Urteil des OLG Köln vom 11.06.1996

OLG Köln (identifizierung, strafkammer, stimmenvergleich, täter, polizei, hauptverhandlung, täterschaft, stimme, bezug, lispeln)

Oberlandesgericht Köln, Ss 194/96 - 84 -
Datum:
11.06.1996
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
Ss 194/96 - 84 -
Tenor:
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin wird
das angefochtene Urteil mit den getroffenen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über
die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts
Köln zurückverwiesen.
G r ü n d e :
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Die - unverändert zugelassene - Anklage legt dem Angeklagten zur Last, die Zeugin und
Nebenklägerin J. G. am Abend des 29.04.1994 gegen 23.45 Uhr in der Damentoilette
des B. a. M. in K.-M- mit der Drohung, sie umzubringen, zur Manipulationen an seinem
Geschlechtsteil genötigt und sie selbst gewaltsam im Scheidenbereich angefaßt zu
haben.
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Das Schöffengericht hat den Angeklagten vom Anklageverwurf freigesprochen.
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Das Landgericht hat die Berufung der Nebenklägerin verworfen. Das Landgericht hat
den - seine Täterschaft bestreitenden - Angeklagten aus tatsächlichen Gründen
freigesprochen. Es könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, daß
es der Angeklagte gewesen sei, der die Nebenklägerin sexuell genötigt habe.
Wahlbildvorlage und Stimmenvergleich seien mit zahlreichen Fehlerquellen behaftet.
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Hinsichtlich der Wahlbildvorlage hat die Strafkammer unter anderem hervorgehoben,
daß der Nebenklägerin lediglich drei Fotos gezeigt worden seien. Dabei sei nicht
dokumentiert worden - und habe sich auch in der Berufungshauptverhandlung nicht
klären lassen - woran die Nebenklägerin den Angeklagten als den Täter identifiziert
habe. Die subjektive Gewißheit der Nebenklägerin, sie sei sich zu 90 % sicher, daß der
Mann auf dem Foto Nr. 2 - der Angeklagte - der Täter sei, reiche nicht aus. Die von der
Nebenklägerin drei Tage nach der Tat gegenüber der Polizei gegebene
Täterbeschreibung: "kräftig gebaut, kurze Haare, wahrscheinlich dunkelblond, eventuell
ein kleiner Schnäuzer, glattes regelmäßiges Gesicht, keine Brille" sei so allgemein
gehalten, daß sie auf viele Personen, "darunter womöglich auch den Angeklagten"
zutreffe.
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Auch der Umstand, daß die Nebenklägerin in der Berufungshauptverhandlung bekundet
habe, sie habe den Angeklagten als Täter bei dem von der Polizei durchgeführten
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Stimmenvergleich "zu 100 %" wiedererkannt, habe der Kammer nicht die hinreichende
Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten vermitteln können. Die
Durchführung des Stimmenvergleichs stoße auf Bedenken. Zwar seien die fünf
Vergleichsstimmen ähnlich und vergleichbar gewesen. Zu beanstanden sei aber u.a.,
daß bei dem Stimmenvergleich nicht ein neutraler Text, sondern entsprechend den
Angaben der Nebenklägerin genau die Sätze verwendet worden seien, die der Täter in
dem Toilettenraum zu der Nebenklägerin gesprochen habe.
Darüber hinaus habe die Nebenklägerin auch in der Hauptverhandlung vor der
Strafkammer nicht näher angeben könne, worin die "signifikante Sprechweise" des
Täters bestanden habe, an welchen charakteristischen Einzelheiten sie die Stimme des
Angeklagten als die des Täters wiedererkannt habe. Zwar habe die Nebenklägerin
schon bei der Polizei von einem "kölschen Dialekt" des Täters gesprochen und dessen
Ausdrucksweise als undeutlich, schwammig, holprig oder ähnlich bezeichnet. Auch
habe sich die Strafkammer in der Hauptverhandlung vergewissert, daß die Sprechweise
des Angeklagten in etwa als eine solche bezeichnet werden könne, die unterhalb des
Sprachfehlers "Lispeln" angesiedelt sei. Die Nebenklägerin habe aber keinen
Sprachfehler oder Eigenarten geschildert, die so auffällig seien, daß sie eine
zuverlässige Identifizierung ermöglichen.
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Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin rügen die Verletzung
formellen und materiellen Rechts.
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Die Revisionen haben (vorläufigen) Erfolg. Sie führen zur Aufhebung des
angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
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Die Verfahrensrügen bedürfen keiner Entscheidung, weil die Sachbeschwerden
durchgreifen. Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält revisionsrechtlicher
Überprüfung nicht stand.
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Auch für das den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freisprechende Urteil ergibt
sich aus § 261 StPO, daß der Tatrichter den festgestellten Sachverhalt, soweit er
bestimmte Schlüsse zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten nahelegt,
erschöpfend zu würdigen hat (BGH NJW 1980, 2423; OLG Köln, 3. Strafsenat, VRS 65,
383; SenE vom 22.06.1993 - Ss 155/93). Beim Indizienbeweis muß sich der Tatrichter
mit allen festgestellten Beweisanzeichen einzeln und im Rahmen einer
Gesamtwürdigung auseinandersetzen (vgl. BGH a.a.O.; OLG Köln a.a.O; SenE vom
30.05.1995 - Ss 252/95). An die für eine Verurteilung erforderliche Gewißheit dürfen
namentlich keine überspannten Anforderungen gestellt werden (BGH NStZ 1983, 277;
SenE a.a.O.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 42. Aufl., § 337 Rdnr. 27 m.w.N.).
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Diesen Grundsätzen entspricht die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts nicht.
Bereits die Abhandlung der einzelnen Beweisanzeichen läßt Rechtsfehler erkennen.
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Zur Frage der Identifizierung des Angeklagten durch die Nebenklägerin als
Augenzeugin ist die Beweiserhebung der Strafkammer unvollständig. Zwar ist im
Hinblick auf die - im angefochtenen Urteil zutreffend dargestellten - Grundsätze der
Rechtsprechung zur Identifizierung eines Täters durch Augenzeugen (sogenanntes
Wiedererkennen; vgl. SenE vom 13.12.1991 - Ss 379/91 = StV 1992, 412 und vom
04.08.1992 = StV 1994, 67 m.w.N.; Kleinknecht/Meyer-Goßner a.a.O., § 261 Rdnr. 11, §
58 Rndr. 9 ff m.w.N.) nicht zu beanstanden, daß das Tatgericht nicht die Überzeugung
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hat gewinnen können, die Nebenklägerin habe durch Augenschein den Angeklagten
zuverlässig als Täter identifiziert. Auf diesen Aspekt durfte die Kammer die Würdigung
des Beweismittels "Nebenklägerin als Augenzeugin" aber nicht beschränken. Sie hätte -
was nahelag und sich aufdrängte - auch erörtern müssen, ob sich aus der von der
Nebenklägerin drei Tage nach der Tat gegebenen Darstellung ihrer visuellen
Täterwahrnehmung ("kräftig gebaut, kurze Haare, wahrscheinlich dunkelblond,
eventuell ein kleiner Schnäuzer, glattes regelmäßiges Gesicht, keine Brille") nicht
zumindest ein Beweisanzeichen für die Täterschaft des Angeklagten ergeben konnte.
Dazu läßt sich dem angefochtenen Urteil indes nichts entnehmen. Nicht einmal zum
äußeren Erscheinungsbild des Angeklagten im Zeitpunkt der Hauptverhandlung teilt die
Strafkammer nachvollziehbares mit, was materiell- rechtlich fehlerhaft und nicht etwa nur
unter verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten von Bedeutung ist (vgl.
Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozeß, 5. Auflage, Seite 236; SenE
vom 4. 8. 1992 - Ss 325/92).
Die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Frage einer Identifizierung des
Angeklagten durch Stimmenvergleich halten ebenfalls nicht insgesamt rechtlicher
Überprüfung stand.
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Zutreffend geht die Strafkammer allerdings davon aus, daß für die Identifizierung eines
Tatverdächtigen aufgrund eines Stimmenvergleichs die für die Gegenüberstellung mit
einem Augenzeugen anerkannten Grundsätze entsprechend gelten (BGH NJW 1994,
1807 = NStZ 1994, 295; BGH NStZ 1994, 597; vgl. auch Odenthal NStZ 1995, 579). Bei
der Übertragung dieser Grundsätze in bezug auf die Identifizierung des Angeklagten
durch die Nebenklägerin als "Ohrenzeugin" (vgl. Odenthal a.a.O.) stellt die Kammer
jedoch unzutreffende und zu hohe Anforderungen.
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Soweit die Strafkammer ausführt, der bei der Polizei durchgeführte Stimmenvergleich
sei von suggestiver Wirkung gewesen, "weil dabei nicht ein neutraler Text, sondern
genau die Sätze verwendet wurden, die der Täter in dem Toilettenraum nach Angaben
der Zeugin G. zu ihr gesprochen hat", ist dies fehlerhaft, weil nicht nachvollziehbar.
Geben sämtliche der in einen Stimmenvergleich einbezogenen Personen -
entsprechend den Angaben des Ohrenzeugen - die Äußerungen des Täters bei der Tat
wieder, kann von einer suggestiven Wirkung des Sprechtextes jedenfalls dann keine
Rede sein, wenn - wie hier von der Strafkammer festgestellt - die Vergleichsstimmen
"ähnlich und vergleichbar" sind (vgl. auch OLG Karlsruhe NStZ 1983, 377, 378). So hat
vorliegend die Nebenklägerin auch nicht etwa schon die als erste sprechende Person
als den Täter bezeichnet.
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Darüber hinaus lassen die Ausführungen der Strafkammer im Stimmenvergleich
besorgen, daß das Tatgericht die Identifizierung eines Täters durch Ohrenzeugen
letztlich nur für den Fall für möglich hält, daß die Sprache des Tatverdächtigen
sprachfehlertypische Eigenarten aufweist. Solche Anforderungen an die Möglichkeit der
Identifizierung eines Täters durch Stimmenvergleich können indes rechtsfehlerfrei nicht
gestellt werden. So ist auch die Identifizierung eines Tatverdächtigen durch
Augenzeugen nicht etwa auf Fälle beschränkt, in denen der Tatverdächtige körperliche
Besonderheiten in Form von Gebrechen, Fehlstellungen oder Fehlbildungen aufweist.
Dementsprechend kann einer Identifizierung durch Ohrenzeugen nicht etwa deshalb der
Beweiswert abgesprochen werden, weil die als Täter in Betracht kommende Person
keinen Sprachfehler hat. Auch geringer ausgeprägte Sprachmerkmale können zur
Identifizierung ausreichen. Welche Merkmale eine Identifizierung noch zuverlässig
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ermöglichen können, ist eine Frage des Einzelfalles, die der Tatrichter gegebenenfalls
durch Hinzuziehung eines Sprachwissenschaftlers (vgl. Odenthal a.a.O.) zu
beantworten hat.
Im übrigen sind die Ausführungen des Landgerichts zum Beweiswert des
Stimmenvergleichs auch materiell-rechtlich unvollständig. Ihnen läßt sich nicht einmal
sicher entnehmen, ob die von der Nebenklägerin bei ihrer ersten Vernehmung durch die
Polizei in bezug auf die Stimme des Täters genannten Merkmale ("kölscher Dialekt,
undeutlich, schwammig, holprig oder ähnlich") auf die Sprache bzw. Sprechweise des
Angeklagten zutreffen. Die Strafkammer führt insoweit lediglich aus, die Sprechweise
des Angeklagten könne als eine solche bezeichnet werden, die unterhalb des
Sprachfehlers "Lispeln" angesiedelt sei.
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Schließlich läßt das Urteil eine Gesamtschau der erörterten Beweisanzeichen
vermissen.
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Für die neue Hauptverhandlung wird auf folgendes hingewiesen:
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Sollte der bei der Polizei durchgeführte Stimmenvergleich nicht auf Tonträger
festgehalten worden sein, wird sich die Strafkammer - gegebenenfalls unter
Hinzuziehung eines Sprachwissenschaftlers - durch Anhörung der Vergleichsstimmen
selbst einen Eindruck hinsichtlich des Beweiswertes des Stimmenvergleichs
verschaffen müssen.
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