Urteil des OLG Köln vom 21.08.2003

OLG Köln: höhere gewalt, neues tatsächliches vorbringen, rohrleitungsanlage, kanalisation, karte, abwasseranlage, gefährdungshaftung, stadt, ableitung, vorfrage

Oberlandesgericht Köln, 7 U 39/03
Datum:
21.08.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
7. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
7 U 39/03
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 5 O 98/01
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers gegen das Urteil der 5. Zivilkammer des
Landgerichts Köln vom 30.01.2003 - 5 O 98/01 - wird unter Abänderung
dieses Urteils der Klageanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt
erklärt.
Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
Gründe
1
I.
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Der Kläger begehrt von der beklagten Stadt Schadensersatz wegen einer Überflutung
seiner Häuser in C anlässlich eines Starkregenereignisses am 04.07.2000, welches
durch die Kanalisation nicht bewältigt wurde; Ursache war nach Behauptung des
Klägers der Überlauf eines nahe gelegenen offenen Regenrückhaltebeckens. Wegen
aller weiteren Einzelheiten wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen
Urteil Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Mit seiner Berufung greift der Kläger
die rechtliche Beurteilung des Landgerichts an; neues tatsächliches Vorbringen wird
von ihm mit der Berufung nicht vorgetragen.
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II.
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Die zulässige Berufung ist insoweit vorläufig erfolgreich, als der geltend gemachte
Schadensersatzanspruch dem Kläger dem Grunde nach zusteht (§ 304 ZPO). Wegen
der streitigen Schadenshöhe bedarf die Sache weiterer Aufklärung, die nach Rechtskraft
des Urteils erfolgen soll.
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Mit seiner Klage und der Berufung macht der Kläger geltend, zu der Überschwemmung
seiner Häuser sei es durch den Überlauf des seinen Häusern hangaufwärts
gegenüberliegenden offenen Regenrückhaltebeckens gekommen. Das angefochtene
Urteil verhält sich zu dieser zunächst entscheidenden und von der Beklagten
bestrittenen Vorfrage des übergelaufenen Rückhaltebeckens nicht, geht aber
unausgesprochen davon aus, dass es zu dem von dem Kläger behaupteten Überlauf
und der darauf beruhenden Überflutung gekommen ist, denn anders wären die
Urteilsausführungen nicht verständlich. Der Senat hat keine Zweifel am Beckenüberlauf
als Schadensursache, denn dies haben die erstinstanzlich vernommenen Zeugen U
und B S (Bl. 107, 109 GA) so ohne jede Einschränkung anschaulich bekundet. Der
Senat sieht keinen Anlass dafür, den in sich schlüssigen, übereinstimmenden und
nachvollziehbaren Angaben der Zeugen - auch ohne sie selbst gehört zu haben - nicht
zu folgen, denn angesichts der in die Häuser geströmten Wassermassen erscheint eine
andere Ursache nicht vorstellbar. Insbesondere finden sich keine Anhaltspunkte für die
von der Beklagten nur sehr pauschal behauptete Überflutung durch nicht gefasstes
Oberflächenwasser. Angesichts der insoweit für die Beklagte sprechenden
höchstrichterlichen Rechtsprechung zu ungefasstem Oberflächenwasser, für das die
Beklagte jedenfalls nach dem Haftpflichtgesetz keine Haftung treffen würde, dürfte es
sich insoweit um eine Schutzbehauptung handeln, die durch die eindeutigen
Bekundungen der Zeugen widerlegt ist.
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Geht man von einem Überlauf des Rückhaltebeckens als Schadensursache aus, haftet
die Beklagte dafür gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 HaftPflG im Rahmen der insoweit
gegebenen Gefährdungshaftung, da dieses Becken ein Teil der von der Beklagten
betriebenen Abwasseranlage ist. Dem angefochtenen Urteil, welches eine solche
Haftung verneint, ist zwar zuzugeben, dass diese Haftung nicht auf der Hand liegen
mag, da nach dem Wortlaut der Vorschrift eine Wirkungshaftung nach § 2 Abs. 1 Satz 1
HaftPflG – und nur eine solche kommt hier in Betracht - nur dann gegeben ist, wenn es
sich um eine Rohrleitungsanlage handelt, was bei einem offenen Rückhaltebecken wie
hier zunächst nicht der Fall zu sein scheint. Dieser Ansatz greift jedoch zu kurz und wird
dem Sinn und Zweck sowie dem Schutzzweck der Regelung nicht gerecht.
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Der Bundesgerichtshof hat bereits 1988 (VersR 1988, 1041) entschieden, dass auch
offene Bereiche einer einheitlichen Kanalisationsanlage der Gefährdungshaftung des §
2 Abs. 1 Satz 1 HaftPflG unterfallen und der Rohrleitungscharakter einer Anlage durch
offen liegende Bereiche nicht in Frage gestellt wird, sofern der notwendige
Zusammenhang mit der Funktion der Anlage, das anfallende Oberflächenwasser
aufzunehmen und abzuleiten, gewahrt ist. Entscheidend ist, ob sich das
schadensverursachende Wasser bereits im Rohrleitungssystem der Kanalisation
befindet, um das Tatbestandsmerkmal des Ausgehens von einer Rohrleitungsanlage im
Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 HaftPflG zu erfüllen (BGH a.a.O.).
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Insoweit kann es aus Sicht des Senats nicht darauf ankommen, wie groß sich die offen
liegenden Bereiche darstellen, ob wie im vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall
nur eine Betonwanne von 1,5 m Länge oder wie vorliegend ein relativ großes
Rückhaltebecken in Rede steht. Entsprechend dem Sinn und Zweck der gesetzlichen
Regelung ist vielmehr darauf abzustellen, dass der Schaden gerade dadurch verursacht
worden ist, dass die bei den schweren Regenfällen am 04.07.2000 angefallenen
erheblichen Wassermengen von dem Kanalsystem der Beklagten entsprechend seiner
Zweckbestimmung gezielt aufgenommen und gesammelt weitergeleitet wurden, um sie
dann innerhalb des Rohrleitungssystems zunächst in das vorgeschaltete geschlossene
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Rückhaltebecken weiterzuleiten und sie sodann - aus den auf den Fotos Hülle Bl. 121
GA ersichtlichen Rohren austretend - in das hier streitgegenständliche offene
Rückhaltebecken als Teil des Kanalsystems einzuleiten. Mit dem Wiederaustritt des
Wassers aus diesen Rohren im Bereich des Rückhaltebeckens und der dann folgenden
Überflutung durch Überlauf dieses Beckens hat sich gerade die mit dem konzentrierten
Transport des Wassers in einer Rohrleitung typischerweise verbundene besondere
Betriebsgefahr verwirklicht, die den gesetzgeberischen Grund für die Einführung der
strengeren Haftung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 HaftPflG bildete. Das Wasser stand bis zum
Austritt aus den Rohren im Rückhaltebecken in einer dem Zweck der Anlage
entsprechenden räumlichen und funktionellen Beziehung zum Kanalsystem. Dieser
Zweck der gezielten Wassersammlung und der Funktionszusammenhang zum
Kanalsystem wurde durch die Einleitung in das offene Becken nicht unterbrochen oder
gar beendet, denn von dort sollte nicht etwa eine Verrieselung oder Versickerung im
Gelände erfolgen, sondern vielmehr die Weiterleitung mittels des
Rückhaltebeckenablaufs in das weitere Kanalsystem. Das Wasser hat das Kanalsystem
der Beklagten zu keinem Zeitpunkt verlassen und ist somit im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz
1 HaftPflG als Schadensursache "von" einer Rohrleitungsanlage ausgegangen, mag es
auch hier in einem offen geführten Bereich geschehen sein. Auf die konkrete Ursache,
auf die Ordnungsgemäßheit der Anlage oder ein Verschulden der Beklagten kommt es
dabei wegen des gegebenen Gefährdungstatbestandes nicht an.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass in jüngerer Zeit mit ähnlicher
Begründung das Oberlandesgericht Rostock mit Urteil vom 31.01.2002 (Az.: 1 U 113/00,
Juris Nr. KORE580432003) ohne weiteres angenommen hat, dass ein
Regenrückhaltebecken haftungsrechtlicher Bestandteil einer Rohrleitungsanlage im
Sinne von § 2 Abs. 1 HaftPflG ist. Das Oberlandesgericht Rostock hat ausgeführt, dass
"ein Regenwasserrückhaltebecken Teil des verrohrten
Regenwasserentsorgungssystems der Stadt und damit Teil einer Rohrleitungsanlage im
Sinne von § 2 Abs. 1 HaftPflG ist, für die die gemeindliche Wasser- und
Abwassergesellschaft die Verantwortung trägt, wenn das Regenwasser von dort aus
nicht in einen ebenfalls offenen Graben geleitet wird und dort versickert, sondern von
dort aus eine Rohrleitung (hier: zur endgültigen Ableitung in einen Sund) installiert ist.
Damit ist das Rückhaltebecken auch baulich ein (offener) Teil einer einheitlichen
Entwässerungsanlage, das gerade bei dem Anfall von erheblichen Wassermassen
quasi als Puffer dient.". Der Senat teilt diese Auffassung. Es entspricht gerade dem
Schutzzweck der Norm, auch solche offen liegende Teile des Kanalsystems wie ein
Rückhaltebecken, welches darin eingebunden dazu dient, bei Starkregen den Betrieb
aufrecht zu erhalten und eine Überlastung des Systems zu vermeiden, im Falle des
Versagens dieser Einrichtung in die Haftung mit einzubeziehen.
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Die Haftung der Beklagten ist vorliegend auch nicht gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 3 HaftPflG
wegen höherer Gewalt entfallen. Dieser Gesichtspunkt wird von der Beklagten zwar
wegen eines angeblichen Katastrophenregens geltend gemacht, greift jedoch nicht
durch. Der Bundesgerichtshof hat die Frage, ob Starkregenereignisse überhaupt höhere
Gewalt darstellen können oder ob sich insoweit nicht gerade das Betriebsrisiko einer
Abwasseranlage verwirklicht, bisher offen gelassen (zuletzt BGH DVBl 2001, 1272),
wobei die Tendenz aber dahin zu gehen scheint, bei ganz ungewöhnlichen und
seltenen Katastrophenregenereignissen höhere Gewalt zu bejahen (vgl. BGH a.a.O.).
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Die Frage kann allerdings auch hier offen bleiben, denn ein ganz ungewöhnliches
Katastrophenregenereignis hat die insoweit darlegungs- und beweispflichtige Beklagte
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nicht nachgewiesen. Ausweislich des Gutachtens des Deutschen Wetterdienstes vom
04.12.2001 (Bl. 91 ff GA) kam es hier am Schadenstag am und um den Schadensort
herum zu Niederschlagsmengen, die - je nach dem, auf welche Werte und Zeiträume
man abstellt - eine statistische Wiederkehrhäufigkeit von 1,5 Jahren bis zu 7 Jahren
aufweisen, wobei für den wahrscheinlichsten Wert von ca. 20 mm Niederschlag in 30
Minuten von einer statistischen Häufigkeit von 3 Jahren auszugehen ist. Regenmengen
von solcher Wiederkehrhäufigkeit stellen aber jedenfalls noch kein ganz
ungewöhnliches Katastrophenregenereignis im Sinne höherer Gewalt dar.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Gutachten des Deutschen Wetterdienstes
vom 14.08.2001 (Bl. 50 ff GA), denn für die dort genannte Wiederkehrhäufigkeit von 14
Jahren gelten die vorstehenden Ausführungen entsprechend. Soweit in diesem
Gutachten für einen Spitzenwert von 70 mm Niederschlag in 6 Stunden eine
Wiederkehrhäufigkeit von einmal in 100 Jahren genannt wird, könnte ein solches
Regenereignis ggf. zwar als höhere Gewalt anzusehen sein. Es steht aber nicht fest,
dass es hier tatsächlich zu solchen Niederschlagsmengen gekommen ist. Nach den
Ausführungen in diesem Gutachten vom 14.08.2001, welches wiederum auf dem
Gutachten des Deutschen Wetterdienstes vom 12.09.2000 (Bl. 2 Anlageband) beruht,
handelt es sich bei dem Wert von 70 mm um einen möglichen und eventuellen
Spitzenwert, der aufgetreten sein könnte, für den sich aber aus diesen beiden Gutachten
keine konkreten Feststellungen treffen lassen. Vielmehr ergibt sich aus dem später
erstellten Gutachten vom 04.12.2001, welches auf einer sehr viel umfassenderen
Datenbasis unter Einbezug der Radar-Niederschlagserfassung erstellt wurde, dass die
noch in den vorangegangenen Gutachten vermuteten Spitzenwerte von 70 mm eben
nicht erreicht wurden. Die Werte am und um den Schadensort herum stellen sich
vielmehr so dar, wie sie in den bereits genannten Ergebnissen des Gutachtens vom
04.12.2001 mit einer Wiederkehrhäufigkeit von 1,5 Jahren bis zu 7 Jahren ihren
Niederschlag gefunden haben. Diese Werte stehen auch in Einklang mit den Angaben
des Zeugen S (Bl. 107 GA), weshalb lediglich davon auszugehen ist.
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Nicht nachzugehen war in diesem Zusammenhang dem Beweisangebot der Beklagten
(Bl. 14 GA) durch Vernehmung des Zeugen X. Soweit der Zeuge bekunden soll, dass an
einer bestimmten städtischen Messstelle (I-Straße, deren Lage aus der Karte Bl. 65 GA
ersichtlich ist) eine Niederschlagsmenge von 68,8 mm niedergegangen sein soll, ist
dies nicht erheblich, da die Beklagte nicht behauptet hat, dass die dort angeblich
gemessenen Niederschlagsmengen in das hier relevante Kanalsystem eingeflossen
sind. Angesichts der aus der vorgelegten Karte ersichtlichen weiten Entfernung
zwischen dieser Messstelle und dem Schadensort im Stadtteil J ist ein Zusammenhang
auch wenig wahrscheinlich, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass
die Beklagte mit Schriftsatz vom 30.01.2002 (Bl. 123 GA) vorgetragen hat, das
Einzugsgebiet des betroffenen Regenrückhaltebeckens erstrecke sich in nördlicher und
nordwestlicher Richtung auf eine Länge von lediglich einem Kilometer. Von Bedeutung
sein könnte insoweit allenfalls die angeblich bei einer privaten Messstation in J
gemessene Niederschlagsmenge von 100 mm (vgl. Bl. 14 GA). Diese Behauptung der
Beklagten ist jedoch nicht nur - da sie weder die Lage und Methodik der Messstelle
noch Art, Umfang und Dauer der Messungen dargelegt hat - unsubstantiiert, sondern vor
allem auch angesichts der verschiedenen Gutachten des Deutschen Wetterdienstes
nicht nachvollziehbar, da danach derartige Niederschlagsmengen im Gesamtgebiet
nicht ansatzweise aufgetreten sind.
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III.
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Die Entscheidung über die prozessualen Nebenfolgen bleibt dem Schlussurteil
vorbehalten.
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Die Revision war zuzulassen, da über Regenrückhaltebecken bzw. vergleichbar große
offen geführte Bereiche einer Kanalisation als Teil einer Rohrleitungsanlage im Sinne
von § 2 Abs. 1 HaftPflG bisher soweit ersichtlich höchstrichterlich nicht entschieden
wurde.
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Wert der Beschwer: 34.330,34 Euro
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