennen kann,
mitzuteilen und dem Gericht die Überprüfung zu ermöglichen (OLG Celle StV 1987,
192). Sind dem Gericht Tatsachen bekannt, die das Ausbleiben des Angeklagten als
genügend entschuldigt erscheinen lassen können, so hat es solche
Entschuldigungsgründe auf Grund seiner Aufklärungspflicht von Amts wegen
nachzuprüfen (vgl. Senatsentscheidung a.a.O.; KG a.a.O.) und im Wege des
Freibeweises zu klären, ob das Vorbringen des Angeklagten zutrifft und damit das
Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung auf seinem Verschulden beruht.
Macht ein Angeklagter als Entschuldigungsgrund Verhandlungsunfähigkeit oder
Krankheit geltend, muss es gegebenenfalls den Amtsarzt ersuchen, den Angeklagten in
dessen Wohnung aufzusuchen und zu untersuchen (vgl. OLG Stuttgart VRS 106, 209 =
DAR 2004, 165 mit Nachweisen, das zudem die Auffassung vertritt, eine Aufforderung
des Gerichts an den Angeklagten, ein amtsärztliches Attest beizubringen, enthalte ein
unerfüllbares Ansinnen, weil der Amtsarzt nur auf Ersuchen eines Amtsträgers tätig
werde). Bleibt zweifelhaft, ob der Angeklagte genügend entschuldigt ist, sind die
Voraussetzungen einer Berufungsverwerfung nicht gegeben (KG a.a.O.; SenE v.
11.04.2006 - 83 Ss 26/06). Denn nur der Nachweis, dass die Entschuldigung unwahr ist,
lässt sie als ungenügend erscheinen (vgl. Meyer-Goßner a.a.O., § 329 Rn. 22 mit
Nachweisen).
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