Urteil des OLG Köln vom 07.09.2004

OLG Köln: schöffengericht, psychiatrische behandlung, wiederholungsgefahr, körperverletzung, haftbefehl, unterbringung, nötigung, bedrohung, untersuchungshaft, wohnung

Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 410/04
Datum:
07.09.2004
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 410/04
Schlagworte:
Wiederholungsgefahr; Einbeziehung rechtskräftiger Verurteilung
Normen:
StPO § 112 a
Tenor:
Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten verworfen.
G r ü n d e :
1
I.
2
Der Angeklagte befand sich in dem Strafverfahren Staatsanwaltschaft Köln 72 Js 646/03
aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Köln vom 25.11.2003 - 505 Gs 5555/03 - vom
25.11. bis zum 12.12.2003 in Untersuchungshaft. Nach der Aufhebung dieses
Haftbefehls am 12.12.2003 (in den dem Senat vorgelegten Akten findet sich allerdings
lediglich ein Haftverschonungsbeschluss vom 12.12.2003) befindet sich der Angeklagte
zur Verbüßung einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Monaten wegen gefährlicher
Körperverletzung in Tateinheit mit Verstoß gegen das Waffengesetz, wegen Bedrohung
sowie wegen Nötigung in 3 Fällen aus dem Urteil des Amtsgerichts vom 21.05.2003
Köln ( Az 532 Ds 428/03) seither - nach Widerruf der ursprünglich bewilligten
Strafaussetzung zur Bewährung durch Beschluss des Amtsgerichts Köln vom
03.12.2003 - in Strafhaft. Strafende ist auf den 11.10.2004 notiert, einer vorzeitigen
Entlassung hat der Angeklagte widersprochen.
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Am 16.01.2004 erhob die Staatsanwaltschaft Köln in dem Verfahren 72 Js 646/03
Anklage zum Amtsgericht - Schöffengericht - Köln, in der dem Angeklagten gefährliche
Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Beleidigung und Sachbeschädigung vorgeworfen
wird. Er soll - wie er im wesentlichen einräumt - am 21.11.2003 zu nächtlicher Stunde in
Köln in die Wohnung seiner ehemaligen Lebensgefährtin - der Zeugin I. A. -
eingedrungen sein, indem er das Schlafzimmerfenster mitsamt dem Rahmen eintrat. Der
Angeklagte zog die Zeugin, die sich mit dem Zeugen G. im Bett befand, unter Schlägen
und Tritten aus dem Bett, wobei er ihr mehrfach mit dem beschuhten Fuß ins Gesicht trat
und sie gleichzeitig als Hure und Schlampe beschimpfte. Als der Zeuge G. der
Geschädigten zu Hilfe eilen wollte, wurde er von dem Angeklagten niedergerungen und
ebenfalls mit dem beschuhten Fuß mehrmals ins Gesicht getreten.
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Wegen dieser Vorwürfe erließ das Amtsgericht Köln am 26.01.2004 einen (neuen), auf
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Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehl (Az 613 Ls 7/04), der dem Angeklagten am
30.01.2004 verkündet wurde, und aufgrund dessen Überhaft notiert ist. Zur Begründung
der Wiederholungsgefahr wird in dem Haftbefehl auf den Bewährungswiderruf in dem
Verfahren 532 Ds 428/03 sowie auf eine weitere bei dem Schöffengericht anhängige
Anklage vom 04.11.2003 - 72 Js 511/03 = 613 Ls 617/03 - Bezug genommen, mit der
dem Angeklagten Zuwiderhandlungen gegen eine Anordnung nach dem
Gewaltschutzgesetz, Körperverletzung, Beleidigung und Sachbeschädigung in
insgesamt 83 Fällen zum Nachteil der Zeugin A. zur Last gelegt werden. In der
Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht am 28.04.2004 wurden die beiden
Verfahren 72 Js 646/03 und 72 Js 511/03 sowie zwei weitere Anklagen vom 14.10.2003
(Az 86 Js 900/03, Vorwurf : Nötigung und Bedrohung der Zeugin Althoff) und vom
22.10.2003 (Az 86 Js 986/03, Vorwurf : Diebstahl eines Fahrrades) miteinander
verbunden, wobei das zuletzt erwähnte Verfahren nach § 154 StPO eingestellt wurde.
In der Hauptverhandlung vom 28.04.2004 beschloss das Schöffengericht auf Antrag der
Staatsanwaltschaft gem. § 270 StPO die Verweisung des Verfahrens an eine große
Strafkammer des Landgerichts, da nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung -
insbesondere den Ausführungen der Sachverständigen Dr. J., die am 17.03.2004 ein
schriftliches Gutachten erstattet hatte - die Unterbringung des Angeklagten nach § 63
StGB in Betracht komme.
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Der Vorsitzende der 3. gr. Strafkammer, dem die Akten soweit ersichtlich seit dem
10.05.2004 vorlagen, bestimmte - nach dem die Verteidigung mit Schriftsatz vom
19.07.2004 eine Überprüfung des Haftbefehls angeregt hatte - am 23.07.2004 Termin
zur Hauptverhandlung auf den 13.08.2004. Die Hauptverhandlung wurde ausgesetzt,
weil die Strafkammer angesichts der Einlassung des Angeklagten insbesondere
hinsichtlich der Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 63 StGB weiteren
Klärungsbedarf sieht.
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Zugleich beschloss die Strafkammer die Aufrechterhaltung des Haftbefehls vom
26.01.2004. Inzwischen ist neuer Termin zur Hauptverhandlung auf den 28.09.2004 und
Folgetage in Aussicht genommen worden.
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Gegen den Haftfortdauerbeschluss vom 13.08.2004 richtet sich die mit Schriftsätzen
vom 20.08., 31.08. und 06.09.2004 näher begründete Beschwerde des Angeklagten
vom 13.08.2004, der die Strafkammer mit Beschluss vom 17.08.2004 nicht abgeholfen
hat.
9
II.
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Das Rechtsmittel ist gem. § 304 Abs. 1 StPO zulässig, denn die Haftbeschwerde findet
auch gegen solche Haftbefehle statt, die wegen Überhaft nicht vollzogen werden (vgl.
Meyer-Goßner, StPO, 47.A., § 117 Rn 8).
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Die Haftbeschwerde ist jedoch nicht begründet.
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Die Voraussetzungen für die weitere Anordnung der Untersuchungshaft sind gegeben.
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Der dringende Tatverdacht wegen der Strafvorwürfe, die Gegenstand des Haftbefehls
vom 26.01.2004 sind, ergibt sich aus den (jedenfalls teil-) geständigen Angaben des
Angeklagten vor dem Haftrichter am 27.11.2003 sowie vor dem Schöffengericht in der
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Hauptverhandlung am 28.04.2004, im übrigen aus den Zeugenaussagen der
Geschädigten A. und G. und den sonstigen in der Anklage vom 16.01.2004
niedergelegten Ermittlungsergebnissen.
Das Schöffengericht und die Strafkammer haben des weiteren zu Recht den Haftgrund
der Wiederholungsgefahr, § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO, angenommen.
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Die dem Angeklagten u.a. vorgeworfene gefährliche Körperverletzung nach § 224 Abs.
1 Nr. 2 StGB stellt eine Katalogtat gem. § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO dar. Der Senat hat
keine Bedenken, die rohe, mit erheblicher Gewaltanwendung und nicht unerheblichen
Verletzungsfolgen für die Zeugin A. verbundene Tat als eine solche zu qualifizieren, die
die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt. Es handelt sich um eine im
Unrechtsgehalt und im Schweregrad überdurchschnittliche Tat, die - insbesondere
wegen des nächtlichen gewaltsamen Eindringens in die Wohnung des Opfers -
geeignet ist, bei der Bevölkerung das Gefühl der Geborgenheit im Recht zu
beeinträchtigen.
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Auch das Merkmal der "wiederholten und fortgesetzten" Begehung der Katalogtat als
Voraussetzung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr ist erfüllt. Wie der Senat in
einer früheren Entscheidung ausführlich dargelegt hat, genügt, dass das Verfahren, in
dem der Haftgrund zu prüfen ist, nur eine Tat zum Gegenstand hat und der Beschuldigte
wegen der anderen schon vorher verfolgt (und verurteilt) worden ist, dass mit anderen
Worten bei der Prüfung der Wiederholungsgefahr auch bereits rechtskräftig abgeurteilte
Taten zu berücksichtigen sind. Der Senat folgt insoweit der in Rechtsprechung und
Schrifttum vorherrschenden Auffassung (vgl. Senat 12.01.99 - HEs 278/98 - mit
ausführlichen Nachweisen, auch zur Gegenansicht ).
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Das Verteidigungsvorbringen gibt dem Senat keinen Anlaß, seine Rechtsprechung zu
überprüfen.
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Es ist des weiteren die Besorgnis begründet, dass der Angeklagte weitere einschlägige
Straftaten noch vor Verurteilung wegen der Anlasstat begeht. Er hat in einem Zeitraum
von rund 1 1/2 Jahren die Zeugin A. in massiver Weise durch eine Vielzahl von
Straftaten geschädigt; auch die derzeit verbüßte Freiheitsstrafe beruht auf Straftaten -
mehrfache Nötigung und Bedrohung - zum Nachteil der Zeugin. Zur Anlaßtat hat er vor
dem Haftrichter erklärt, er habe sie so wie im Haftbefehl vorgeworfen begangen, habe
jedoch anzumerken, dass er unter einem Borderline-Syndrom oder einer anderen
Persönlichkeitsstörung leide. Diese Diagnose trifft nach dem
Sachverständigengutachten von Dr. J. vom 17.03.2004 zu. Danach ist in der Tat davon
auszugehen, dass bei dem Angeklagten eine schwere Persönlichkeitsstörung im Sinne
eines Borderline-Syndroms gegeben ist, von der die Gefahr ausgeht, dass der
Angeklagte seine Aggressionen gegenüber der Zeugin A. auch weiterhin nicht
genügend kontrollieren kann und es erneut zu erheblichen strafbaren Übergriffen im
Sinne der Anlaßtat kommt. Dafür spricht auch, dass der Angeklagte in der
Hauptverhandlung vor der Strafkammer am 13.08.2004 der Zeugin A. die
Hauptverantwortung für die Beendigung der Beziehung gegeben und zum Ausdruck
gebracht hat, sich von ihr persönlich verletzt zu fühlen.
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Eine psychiatrische Behandlung des Angeklagten, die zu einer Verringerung der Gefahr
erneuter Straftaten führen könnte, hat bisher nicht stattgefunden.
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Die nach § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO vorausgesetzte Straferwartung von mehr als einem
Jahr Freiheitsstrafe bejaht der Senat ebenfalls. Maßgeblich hierfür ist vor allem die
einschlägige Vorstrafe in dem Verfahren AG Köln 532 Ds 428/03; für die dort
abgeurteilte gefährliche Körperverletzung war auf eine Einsatzstrafe von 7 Monaten
erkannt worden. Die jetzige Tat ist nur ein halbes Jahr nach der Verurteilung während
laufender Bewährung begangen worden, so dass der Angeklagte nunmehr mit einer
deutlich höheren, nicht mehr am unteren Rand des Strafrahmens - der gem. § 224 Abs.
1 StGB von 6 Monaten bis zu 10 Jahren reicht - liegenden Strafe rechnen muß. Sofern
dem Angeklagten verminderte Schuldfähigkeit gem. § 21 StGB zugebilligt werden sollte,
was nach dem Gutachten der Sachverständigen Dr. J. nicht auszuschließen ist, führt
dies gegenwärtig zu keiner geringeren Straferwartung, weil die abschließende
Beurteilung - in die auch schulderhöhende, einer Strafmilderung entgegenstehende
Tatumstände einfließen können - der Hauptverhandlung vorbehalten bleiben muß.
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Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist auch nicht unverhältnismäßig. Der
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 120 StPO), der auch bei einem nicht vollzogenen
Haftbefehl zu beachten ist (vgl. Senat 13.02.92 StV 92,384; 29.01.04 - 2 Ws 40/04), ist
vorliegend noch gewahrt.
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Die mehrfache Verschiebung der Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht war durch
die verzögerte Erstattung des Sachverständigengutachtens bedingt, die durch die
Schwierigkeit des Sachverhalts gerechtfertigt war, wie sich aus dem Schreiben der
Sachverständigen vom 07.02.2004 ergibt, wonach u.a. 3 Termine zur Exploration des
Angeklagten erforderlich waren.
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Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das Schöffengericht die Verweisung des
Verfahrens an das Landgericht erst aufgrund der Hauptverhandlung am 28.04.2004
beschlossen hat. Das erwähnte Schreiben sowie ein weiteres Schreiben der
Sachverständigen vom 25.02.2004 waren als Grundlage für eine Verweisung völlig
unzureichend. Es war - auch nachdem das vollständige Gutachten seit Mitte März vorlag
- in jeder Hinsicht sachgerecht, über die Frage einer evtl. Verweisung erst aufgrund der
Hauptverhandlung, in der sich das Schöffengericht einen persönlichen Eindruck von
dem Angeklagten verschaffen und sich das Gutachten erläutern lassen konnte, zu
entscheiden.
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Vor dem Landgericht ist das Verfahren bisher ebenfalls noch ohne unvertretbare
zeitliche Verzögerung betrieben worden. Die mit mehreren Haftsachen stark belastete
Strafkammer hat die Sache - in Ansprache mit der Verteidigung - am 13.08.2004
während der Unterbrechung eines anderen umfangreichen Verfahrens trotz ihres
Umfangs verhandelt mit dem Ziel der Abklärung der Möglichkeit einer
Verfahrensabkürzung, wobei nach der vom Senat eingeholten Stellungnahme des
Vorsitzenden für die Verfahrensbeteiligten Klarheit bestand, dass das Verfahren
aufgrund der Terminslage der Strafkammer nach dem 13.08.2004 nicht würde
fortgesetzt werden können, falls die Sache sich nicht zum Abschluß bringen ließ.
Nachdem sich ein derartiger Verfahrensablauf nicht hat realisieren lassen, hat die
Strafkammer - wiederum in Absprache mit der Verteidigung - als Termin für die neue
Hauptverhandlung die Zeit ab dem 28.09.2004 ins Auge gefasst und die hierfür
nunmehr nötig gewordenen Vorbereitungen getroffen. Das ist eine für den Angeklagten
im Hinblick auf die Bedeutung der Sache und die im Raume stehende
Rechtsfolgenerwartung - neben der Bestrafung die Unterbringung nach § 63 StGB -
noch hinnehmbare Verzögerung, die um so mehr zumutbar ist, als ihm die Teilnahme an
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dem Vorstellungsgespräch vom 27.08.2004 in der Westfälischen Klinik Warstein
ermöglicht worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
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