Urteil des OLG Köln vom 05.08.2010

OLG Köln (stpo, vollstreckung der strafe, einstellung des verfahrens, beschwerde, hinreichender tatverdacht, hauptverhandlung, verteidiger, akten, anfechtung, vorschrift)

Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 471/10
Datum:
05.08.2010
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 471/10
Tenor:
Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Beschwerdeführers
verworfen
G r ü n d e:
1
Zu dem Rechtsmittel (das sich mangels Beschwer im übrigen bei sinnentsprechender
Auslegung nur dagegen richtet, dass davon abgesehen worden ist, der Staatskasse
auch die notwendigen Auslagen des früheren Angeklagten aufzuerlegen) hat sich die
Generalstaatsanwaltschaft mit Vorlageverfügung vom 28.07.2010 wie folgt geäußert:
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"I.
3
Mit Urteil vom 01.12.2009 – 48 Ds 1103/08 – hat das Amtsgericht Aachen gegen den
Angeklagten wegen Diebstahls geringwertiger Sachen in 2 Fällen eine
Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Monaten festgesetzt. Die Vollstreckung der Strafe hat das
Gericht zur Bewährung ausgesetzt (Bl. 52 ff. d.A.).
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Nach form- und fristgerecht eingelegtem, als Berufung anzusehendem Rechtsmittel
(Bl. 51 d.A.) hat der Verteidiger des Angeklagten unter Vorlage eines vorläufigen
Entlassungsberichts der St. N. Therapieklinik in O. vom 17.02.2010 mitgeteilt, dass
der bei Einlieferung sich im vegetativen Status befindliche (Bl. 73 d.A.), intravenös
drogen- sowie benzodiazepin- und alkoholabhängige Angeklagte als Folge eines
epoxischen Hirnschadens nach kardiopulmonaler Reanimation im Rahmen einer
Heroinintoxikation auf äußere Reize (akustische Reize, stärkere taktile Reize) nur
schwach reagiere. Lediglich teilweise habe eine Augenfolgebewegung auf
Darbietung eines Spiegels als Reiz beobachtet werden können (Bl. 70 ff., 72 d.A.).
Auf Nachfrage des Gerichts hat der Chefarzt der Neurologie der Klinik am 26.04.2010
mitgeteilt, dass es als extrem unwahrscheinlich gelten müsse, dass der Angeklagte
jemals wieder verhandlungsfähig wird (Bl. 78 d.A.).
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Mit Beschluss vom 10.05.2010 – 72 Ns 25/10 – hat die 2. kleine Strafkammer des
Landgerichts Köln das Verfahren außerhalb der – wegen des Gesundheitszustands
des Angeklagten nie stattgefundenen - Hauptverhandlung gemäß § 206 a Abs. 1
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StPO auf Kosten der Staatskasse eingestellt. Gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO
hat das Gericht davon abgesehen, der Staatskasse die notwendigen Auslagen des
Angeklagten aufzuerlegen (Bl. 81 f. d.A.).
Mit Schriftsatz vom 21.06.2010 hat der Verteidiger des Angeklagten mitgeteilt, dass
dem Beschluss des Landgerichts Aachen vom 10.05.2010 betreffende
Empfangsbekenntnis, datiert mit dem Eingangsdatum vom 17.05.2010, sei "per Fach"
zusammen mit einem Schriftsatz vom 21.05.2010, in dem er sofortige Beschwerde
gegen den vorbezeichneten Beschluss eingelegt habe, an das Landgericht Aachen
übersandt worden. Rein vorsorglich für den Fall, dass der Beschwerdeschriftsatz nicht
zu den Akten gelangt sein sollte, hat der Verteidiger Wiedereinsetzung in den
vorherigen Stand beantragt (Bl. 86 d.A.).
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Nach Mitteilung des Gerichts, dass der Schriftsatz vom 21.05.2010 nicht bei den
Akten befindlich sei, hat der Verteidiger diesen nachgereicht. Das
Empfangsbekenntnis befindet sich bis heute nicht bei den Akten (Bl. Bl. 87-89, 90 R
d.A.).
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II.
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(…)
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a) Soweit der Angeklagte sich mit der sofortigen Beschwerde gegen die
Auslagenentscheidung wendet, ist diese statthaft. Dies ergibt sich zwar nicht
unmittelbar aus der Vorschrift des § 464 Abs. 3 StPO, da diese nur die Art des
Rechtsmittels regelt, nicht dagegen die Statthaftigkeit der sofortigen Beschwerde
begründet. So ist insbesondere bei in der Hauptsache einer Anfechtung entzogenen
gerichtlichen Entscheidungen (z.B. §§ 153 Abs. 2 Satz 4, 153a Abs. 2 Satz 4 StPO)
eine Anfechtung der Auslagenentscheidung nicht möglich. Vorliegend ergibt sich die
Statthaftigkeit der sofortigen Beschwerde jedoch daraus, dass § 206a Abs. 2 StPO
grundsätzlich den Beschwerdeweg in der Hauptsachenentscheidung eröffnet. Dass
der Angeklagte durch die Einstellung des Verfahrens nach § 206a Abs. 1 StPO nicht
beschwert und seine diesbezügliche Beschwerde unzulässig ist, ist jedoch für die
Statthaftigkeit des Rechtsmittels gegen die Auslagenentscheidung unerheblich.
Insoweit folgt aus der allgemeinen Statthaftigkeit der sofortigen Beschwerde die
Zulässigkeit der Anfechtung der Nebenentscheidung über die Auslagen (OLG
Zweibrücken, NStZ 1987, 425; OLG Stuttgart, NStZ-RR 2003, 60, 61; Meyer-Goßner,
a.a.O., § 464 Rdnr. 19). In Ermangelung eines in den Akten befindlichen Nachweises
über die erfolgte Zustellung des angegriffenen Beschlusses ist entsprechend den
Angaben des Verteidigers davon auszugehen, dass diesem der Beschluss am
17.05.2010 zugestellt und er mit Schriftsatz vom 21.05.2010 innerhalb der
Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO form- und fristgerecht sofortige Beschwerde
eingelegt hat.
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b) In der Sache bleibt das Rechtsmittel jedoch ohne Erfolg.
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Zwar müssen im Regelfall des § 467 Abs. 1 StPO die Kosten des Verfahrens und die
notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last fallen, sofern das
Verfahren gegen ihn eingestellt worden ist. Gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO
kann jedoch ausnahmsweise davon abgesehen werden, die notwendigen Auslagen
des Angeklagten der Landeskasse aufzuerlegen, wenn dieser wegen einer
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strafbaren Handlung nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis
besteht. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift sind bereits erfüllt,
wenn bei dem bei Feststellung des Verfahrenshindernisses gegebenen
Verfahrensstand ein zumindest hinreichender Tatverdacht besteht und keine
Umstände erkennbar sind, die bei Durchführung der Hauptverhandlung die
Verdichtung des Tatverdachts zur prozessordnungsgemäßen Feststellung der
Tatschuld in Frage stellen (vgl. BGH, NStZ 2000, 330; OLG Jena, NStZ-RR 2007,
254, 255; OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2003, 286, 287; OLG Frankfurt, NStZ-RR 2002,
246; OLG Köln, NJW 1991, 506, 507; Meyer-Goßner, a.a.O., § 467 Rdnr. 16). Der
Gegenmeinung, wonach eine Versagung der Auslagenerstattung nur in Betracht
kommt, wenn bei Hinwegdenken des Verfahrenshindernisses mit Sicherheit eine
Verurteilung erfolgt wäre (vgl. OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1997, 288; OLG Hamm
NStZ-RR 1997, 127; KG, NJW 1994, 600; OLG München, NStZ 1989, 134, 135; OLG
Zweibrücken, NStZ 1989, 134), vermag nicht zu überzeugen. Eine solche Auslegung
würde den Anwendungsbereich der Vorschrift wegen der mit Blick auf die
Unschuldsvermutung erforderlichen Schuldspruchreife auf Fälle beschränkt, in
denen ein Verfahrenshindernis erst in der Hauptverhandlung nach dem letzten Wort
des Angekl. zu Tage tritt (BGH, NStZ 2000, 330, 331; OLG Hamm, VRS 100, 52, 54:
OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2003, 286, 287). Bei Einstellungen vor vollständiger
Durchführung der Hauptverhandlung wäre demnach ein Absehen von der
Überbürdung der notwendigen Auslagen auf die Staatskasse von vornherein
ausgeschlossen. Für die praktische Anwendung der Norm bliebe, ohne dass dies
dem Wortlaut des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO zu entnehmen wäre, nur ein
äußerst begrenzter Raum. Für ein Anknüpfen bei der Anwendung des § 467 Abs. 3
Satz 2 Nr. 2 StPO an die bei Feststellung des Verfahrenshindernisses gegebene
Verdachtslage spricht zudem der Umstand, dass auch im Rahmen der bei
Ermessenseinstellungen nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO zu treffenden
Auslagenentscheidungen maßgeblich auf die Stärke des Tatverdachts abgestellt
werden darf (vgl. BGH, NStZ 2000, 330, 331; Meyer-Goßner, a.a.O., § 467 Rdnr. 19).
Dieser Auslegung stehen verfassungsrechtliche Bedenken nicht entgegen. Die
Unschuldsvermutung (Art 6 Abs. 2 MRK) schließt nicht aus, in einer das
Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung einen
verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten und dies bei der
Entscheidung über die kostenrechtlichen Folgen zu berücksichtigen. Rechtsfolgen,
die keinen Strafcharakter haben, können deshalb auch in einer das Verfahren
abschließenden Entscheidung an einen verbleibenden Tatverdacht geknüpft werden.
Allerdings muss in diesen Fällen, in denen die Schuld nicht prozessordnungsgemäß
festgestellt worden ist, aus der Begründung deutlich hervorgehen, dass es sich nicht
um eine gerichtliche Schuldfeststellung oder -zuweisung handelt, sondern nur um die
Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage (BGH, NStZ 2000, 330, 331; OLG
Stuttgart, NStZ-RR 2000, 60, 61; OLG Köln, NJW 1991, 506, 507; BVerfG, NJW 1992,
1612, 1613; BVerfG, NStZ-RR 1996, 45).
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Vorliegend sind die Voraussetzungen für ein Absehen von der Auslagenerstattung
gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO gegeben. Der Angeklagte hat einen
Tatvorwurf bereits in seiner polizeilichen Vernehmung (Bl. 2, 5 d.A. 606 Js 1990/08
StA Aachen), beide Tatvorwürfe sodann in der Hauptverhandlung vor dem
Amtsgericht Aachen am 01.12.2009 in Anwesenheit seines Verteidigers
eingestanden (Bl. 46 f. d.A.). Auch habe Zeugen den Angeklagten bei der
Tatbegehung beobachtet (Bl. 2 d.A. 606 Js 1990/08 StA Aachen; Bl. 1 d.A. 606 Js
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2016/08 StA Aachen). Konkrete Umstände, die bei Durchführung der
Hauptverhandlung die Verdichtung des Tatverdachts zur prozessordnungsgemäßen
Feststellung der Schuld in Frage gestellt hätten, sind nicht ersichtlich. Dass das
Landgericht Aachen angesichts dieser Eindeutigkeit des Tatverdachts von dem ihm
eingeräumten Ermessen in der Weise Gebrauch gemacht hat, dass es von einer
Auslagenerstattung abgesehen hat, ist nicht zu beanstanden. Dabei kann
dahinstehen, ob es weiterer Gründe, die es unbillig erscheinen lassen, die
Staatskasse mit den Auslagen des Angeklagten zu belasten, insbesondere eines
vorwerfbaren prozessualen Verhaltens des Angeklagten, bedarf (verneinend wohl
BGH, NStZ 2000, 330, 331; a.A.: OLG Köln, NJW 1991, 506, 507 f.; LG Koblenz,
NStZ 1983, 235; Gieg, in Karlsruher Kommentar, a.a.O., § 467 Rdnr. 10; Meyer-
Goßner, a.a.O., § 467 Rdnr. 18). Ausweislich des Entlassungsberichts ist der
Gesundheitszustand des Angeklagten und damit auch seine
Verhandlungsunfähigkeit auf seinen Heroin- und weiteren Rauschmittelabusus
zurückzuführen. Da er somit das Verfahrenshindernis selbst herbeigeführt hat, wäre
es angesichts des erheblichen Tatverdachts in jedem Fall unbillig, dass die
notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last fallen (in diesem
Sinne auch OLG Köln, a.a.O.).
Dass es sich bei der getroffenen Entscheidung nicht um eine gerichtliche
Schuldfeststellung handelt, ergibt sich daraus, dass das Gericht das Verfahren in
demselben Beschluss gemäß § 206a Abs. 1 StPO eingestellt hat."
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Dem stimmt der Senat zu, der im gleichen Sinne schon früher entschieden hat. (Senat
6.12.2002 - 2 Ws 604/02 - = Stra Fo 2003, 105; 26.02.2009 – 2 Ws 66/09 -).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 S. 1 StPO.
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