Urteil des OLG Köln vom 07.09.2005

OLG Köln: europäische kommission, produkt, lebensmittel, kennzeichnung, konzentration, verpackung, erzeugnis, begriff, verbraucher, erlass

Oberlandesgericht Köln, 27 U 12/04
Datum:
07.09.2005
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
27. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
27 U 12/04
Vorinstanz:
Landgericht Bonn, 9 O 603/03
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 9. Zivilkammer des
Landgerichts Bonn vom 19.4.2004 – 9 O 603/03 – wird auf ihre Kosten
zurückgewiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
G r ü n d e :
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I.
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Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Zahlung eines Schmerzensgeldes (mindestens
6.000 €), Leistung von Schadensersatz (Verdienstausfall und Heilbehandlungskosten)
in Höhe von insgesamt 1.465,28 € sowie auf Feststellung der Ersatzpflicht für
eventuelle Zukunftsschäden in Anspruch mit der Behauptung, sie habe durch den
Verzehr von Lakritzprodukten der Beklagten einen Gesundheitsschaden erlitten.
Unstreitig ist, dass die Klägerin am 22.2.2003 einen Zusammenbruch erlitten hat, der
eine Einlieferung in die D. in Berlin zur Folge hatte. Dort wurde die Klägerin erneut
bewusstlos, es stellte sich Herzkammerflimmern ein und sie musste reanimiert
werden. Der Krankenhaus-aufenthalt dauerte bis zum 12.3.2003; anschließend hat die
Klägerin eine 3-wöchige Kur angetreten und war bis 3.7.2003 arbeitsunfähig
geschrieben. Die Klägerin führt die gesundheitlichen Beeinträchtigungen darauf
zurück, dass sie seit November 2002 täglich eine 400-Gramm-Packung der
Lakritzmischung "N.-Mix" der Beklagten verzehrt hat. Dieses Produkt enthalte
Glycyrrhizin, das zu Störungen im Mineralstoffhaushalt des menschlichen Körpers
führen und Gesundheitsbeschwerden der Art hervorrufen könne, wie sie sie erlitten
habe. Auf diese Gefahr habe die Beklagte durch Aufdrucke auf den Produkten
warnend hinweisen müssen. Das Landgericht, auf dessen Urteil gem. § 540 I Nr. 1
ZPO Bezug genommen wird, hat die Klage abgewiesen. Mit ihrer Berufung verfolgt die
Klägerin ihr erstinstanzliches Begehren weiter.
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II.
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Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Die mit der Klage verfolgten
Ansprüche stehen der Klägerin gegen die Beklagte nicht zu.
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1.
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Dafür, dass die von der Klägerin erworbenen und von der Beklagten hergestellten
Lakritzmischungen Konstruktions- oder Fabrikationsfehler aufweisen, ergibt sich aus
dem Prozessvortrag der Parteien kein Anhalt.
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2.
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Ein Instruktionsfehler, der eine Haftung der Beklagten gem. §§ 1, 3 I lit. a, 4 ProdHaftG
oder § 823 I BGB begründen könnte, lässt sich nicht feststellen.
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a) Aus der Kennzeichnungsempfehlung auf S. 2 des von der Klägerin vorgelegten
Schreibens des Bundesministers für Gesundheit vom 22.2.1991 – Geschäfts-zeichen
414 – 6330/12 - (Anl. K 8; GA 24) lässt sich ein Instruktionsfehler nicht herleiten. Denn
dort wird ein Verzehrshinweis nur dann empfohlen, wenn das Lakritzerzeugnis einen
Glycyrrhizingehalt von mehr als 0,2 % aufweist. Nach dem Prozessvortrag der
Beklagten (GA 44), der sich mit ihren Angaben in dem vorprozessualen Schreiben an
die Klägerin vom 25.7.2003 (Anl. K 11; GA 31/2) deckt und von der Klägerin nicht in
Frage gestellt wird, variieren die Glycyrrhizin-werte der in der Lakritzmischung
enthaltenen Produkte aber zwischen 0,08 und 0,18 %. Die von der Klägerin
sichergestellte Lakritzmischung, die von ihr im Rahmen der erstatteten Strafanzeige
den Polizeibehörden zur Untersuchung ausgehändigt worden ist, wies nach dem
vorliegenden Gutachten des Instituts für Lebensmittel, Arzneimittel und Tierseuchen
Berlin vom 9.1.2004 (GA 83 ff) einen Gehalt an Glycyrrhizinsäure von 483 mg/401 g
auf, was einem Anteil von 0,12 % entspricht.
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b) Der Beklagten kann aber auch im Übrigen eine objektive Pflichtverletzung wegen
Unterlassens eines gebotenen Warnhinweises nicht angelastet werden. Aus der
Feststellung unter a) folgt zwar nicht schon ohne weiteres, dass ein Instruktionsfehler
der Beklagten insgesamt zu verneinen ist. Denn so wie in der Rechtsprechung
anerkannt ist, dass eine Haftung des Herstellers wegen des Unterlassens einer
Warnung vor von seinem Produkt ausgehenden Gefahren auch dann in Betracht
kommen kann, wenn das Produkt den durch Rechtsvorschriften und behördliche
Anordnungen oder Empfehlungen gemachten Vorgaben hinsichtlich seiner
Zusammensetzung oder sonstigen physikalischen Beschaffenheit entspricht (z.B.
BGHZ 106, 273; Bischoff VersR 2003, 958, 960), wird entsprechendes zu gelten
haben, wenn die Darbietung des Produkts, zu der auch Instruktionen, Warnhinweise
u.ä. gehören, behördlichen Vorgaben genügt. Die Frage der zivilrechtlichen Haftung
ist nämlich grundsätzlich von der Frage zu trennen, ob straf- oder
verwaltungsrechtliche Bestimmungen die Beschaffenheit eines Produkts oder die ihm
beizufügenden Warnhinweise regeln. Eine Haftung des Herstellers wird insoweit dann
in Betracht kommen, wenn die jeweiligen Fachkreise über gesicherte
wissenschaftliche Erkenntnisse verfügen, die Warn-hinweise erforderlich erscheinen
lassen, dementsprechende Auflagen in Form von Gesetzen, Verordnungen oder
behördlichen Anordnungen aber (noch) nicht bestehen, weil der entsprechende
Bereich noch ungeregelt ist oder vorhandene ältere Regelungen den neueren
gesicherten Erkenntnissen noch nicht angepasst sind. Für den hier zu beurteilenden
Bereich der glycyrrhizinhaltigen Lebensmittel liegt eine derartige Situation aber nicht
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vor. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass für Lakritzprodukte der Art, wie sie die
Klägerin konsumiert hat, auch nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen ein
Warn- oder Verzehrhinweis, wie ihn die Klägerin für angezeigt hält, nicht gefordert
werden kann.
Die Richtlinie 94/54/EG der Europäischen Kommission vom 18.11.1994 enthält eine
Liste von Lebensmitteln, bei deren Kennzeichnung zusätzliche Angaben zu machen
sind. Für Lakritzprodukte der hier fraglichen Art wird dort eine zusätzliche Angabe
warnender oder hinweisender Art nicht vorgeschrieben. Der wissenschaftliche
Lebensmittelausschuss der Europäischen Union hat sich in der Folgezeit speziell mit
der Frage befasst, welche gesundheitlichen Gefahren von dem Genuss von
Lebensmitteln ausgehen können, die Glycyrrhizinsäure enthalten und welche
vorsorgenden Maßnahmen insoweit angezeigt sind. Das Ergebnis seiner
Untersuchungen hat er in seiner Stellungnahme vom 4.4.2003 niedergelegt. Die
Europäische Kommission hat sodann unter Berücksichtigung dieser Stellungnahme
und in Übereinstimmung mit der Stellungnahme des Ständigen Ausschusses für die
Lebensmittelkette und Tiergesundheit am 29.4.2004 die Richtlinie 2004/77/EG zur
Änderung der Richtlinie 94/54/EG erlassen hinsichtlich der Kennzeichnung
bestimmter Lebensmittel, die Glycyrrhizinsäure und deren Ammoniumsalz enthalten.
Danach müssen Süßwaren, die Glycyrrhizinsäure oder deren Ammoniumsalz in einer
Konzentration von 100 mg/kg (= 0,01 %) enthalten, mit der Angabe "enthält Lakritz"
versehen werden, wenn der Begriff Lakritz nicht bereits in der Zutatenliste oder in dem
Namen, unter dem das Erzeugnis verkauft wird, enthalten ist. Diesem Erfordernis
entsprach das von der Beklagten vertriebene Produkt bereits vor Erlass der Richtlinie,
denn die Verpackung enthält unmittelbar unter dem Produktnamen die Bezeichnung
"Lakritzmischung". Einen echten Warnhinweis darauf, dass der Genuss von
Süßigkeiten gesundheitliche Gefahren in sich bergen kann, sieht die geänderte
Richtlinie dann vor, wenn Glycyrrhizinsäure oder ihr Ammoniumsalz in einer
Konzentration von mindestens 4 mg/kg (= 0,4 %) enthalten ist; der anzubringende
Hinweis hat dann zu lauten: "Enthält Lakritz – bei hohem Blutdruck sollte ein
übermäßiger Verzehr dieses Erzeugnisses vermieden werden." Da das fragliche
Produkt der Beklagten nur ganz erheblich niedrigere Konzentrationen an
Glycyrrhizinsäure aufweist [vgl. vorstehend a)], erfüllte es somit bereits die erst
(nachträglich) im Jahre 2004 erlassenen verschärften Vorschriften der EU.
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Im Hinblick darauf, dass – wie dargestellt – die Frage, welche gesundheitlichen
Gefahren vom Genuss glycyrrhizinhaltiger Lebensmittel ausgehen können und welche
Konsequenzen daraus im Hinblick auf Warnhinweise zum Schutz der Verbraucher zu
ziehen sind, zu dem hier maßgeblichen Zeitraum (Sommer/Herbst 2002 bis Anfang
des Jahres 2003) bzw. in der nachfolgenden Zeit Gegenstand wissenschaftlicher
Beurteilung durch einen mit Fachleuten aus 13 Nationen hochkarätig besetzten
Ausschuss war, dessen Untersuchungen aber nicht zu dem Ergebnis geführt haben,
dass auch für das von der Klägerin verzehrte Produkt der Beklagten ein Warnhinweis
erforderlich sei, ist die Feststellung, dass die Beklagte gleichwohl hinreichenden
Anlass hätte haben müssen, einen solchen Hinweis anzubringen, nicht möglich. Dies
würde voraussetzen, dass die Maßnahmen, die von der Europäischen Kommission
auf der Grundlage der Stellungnahme des wissenschaftlichen Ausschusses
"Lebensmittel" zum Schutz des Verbrauchers getroffen worden sind, als unzureichend
oder verfehlt abqualifiziert werden könnten. Dies ist jedoch nicht angängig, da
abweichende wissenschaftliche Erkenntnisse, die geeignet wären, derartige
Unzulänglichkeiten der im Jahre 2004 erfolgten Verschärfung der Richtlinien
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aufzuzeigen, nicht ersichtlich sind.
Soweit die Klägerin aus den Ausführungen unter Ziffer 4. der internen Stellungnahme
des Betriebsarztes der Beklagten vom 23.6.2003 (GA 264/5) eine Aufklärungspflicht
der Beklagten gegenüber den Abnehmern ihres Produkts herleiten will, geht dies fehl.
Der Betriebsarzt der Beklagten äußert sich dort dahingehend, dass er einen Arzt, der
bei einem Patienten einen Bluthochdruck diagnostiziert, für verpflichtet hält, über
mögliche gesundheitliche Risiken von Nahrungs- und Genussmitteln aufzuklären.
Daraus lässt sich jedoch nicht ableiten, dass dem Hersteller von Nahrungsmitteln die
Pflicht obliegt, auf alle Gefahren hinzuweisen, die von seinem Produkt ausgehen
können, da das Risikopotential je nach gesundheitlicher Disposition des Abnehmers
ganz unterschiedlich ist und sich der Lebensmittelhersteller in einer Situation befindet,
die nicht mit der eines Arztes vergleichbar ist, der regelmäßig gerade wegen
spezieller gesundheitlicher Probleme konsultiert worden ist und gezielt hierzu beraten
und aufklären soll.
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3.
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Dass von der Beklagten auch nicht erwartet werden kann, dass sie über so
überragende Fachkenntnisse verfügt, um zu einer besseren Einsicht zu gelangen, als
die hochkarätig beratene Europäische Kommission, liegt auf der Hand und bedarf
keiner weiteren Vertiefung, so dass insoweit, als ein Verschuldensvorwurf als
Anspruchsvoraussetzung erforderlich ist, eine Haftung der Beklagten auch aus
diesem Grund ausscheidet.
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4.
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Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 I, 708 Nr. 10 ZPO.
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