Urteil des OLG Köln vom 17.02.1993
OLG Köln (operation, anosmie, eingriff, verlust, zeitlicher zusammenhang, schmerzensgeld, behandlungsfehler, folge, dokumentation, diagnose)
Oberlandesgericht Köln, 27 U 42/92
Datum:
17.02.1993
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
27. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
27 U 42/92
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 25 O 184/89
Schlagworte:
Arzthaftung Behandlungsfehler Kausalität Anscheinsbeweis
Schmerzensgeld
Normen:
BGB § 847; ZPO § 286
Leitsätze:
1.)
Zur Schmerzensgeldhöhe bei Verlust des Geruchsvermögens durch
ärztlichen Behandlungsfehler.
2.)
Zum Anscheinsbeweis hinsichtlich eines ärztlichen Behanldungsfehlers.
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 14. Januar 1992 verkündete
Urteil der 25. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 25 O 184/89 -
abgeändert.
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in
Höhe von 7.000,-- DM nebst 4 % Zinsen seit dem 8. Juni 1989 zu
zahlen.
Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die Berufung ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden
und damit zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
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Die Klägerin kann gemäß §§ 823, 847 BGB von dem Beklagten ein Schmerzensgeld in
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Höhe von 7.000,00 DM verlangen.
Der Beklagte hat der Klägerin nach den Grundsätzen der unerlaubten Handlung
denjenigen immateriellen Schaden zu ersetzen, der dieser durch den Verlust des
Geruchssinns als Folge der Nasenscheidewandoperation vom 20. März 1987
entstanden ist. Nach dem Vortrag beider Parteien und den Ausführungen des
Sachverständigen Prof. T. hat der Senat davon auszugehen, daß dem Beklagten bei der
Operation der Nasenscheidewand ein schuldhafter Behandlungsfehler unterlaufen ist.
Die Art und Weise, in welcher der Beklagte bei dem operativen Eingriff vorgegangen ist,
kann zwar nicht festgestellt werden. Der von ihm vorgelegte Operationsbericht ist dazu
nicht geeignet, da er nicht zeitnah, sondern erst zwei Jahre später - am 11. März 1989 -
verfaßt worden ist und damit keine ordnungsgemäße Dokumentation des
Operationsverlaufs darstellt. Das Fehlen eines zeitnah erstellten Operationsberichts
schafft aber Beweiserleichterungen zu Gunsten der Klägerin. Die Pflicht des Arztes, die
wichtigsten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und Verlaufsdaten zu
dokumentieren, erstreckt sich auf die Fertigung eines Operationsberichts (Steffen, Neue
Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., S. 113).
Die vom Beklagten vertretene Auffassung, der Verlauf einer
Nasenscheidewandoperation brauche nicht dokumentiert zu werden, ist mit diesem
Grundsatz nicht vereinbar und entspricht auch nicht den Ausführungen des
Sachverständigen Prof. T. zur Frage der Dokumentationspflicht. Der Sachverständige
hat darauf hingewiesen, daß selbst bei einem kleinen Eingriff, wie er hier vorliegt,
zumindest ein stichwortartiger Operationsbericht gefertigt werden muß. Das Fehlen
einer notwendigen Dokumentation begründet aber die Vermutung, daß die
aufzuzeichnende, jedoch nicht festgehaltene Maßnahme unterblieben ist (BGH NJW
1988, 2949; 1989, 2330). Nach dem Gutachten des Sachverständigen Prof. T. sind bei
Nasenscheidewandoperationen Schutzmaßnahmen zur Erhaltung des Geruchssinns in
der Weise zu treffen, daß bei der Ablösung des Mukoperichondriums von
Septumknorpel und Septumknochen die Schleimhaut nicht verletzt werden kann. Die
Anwendung der dazu erforderlichen Technik ist - so der Sachverständige - im
Operationsbericht zu dokumentieren. Da eine zeitnahe Dokumentation des
aufzuzeichnenden operativen Vorgehens fehlt, wird zu Gunsten der Klägerin vermutet,
daß der Beklagte die zum Schutz des Geruchssinns notwendigen
operationstechnischen Maßnahmen unterlassen und daher fehlerhaft gehandelt hat. Die
für einen - schuld-haft begangenen - Behandlungsfehler streitende Vermutung hat der
Beklagte nicht entkräftet.
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Infolge des Operationsfehlers hat die Klägerin ihr Geruchsvermögen vollständig
verloren. Daß die Klägerin ihren Geruchssinn überhaupt eingebüßt hat, kann - auch
wenn der Beklagte dies bestreitet - nicht bezeifelt werden. Nach dem Bericht der in der
Universitäts-Hals-Nasen-Ohrenklinik tätigen Ärzte Dr. F. und Dr. V. vom 3. November
1989 an den die Klägerin behandelnden Facharzt für Hals-Nasen- und Ohrenheilkunde
Dr. D. ist bei den im August und September 1989 vorgenommenen Untersuchungen
eine völlige Aufhebung des Geruchsvermögens (sog. Anosmie) festgestellt worden.
Diese Diagnose haben die Klinikärzte aufgrund einer Geruchstestung gestellt, die einen
"kompletten Ausfall der nervi olfactorii" der Geruchsnerven - ergeben hatte. Die
Richtigkeit der in der Universitätsklinik gestellten Diagnose ist bestätigt worden durch
den Sachverständigen Prof. T. ; denn dieser hat ausgeführt, bei den in der Klinik
vorgenommenen Riechprüfungen habe die Klägerin zweifelsfrei den sogenannten
Trigeminusreizstoff Ammoniak nicht wahrgenommen, was für den vollständigen Ausfall
der Riechempfindung spreche. Darüber hinaus hat der Beklagte ausweislich der von
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ihm geführten Patientenkartei aufgrund von Untersuchungen am 13. August und 28.
Oktober 1987 sowie am 4. Februar 1988 jeweils selbst eine Anosmie bei der Klägerin
diagnostiziert.
Der damit feststehende vollständige Verlust des Geruchsvermögens ist auf den am 20.
März 1987 vorgenommenen Eingriff zurückzuführen. Aufgrund der Beweisaufnahme
kann zwar nicht sicher festgestellt werden, daß der dem Beklagten anzulastende Fehler
bei der Nasenscheidewandoperation die Anosmie verursacht hat. Der Sachverständige
Prof. T. hat einen Ursachenzusammenhang zwischen der Operation und dem Verlust
des Geruchsvermögens nicht mit Gewißheit bejahren und andere denkbaren Ursachen
wie eine frühkindliche Hirnschädigung, zurückliegende weitere Eingriffe im
Nasennebenhöhlenbereich oder einen grippalen Infekt nicht ausschließen können.
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Für die Ursächlichkeit der Nasenscheidewandoperation spricht jedoch der Beweis des
ersten Anscheins. Nach dem Ergebnis der Zeugenvernehmung in Verbindung mit den
vom Beklagten selbst vorgenommenen Eintragungen in die Patientenkartei besteht
zwischen der Operation vom 20. März 1987 und dem Eintritt der Anosmie ein enger
zeitlicher Zusammenhang, der die Annahme eines typischen Geschehensablaufs im
Sinne der von der Klägerin behaupteten Kausalität rechtfertigt. Der Beklagte, dessen
Patientenkartei keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Anosmie vor der
Nasenscheidewandoperation ergibt, hat bereits Mitte August 1987 selbst die Diagnose
einer Anosmie gestellt. Durch die glaubhaften Aussagen der Zeuginnen K. und H. ist
darüber hinaus erwiesen, daß das Geruchsvermögen der Klägerin schon im Anschluß
an die Nasen-scheidewandoperation aufgehoben war. Beide Zeuginnen haben
übereinstimmend bekundet, die Klägerin habe nach der Operation keine Düfte mehr
identifizieren und selbst die von angebranntem Essen verursachten starken Gerüche
nicht mehr wahrnehmen können. Der Senat hat keine Bedenken, den Aussagen der
Zeuginnen K. und H. zu folgen. Die Zeuginnen haben zwar zur Klägerin als deren
Mutter und Schwester eine enge verwandtschaftliche Beziehung, in ihrem
Aussageverhalten aber nicht die Tendenz erkennen lassen, der Klägerin durch unwahre
Angaben zum Prozeßsieg zu verhelfen. Daß der Geruchssinn der Klägerin bereits
unmittelbar nach der Operation und nicht erst von einem späteren Zeitpunkt an
aufgehoben war, wird auch durch die Eintragungen des Beklagten in seiner
Patientenkartei nicht in Frage gestellt. Dieser hat zwar erstmals unter dem 30. Juni 1987
vermerkt, daß die Klägerin ihren Angaben nach "seit einigen Wochen nichts mehr
riechen" können. Abgesehen davon, daß die Zeitbestimmung "einige Wochen" nicht
klar umrissen ist, hatte die Klägerin - dies hat die Zeugin K. glaubhaft bekundet - im
Vertrauen darauf, daß sich ihr Geruchsvermögen wieder von selbst einstellen würde,
nach der Operation zunächst eine Zeitlang abgewartet, bevor sie sich deshalb an den
Beklagten wandte. Daß der Verlust des Geruchssinns nach einer
Nasenscheidewandoperation vom Patienten für eine vorübergehende Folge dieses
Eingriffs gehalten wird, erscheint auch nachvollziehbar.
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Nachgewiesen hat die Klägerin ferner, daß sie bis zu der Operation vom 20. März 1987
noch über ihr Geruchsvermögen verfügt hat. Die Zeugin K. hat bekundet, die Klägerin
habe noch nach der "ersten Operation" - dem Eingriff im ...-Krankenhaus am 16. Januar
1987 - riechen können. Anhaltspunkte, die zu Zweifeln an der Richtigkeit dieser
Aussage Anlaß geben könnten, vermag der Senat nicht zu erkennen. Die Zeugin hat
aufgrund ihres damals täglichen Kontakts mit der Klägerin, mit der sie seinerzeit die
Wohnung geteilt hat, zuverlässige Kenntnisse aus eigener Wahrnehmung und bei ihrer
Vernehmung auch einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Bestätigt worden sind
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ihre Angaben überdies durch die Bekundung der Zeugin H., die Klägerin habe "nach
der letzten Operation" - dabei handelt es sich um den vom Beklagten durchgeführten
Eingriff - nichts mehr riechen können. Die Aussage des Zeugen H. K., der sich an
zeitliche Zusammenhänge bezüglich des Verlustes des Geruchssinns der Klägerin nicht
hat erinnern können, steht den Bekundungen der Zeuginnen E. K. und R. H. nicht
entgegen.
Den Angaben der Zeuginnen K. und H. widerspricht auch keineswegs der Bericht des
...-Krankenhauses vom 30. Januar 1987 über den Verlauf der stationären Behandlung
der Klägerin in der Zeit vom 15. Januar bis zum 21. Januar 1987. Vor dem operativen
Eingriff am 16. Januar 1987 hatte die Klägerin lediglich über eine subjektive
Einschränkung der Nasenluftpassage und der Geruchsempfindung geklagt und nicht
etwa über einen vollständigen Verlust des Geruchssinns.
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Da die Klägerin demnach vor der vom Beklagten vorgenommenen Operation ihr
Geruchsvermögen noch besessen, nach dem Eingriff aber den Geruchssinn vollständig
eingebüßt hatte und - wie aus den Ausführungen des Sachverständigen Prof. T. folgt -
eine nicht sachgemäß durchgeführte Nasenscheidewandoperation eine Anosmie zur
Folge haben kann, spricht der Beweis des ersten Anscheins für einen
Ursachenzusammenhang zwischen einem dem Beklagten anzulastenden
Behandlungsfehler und dem eingetretenen Schaden.
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Damit obliegt es dem Beklagten, die ernsthafte und naheliegende Möglichkeit eines
anderen als des typischen Geschehensablaufs darzulegen und zu beweisen, um den
Anscheinsbeweis zu erschüttern (BGH NJW 1978, 2033). Dies ist ihm nicht gelungen.
Der am 16. Januar 1987 im ...-Krankenhaus durchgeführte Eingriff - eine transnasale
Sinuskopie mit Kieferhöhlenfensterung und Conchotomie - scheidet als Ursache für den
Verlust des Geruchsvermögens aus. Nach der glaubhaften Aussage der Zeugin K. hatte
die Klägerin nach der Operation im ...-Krankenhaus zwar "nicht so gut riechen" können,
ihren Geruchssinn aber keineswegs verloren. Im übrigen hat auch der Sachverständige
Prof. T. anhand der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen in dem
vorausgegangenen Eingriff im Bereich der Nasennebenhöhlen keinen Auslöser für die
eingetretene Anosmie finden können.
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Die von dem Sachverständigen als Schadensursache erwogene Hirnverletzung der
Klägerin im Kindesalter stellt gleichfalls keine ernsthafte und naheliegende andere
Möglichkeit im Sinne einer Entkräftung des Anscheinsbeweises dar. Daß das von der
damals 5-jährigen Klägerin erlittene Schädelhirntrauma 32 Jahre nach dem Unfall und
exakt im Zeitpunkt der Nasenscheidewandoperation zur Anosmie geführt haben könnte,
ist selbst theoretisch kaum denkbar und kommt als Schadensursache nicht ernstlich in
Frage. Das gilt auch für die von dem Sachverständigen als mögliche Ursache diskutierte
Grippe, deren Folgen nach seinen eigenen Ausführungen zumeist nur vorübergehender
Art sind. Daß der Sachverständige die Kausalität der Septumkorrektur "wegen der
Operationstechnik" für "eher unwahrscheinlich" hält, beruht auf dem unzulässigen
Schluß, der Eingriff sei den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt
worden. Davon kann aber aus den bereits dargelegten Erwägungen nicht ausgegangen
werden. Der Beklagte hat deshalb für die Folgen der von ihm verursachten Anosmie
einzustehen.
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Zum Ausgleich des der Klägerin durch den Verlust des Geruchssinns entstandenen
immateriellen Schadens ist ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.000,00 DM
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angemessen. Das gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, daß ihr
Geruchsvermögen vor der Nasenscheidewandoperation eingeschränkt war. Vor dem
Eingriff war die Klägerin jedenfalls noch imstande, Gerüche wahrzunehmen, was ihr
seither nicht mehr möglich ist. Der vollständige und dauerhafte Ausfall des
Geruchssinns hat eine nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität zur Folge.
Wenngleich das Riechvermögen vom Menschen nicht als einer der wichtigsten
Sinneswahrnehmungen bewertet wird, empfindet er den vollständigen Ausfall des
Geruchssinns doch immer wieder als Einschränkung seiner Lebensfreude. Hinzu
kommt, daß mit einer Anosmie auch der Verlust der Warnfunktion des Geruchssinns -
etwa bei Brandgerüchen - verbunden ist, und daß der Geschmackssinn beeinträchtigt
wird, weil viele Geschmacksempfindungen erst gemeinsam mit dem Geruch sich voll
entfalten. Ein Schmerzensgeld von 7.000,00 DM ist der Beeinträchtigung der Klägerin
daher angemessen und bewegt sich auch innerhalb desjenigen Rahmens, den die
Rechtsprechung üblicherweise für vergleichbare Sachverhalte gesetzt hat.
Die zuerkannten Rechtshängigkeitszinsen rechtfertigen sich aus §§ 288, 291 BGB.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, der Ausspruch über die vorläufige
Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10 ZPO.
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Berufungsstreitwert: 7.000,00 DM
16
Beschwer für den Beklagten: unter 60.000,00 DM
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