Urteil des OLG Köln vom 08.01.1998
OLG Köln (kläger, heimbewohner, grundstück, beurteilung, garten, jahreszeit, vernehmung, toleranz, duldungspflicht, zpo)
Oberlandesgericht Köln, 7 U 83/96
Datum:
08.01.1998
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
7. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
7 U 83/96
Vorinstanz:
Landgericht Aachen, 4 0 383/93
Schlagworte:
Zumutbarkeit Geräuscheinwirkung Behinderte Diskriminierungsverbot
Normen:
BGB § 906; GG Art. 3 Abs. 3
Leitsätze:
1. Maßstab für die Duldungspflicht nach § 906 Abs. 1 BGB ist das
Empfinden des ,verständigen" Durchschnittsmenschen, was bedeutet,
daß nicht allein auf das Maß der objektiven Beeinträchtigung
abzustellen ist, sondern auch wertende Momente in die Beurteilung
einzubeziehen sind (im Anschluß an BGHZ 120, 239, 255; 121, 248,
255). Insbesondere sind hier die spezifischen Belange der Behinderten
zu berücksichtigen; das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2
GG entfaltet insoweit Ausstrahlungswirkung. 2. Im Lichte des Art. 3 Abs.
3 Satz 2 GG muß von einem verständigen Durchschnittsmenschen im
nachbarschaftlichen Zusammenleben mit behinderten Menschen eine
erhöhte Toleranzbereitschaft eingefordert werden. Dies bedeutet aber
nicht, daß den Interessen der Behinderten schlechthin der Vorrang vor
den berechtigten Belangen ihrer Nachbarn gebührt. Das Toleranzgebot
endet, wo nach umfassender Abwägung zwischen Art und Ausmaß der
Beeinträchtigung einerseits und den hinter der Geräuschbelästigung
stehenden privaten und öffentlichen Belangen andererseits dem
Nachbarn die Belästigung billigerweise nicht mehr zugemutet werden
kann. 3. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit von
Geräuscheinwirkungen kommt es nicht allein auf die Dauer und die
Lautstärke sondern auch auf die Art der Geräusche an. Insoweit ist zu
berücksichtigen, daß Lautäußerungen geistig schwer behinderter
Menschen auch von solchen Bürgern als sehr belastend empfunden
werden können, die sich gegenüber Behinderten von der gebotenen
Toleranz leiten lassen. 4. Tonbandaufzeichnungen über
Lautäußerungen ausschließlich nichtverbaler Art, die jedenfalls für
Außenstehende keinen Informationsgehalt haben und keiner
bestimmten Person zugeordnet werden können, sind ein zulässiges
Beweismittel.
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das am 24. April 1996 verkündete
Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Aachen - 4 0 383/93 -
teilweise abgeändert und unter Zurückweisung der weitergehenden
Berufung insgesamt wie folgt neu gefaßt: Der Beklagte wird verurteilt, in
der Jahreszeit zwischen dem 1. April und dem 31. Oktober durch
geeignete Maßnahmen zu verhindern, daß von den auf seinem
Grundstück untergebrachten geistig behinderten Personen
Lärmeinwirkungen wie Schreien, Stöhnen, Kreischen und sonstige
unartikulierte Laute zu folgenden Tageszeiten auf das Grundstück des
Klägers dringen: a) an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen ab 12:30
Uhr; b) mittwochs und samstags ab 15:30 Uhr; c) an den übrigen
Werktagen ab 18:30 Uhr. Im übrigen wird die Klage abgewiesen. Die
Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen tragen der Kläger zu 2/3, der
Beklagte zu 1/3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
1
Die Berufung ist zulässig, hat in der Sache aber nur teilweise Erfolg.
2
I.
3
Die Klage ist mit den in der Berufungsinstanz gestellten Anträgen zulässig.
4
Seinen erstinstanzlichen Hauptantrag, mit dem er vom Beklagten noch die Schließung
des in der ... Str. unterhaltenen heilpädagogischen Heims verlangt hat, verfolgt der
Kläger in der Berufungsinstanz nicht mehr weiter. Ob die nunmehr gestellten Anträge,
die auf Unterlassung der von dem Grundstück ausgehenden Störungen
beziehungsweise - hilfsweise - Zahlung einer Entschädigung gerichtet sind, gegenüber
den erstinstanzlichen Anträgen eine Klageänderung darstellen, kann dahinstehen. Auch
wenn es sich um eine Klageänderung handelt, ist sie jedenfalls deshalb zulässig, weil
sie sachdienlich ist (§ 263 ZPO).
5
II.
6
Hinsichtlich der Lärmeinwirkungen steht dem Kläger grundsätzlich ein
Unterlassungsanspruch gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB (in Verbindung mit § 906
BGB) zu.
7
Die für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgebende Bestimmung enthält § 906
Abs. 1 BGB. Danach hat der Eigentümer eines Grundstücks bestimmte Einwirkungen,
u.a. Geräuschimmissionen, nur zu dulden, soweit die Benutzung seines Grundstücks
nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt wird. Der Beklagte bestreitet nicht, daß die
Heimbewohner Laute von sich geben, die auf dem benachbarten Grundstück des
Klägers hörbar sind. Er meint nur, die Beeinträchtigung, die der Kläger dadurch erfahre,
sei nicht wesentlich. In dieser Einschätzung kann dem Beklagten nach dem Ergebnis
der Beweisaufnahme nicht gefolgt werden.
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1. Bei der Beurteilung der rechtlichen Kriterien, nach denen sich die Wesentlichkeit
einer Beeinträchtigung bemißt, folgt der Senat der neueren Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts.
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Als Maßstab für die Duldungspflicht nach § 906 Abs. 1 BGB diente früher das
Empfinden des sog. "normalen" Durchschnittsmenschen (BGHZ 70, 102, 110). Als
unwesentlich galt eine Beeinträchtigung nur dann, wenn sie von einem
durchschnittlichen Grundstücksbenutzer kaum noch empfunden wurde (BGH NJW
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1982, 440, 441; OLG Stuttgart, NJW-RR 1986, 1339, 1340). Nach der neueren
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dagegen das Empfinden des
"verständigen" Durchschnittsmenschen maßgebend, was insbesondere bedeutet, daß
im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung nicht mehr allein auf das Maß der
objektiven Beeinträchtigung abzustellen ist, sondern daß auch wertende Momente wie
beispielsweise Belange des Umweltschutzes oder das öffentliche Interesse an einer
kinderfreundlichen Umgebung in die Beurteilung einzubeziehen sind (BGHZ 120, 239,
255; 121, 248, 255).
Die neuere Rechtsentwicklung ist ferner dadurch gekennzeichnet, daß die
Rechtsprechung das privatrechtliche Kriterium der Wesentlichkeit im Sinne des § 906
Abs. 1 BGB gleichsetzt mit dem öffentlich-rechtlichen Kriterium der Erheblichkeit im
Sinne des § 3 Abs. 1 BImSchG, um zu einer Vereinheitlichung zivilrechtlicher und
öffentlich-rechtlicher Beurteilungsmaßstäbe zu kommen (BGHZ 111, 63, 68; 120, 239,
255; 121, 248, 254; BVerwG NJW 1989, 1291). Der Senat berücksichtigt daher auch
die zu § 3 Abs. 1 BImSchG ergangene Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts, wonach im Sinne einer "Sozialadäquanz" und
"Akzeptanz" auch die allgemeine Einschätzung der Bevölkerung in die Abwägung
einzubeziehen ist (BVerwGE 88, 143, 149).
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Grundsätzlich ist damit eine Rechtsentwicklung festzustellen, die es ermöglicht und
nahelegt, bei der Beurteilung der Wesentlichkeit im Sinne des § 906 Abs. 1 BGB auch
die spezifischen Belange der Behinderten zu berücksichtigen. In diesem
Zusammenhang ist der mit Gesetz vom 27. Oktober 1994 in das Grundgesetz
eingefügte Artikel 3 Abs. 3 Satz 2 GG ("Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden") zu beachten, der nicht nur dem Staat und seinen Organen ein
Diskriminierungsverbot auferlegt, sondern kraft seiner "Ausstrahlungswirkung" auf das
Privatrecht auch bei der Auslegung und Anwendung privatrechtlicher Normen nicht
unbeachtet bleiben darf (vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Art. 3 Rdn. 83). Im Lichte
des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG muß von dem "verständigen" Durchschnittsmenschen, auf
dessen Empfinden es maßgebend ankommt, im nachbarschaftlichen Zusammenleben
mit behinderten Menschen eine erhöhte Toleranzbereitschaft eingefordert werden.
Dies bedeutet aber nicht, daß den Interessen der Behinderten schlechthin der Vorrang
vor den berechtigten Belangen ihrer Nachbarn gebührt. Eine schrankenlose
Duldungspflicht widerspräche dem nachbarlichen Gebot der Rücksichtnahme und
wäre mit der gesetzlichen Regelung des § 906 Abs. 1 BGB nicht in Einklang zu
bringen. Das Toleranzgebot muß - spätestens - dort enden, wo die Unzumutbarkeit
beginnt. Insoweit gilt auch für den vorliegenden Fall, daß eine umfassende Abwägung
zwischen Art und Ausmaß der Beeinträchtigung einerseits und den hinter der
Geräuschbelästigung stehenden privaten und öffentlichen Belangen andererseits
stattzufinden hat, wobei die Grenze der Duldungspflicht überschritten und damit die
Wesentlichkeit im Sinne des § 906 Abs. 1 BGB zu bejahen ist, wenn dem Nachbarn
die Belästigung "billigerweise nicht mehr zuzumuten ist" (BGHZ 120, 239, 255; vgl.
auch BVerwGE 79, 254, 260).
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2. Die vom Senat durchgeführte Beweisaufnahme hat ergeben, daß die Geräusche,
denen der Kläger vom Grundstück des Beklagten her ausgesetzt ist, die
Zumutbarkeitsschwelle überschreiten.
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a) Der Senat war nicht gehindert, die vom Kläger gefertigten Tonaufzeichnungen als
Beweismittel zu verwerten.
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Das vom Landgericht angenommene Beweisverwertungsverbot gilt nur für
Aufzeichnungen sprachlicher Art. Insoweit gilt, daß in das Recht der
Selbstbestimmung des Menschen eingegriffen wird, wenn der aus der Spontaneität
heraus formulierte Gedanke durch die Aufzeichnung verfestigt und so die Möglichkeit
der jederzeitigen Abrufbarkeit und Wiederholbarkeit geschaffen wird (BGH NJW 1988,
1016, 1017). Hinzukommen muß ferner, daß das gesprochene Wort einer bestimmten
Person als Urheber zugeordnet werden kann. Beides ist bei den Aufzeichnungen des
Klägers nicht der Fall. Sie enthalten ausschließlich nichtverbale Laute, die jedenfalls
für Außenstehende keinen Informationsgehalt haben und auch nicht mit einer
bestimmten Person als Urheber in Verbindung gebracht werden können. Durch die
Aufzeichnung und die Wiedergabe eines solchen Dokuments werden die
Heimbewohner nicht in ihrem Selbstbestimmungsrecht verletzt.
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b) Durch das Abspielen der Tonbänder und die Vernehmung der Zeugen ist der
Wahrheitsbeweis für die vom Kläger behauptete Beeinträchtigung im wesentlichen
erbracht.
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Die auf den Tonbändern aufgezeichneten Äußerungen der Heimbewohner sind
durchgehend stimmliche Laute nichtverbaler Art, in denen für das ungeübte Ohr weder
Gedanken noch Gefühle zum Ausdruck gelangen. Der Kläger hat die Äußerungen als
"unartikuliertes Schreien, Rufen, Gurgeln, Stöhnen, Lachen" und "Lallen" beschrieben,
während der Beklagte sie als "Artikulationsversuche" interpretiert hat. Diese Deutung
entspricht auch dem Eindruck des Senats, daß viele Laute von dem - vergeblichen -
Bemühen der Heimbewohner zeugen, ihre Gedanken auszudrücken und sprachlich
miteinander zu kommunizieren. Aus dem Mißlingen der Sprechversuche resultieren
Laute, die von einem unvoreingenommenen Zuhörer als unharmonisch, fehlmoduliert
und damit als unangenehm empfunden werden. Dementsprechend sind die
Äußerungen von den in der Nachbarschaft wohnenden und arbeitenden Zeugen als
"Urgeräusche" (Zeuge), als "stupide Laute" (Zeugin) oder als "nicht zu definierende
Laute" (Zeuge) beschrieben worden.
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Nach dem Abhören der Tonbänder hatte der Senat dem Vorwurf des Beklagten
nachzugehen, der Kläger habe die Aufzeichnungen manipuliert, insbesondere die
Lautstärke verfälscht. Durch die Vernehmung der Zeugen - jedem Zeugen sind bei der
Vernehmung Teile der Aufzeichnungen vorgespielt worden - hat sich dieser Vorwurf
als haltlos erwiesen. Alle Zeugen, nicht nur die vom Kläger benannten Nachbarn,
sondern auch die vom Beklagten benannten Betreuungspersonen, haben bestätigt,
daß die abgespielten Bänder die von den Heimbewohnern erzeugten Laute nach Art
und Stärke im wesentlichen richtig wiedergeben. Im Kern stimmen alle
Zeugenaussagen auch darin überein, daß die Äußerungen nicht nur sporadisch zu
hören sind. Geringfügig sind sie nur während der kalten Jahreszeit, in der sich die
Heimbewohner in ihren Räumen innerhalb des Hauses aufhalten. Der Kläger
behauptet auch nicht, daß während dieser Zeit eine nennenswerte Beeinträchtigung
stattfindet. Anders verhält es sich in der warmen Jahreszeit, in der die Heimbewohner
auch den an das Anwesen des Klägers grenzenden Garten nutzen. In dieser Zeit
halten sie sich, wie auch die als Zeugen vernommenen Betreuungspersonen bestätigt
haben, bei schönem Wetter regelmäßig mehrere Stunden täglich im Freien auf. Dann
geben sie auch, zwar nicht ständig, aber doch während eines nicht unerheblichen
Teils der Zeit, die vom Kläger aufgenommenen Laute von sich, die in der
Nachbarschaft deutlich zu hören sind.
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Diese Lauteinwirkungen braucht der Kläger in der schrankenlosen Form, in der sie
nach der Vorstellung des Beklagten auch in Zukunft möglich sein sollen, nicht zu
dulden, da sie die Nutzung seines Grundstücks so sehr beeinträchtigen, daß sie
unzumutbar sind.
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Im Vordergrund der Beurteilung steht dabei weniger die Dauer und die Lautstärke als
vielmehr die Art der Geräusche, denen der Kläger ausgesetzt ist. Von der
Rechtsprechung ist seit jeher anerkannt, daß das letztlich entscheidende Kriterium für
die Wesentlichkeit einer Geräuschimmission deren Lästigkeit ist, wobei es sich um
einen Faktor handelt, der nicht klar zu definieren und noch weniger zahlenmäßig zu
erfassen ist (BGHZ 46, 45, 38; NJW 1983, 751; 1992, 2019; BVerwGE 88, 143, 149;
NJW 1989, 1291, 1292). Bei den Lauten, die die geistig schwerbehinderten
Heimbewohner von sich geben, ist der "Lästigkeitsfaktor" besonders hoch. So
empfindet nach Auffassung des Senats nicht nur der "normale" Durchschnittsmensch,
der sich leicht von Vorurteilen leiten läßt, sondern auch der "verständige" Bürger (und
Nachbar), dessen Haltung gegenüber Behinderten nicht von falschem
Wertigkeitsdenken, sondern von Mitmenschlichkeit und Toleranz geprägt ist. Es ist
eine Eigenart des menschlichen Gehörs, daß es auf ungewohnte, auffällige Geräusche
mit besonderer Aufmerksamkeit und Empfindlichkeit reagiert (vgl. OLG Hamm, DWW
1989, 257, 260; OLG Köln, 12. Zivilsenat, VersR 1993, 1242). Daß die erzwungene
Wahrnehmung solcher Geräusche als unangenehm und störend empfunden wird,
beruht auf einem weitgehend reflexartigen Verhalten, das auch für einen um Toleranz
bemühten "verständigen" Menschen nur begrenzt beherrschbar ist.
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Entgegen der Auffassung des Beklagten kann für die Beurteilung der Lästigkeit nicht
maßgebend sein, wie die Äußerungen der Heimbewohner von den sie betreuenden
Aufsichtspersonen empfunden werden. Die in den Außenwohngruppen tätigen
Mitarbeiter des Beklagten verfügen aufgrund ihrer Ausbildung über heilpädagogische
und psychologische Kenntnisse, die es ihnen jedenfalls in begrenztem Umfang
ermöglichen, die Äußerungen der Behinderten als Ausdruck bestimmter Gedanken
und Empfindungen zu "verstehen". Sie haben zu den Behinderten auch den
unmittelbaren persönlichen Kontakt, der ein wichtiges Mittel ist, emotionale
Abwehrhaltungen abzubauen oder erst gar nicht entstehen zu lassen. Im übrigen
gehört der Umgang mit den Behinderven zu ihrem Beruf, für den sie sich freiwillig
entschieden haben. Bei den Nachbarn sind diese Voraussetzungen allesamt nicht
gegeben.
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Die Vernehmung der Zeugen hat exemplarisch gezeigt, wie unterschiedlich die
Äußerungen der Heimbewohner von ihren Betreuern einerseits und den Nachbarn
andererseits wahrgenommen werden. Eine gewisse Übereinstimmung bestand nur
insoweit, als die Laute von Zeugen beider Gruppen als "anders" (Zeugin, Zeugin)
beziehungsweise "andersartig" (Zeugin) beurteilt wurden. Große Divergenzen zeigten
sich dagegen bei der Bewertung der Lästigkeit. Allerdings zeugten die Aussagen der
Betreuerinnen in diesem Punkt durchaus von Problembewußtsein. Wie man die Laute
der Behinderten empfinde, sei eine "relative" Sache (Zeugin), sei eine Frage der
"Gewöhnung" und der "Toleranz" (Zeugin). Demgegenüber hat die beim Kläger
beschäftigte Zeugin gemeint, sie könne sich nicht vorstellen, daß man sich an die
Geräusche jemals gewöhnen könne. Wesentlich drastischer waren die
Einschätzungen der anderen Nachbarn. Für die auf der anderen Seite an das
Grundstück des Beklagten grenzenden Nachbarn war die "Brüllerei" (Zeuge) Anlaß,
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ihr Haus in der unmittelbaren Nachbarschaft der Behinderten zu verlassen und in ein
weiter hinten auf dem Grundstück gelegenes Wohnhaus umzuziehen, weil es "nicht
auszuhalten" war (Zeugen). Der Nachbar des Klägers auf der dem Grundstück des
Beklagten gegenüberliegenden Seite hat ausgesagt, daß die Laute auch auf seinem
Grundstück trotz der größeren Entfernung noch gut zu hören seien, daß er aber froh
sei, nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft zu wohnen, weil er dann "selber in der
Psychiatrie gelandet wäre" (Zeuge).
Der Senat ist sich bewußt, daß die zitierten Äußerungen die gebotene Toleranz
teilweise vermissen lassen. Sie verdeutlichen aber auch, in welchem Maße die
Situation auf dem Grundstück des Beklagten von den Nachbarn als Beeinträchtigung
ihrer Lebensqualität empfunden wird. Jedenfalls erhärten sie den bereits aus dem
Abspielen der Tonbänder gewonnenen Eindruck, daß dem Kläger die Fortsetzung der
Lärmeinwirkungen in dem bisherigen Umfang nicht zumutbar ist.
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Die Wesentlichkeit der Beeinträchtigungen wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß
die Grundstücke der Parteien bauplanungsrechtlich im Mischgebiet liegen und in
einem solchen, ebenso wie in Wohngebieten (§ 3 Abs. 2, 4, § 4 Abs. 2 Nr. 1, 3
BauNVO; OVG Münster NJW 1986, 3157 f.), Behindertenheime planungsrechtlich
zulässig sind. Die baurechtlichen Vorschriften sind für die Zulässigkeit von
Bauvorhaben maßgebend, bestimmen aber nicht, daß alle von verwirklichten
Vorhaben auf die Nachbarschaft ausgehenden Beeinträchtigungen i. S. des § 906
BGB unwesentlich sind. Es kann auch keine Rede davon sein, daß die öffentlich-
rechtliche Zulässigkeit eines Behindertenheims zivilrechtlich durch den hier in Rede
stehenden Abwehranspruch gemäß §§ 906, 1004 BGB praktisch untergraben wird. Es
besteht nämlich kein vernünftiger Zweifel daran, daß der Beklagte das
heilpädagogische Heim auch unter Beachtung der Einschränkungen, die ihm durch
dieses Senatsurteil auferlegt werden, zweckentsprechend und sinnvoll betreiben kann.
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Die Lage im Mischgebiet erhöht die Wesentlichkeitsgrenze für seine Bewohner
insbesondere im Hinblick auf "Gewerbelärm". Mischgebiete dienen dem Wohnen und
der Unterbringung von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören (§
6 Abs. 1 BauNVO; zur Berücksichtigung des Gebietscharakters vgl. auch BGHZ 121,
248 ff.; 122, 76 ff.; BGH NJW 1995, 1823 ff.). Abgesehen davon, daß es im Streitfall
nicht um "Gewerbelärm" geht, steht nach dem Beweisergebnis fest, daß die
Störungen, denen der Kläger bisher ausgesetzt war, über das hinausgehen, was ihm
auch unter Berücksichtigung des Mischgebietscharakters zumutbar ist.
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3. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, daß die Lärmeinwirkungen in vollem
Umfang unterbleiben. Der Beklagte hat sie nur zeitlich so zu beschränken, daß die in
der Vergangenheit überschrittene Grenze zur Wesentlichkeit im Sinne des § 906 Abs.
1 BGB in Zukunft eingehalten wird.
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Dieses Ziel wird durch die im Urteilstenor näher festgelegten Ruhezeiten erreicht. Auf
die Nutzung seines Gartens und seiner Terrasse ist der Kläger am stärksten sonntags
und an den gesetzlichen Feiertagen angewiesen. An diesen Tagen sollen deshalb
Störungen schon ab 12:30 Uhr unterbleiben. An zwei weiteren Tagen, nämlich
mittwochs und samstags, soll ihm jedenfalls ab 15:30 Uhr ein störungsfreier Aufenthalt
im Freien ermöglicht werden. An den restlichen Wochentagen soll der Beklagte eine
abendliche Ruhezeit einhalten, die um 18:30 Uhr beginnt. Die abendliche
Einschränkung bedeutet für die Heimbewohner keine einschneidende Änderung, da
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sie sich, wie die Vernehmung der Betreuerinnen ergeben hat, um diese Zeit ohnehin
zum Essen in das Haus zurückziehen und danach, von wenigen Ausnahmen
abgesehen, nicht mehr in den Garten zurückkehren.
Insgesamt gilt die Regelung nur für die Jahreszeit vom 1. April bis zum 31. Oktober. In
der übrigen Jahreszeit kommen Störungen nach den eigenen Angaben des Klägers
praktisch nicht vor, da sich die Heimbewohner im Hause aufhalten. Mangels einer
Beeinträchtigung steht dem Kläger insoweit auch kein Abwehranspruch zu.
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Ausgenommen hat der Senat bei der Tenorierung auch die angeblich "durch
Trommeln mit irgendwelchen Gegenständen verursachten Geräusche". Solche
Geräusche sind auf den Bändern nicht zu hören gewesen und auch von den Zeugen
mit Ausnahme der Ehefrau des Klägers nicht bestätigt worden, wobei auch diese die
Art der Geräusche nicht näher zu beschreiben vermocht hat. Insoweit war die Klage
abzuweisen.
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Die sonstigen Abweichungen des Urteilstenors von dem in der Berufungsinstanz
gestellten Klageantrag dienen allein der sprachlichen Klarstellung. Eine inhaltliche
Einschränkung oder Abänderung des Klageanspruchs stellen sie nicht dar.
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Zur Klarstellung weist der Senat ferner darauf hin, daß dem Beklagten keine
Unterlassungspflicht in bezug auf die Nutzung des Gartens auferlegt wird. Den
Heimbewohnern soll der Aufenthalt im Garten auch in Zukunft grundsätzlich
ungehindert möglich sein. Während der angeordneten Ruhezeiten sollen nur die im
Urteilstenor näher bezeichneten Störungen unterbleiben. Die Wahl der dazu
geeigneten Mittel bleibt dem Beklagten beziehungsweise dem Betreuungspersonal
überlassen. Es genügt, wenn das Personal tätig wird, sobald störende Laute
vernehmbar werden. Die Zeitspannen, die das Personal benötigt, um den oder die
auffällig gewordenen Heimbewohner zu beruhigen oder ins Haus zu holen, stellen
eine nur unwesentliche Beeinträchtigung dar, die der Kläger hinzunehmen hat.
31
III.
32
Hinsichtlich der behaupteten optischen Beeinträchtigungen steht dem Kläger kein
Unterlassungsanspruch zu.
33
Der Kläger hat nicht bestritten, daß sein Garten im hinteren Bereich durch bis zu 5 Meter
hohe Tannenbäume, die dicht zusammengewachsen sind, gegen das Grundstück des
Beklagten abgeschirmt ist. Unstreitig ist ferner, daß im vorderen Bereich ein Zaun mit
"blickdichten" Schilfmatten in einer Höhe von 2 bis 2,5 Meter vorhanden ist. Eine Sicht
in den Garten des Nachbargrundstücks, wo es zu geschlechtsbezogenen Handlungen
der Heimbewohner gekommen sein soll, ist demnach überhaupt nur von einem Fenster
des Obergeschosses aus möglich. Unter diesen Umständen ist eine nennenswerte
"optische" Beeinträchtigung schon wegen der beschränkten Sichtmöglichkeiten zu
verneinen.
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Im übrigen hat der Kläger für die von ihm behaupteten Handlungen der Heimbewohner
keinen ausreichenden Beweis angetreten. Das von ihm aufgenommene Videoband
kann aus Rechtsgründen nicht als Beweismittel zugelassen werden. Es enthält nach
den eigenen Angaben des Klägers Aufzeichnungen von geschlechtsbezogenen
Handlungen der Heimbewohner. Die Aufnahme und Wiedergabe solcher Bilder verletzt
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die Betroffenen in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Dabei spielt es keine Rolle,
daß die abgebildeten Handlungen im Freien, nämlich im Garten, vollzogen wurden. Ein
wirksamer Verzicht auf den Schutz der Intimsphäre kommt bei den geistig behinderten
Heimbewohnern nicht in Betracht. Aufgrund ihres geschlechtsbezogenen Charakters
gehören die dargestellten Handlungen zum absolut geschützten Kernbereich der
privaten Lebensgestaltung, in dem eine Interessenabwägung nicht stattzufinden hat
(BGH NJW 1988, 1016, 1017). Eine Verwertung des Videobandes ist daher schon vom
Landgericht mit Recht abgelehnt worden.
IV.
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Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die hilfsweise geltend gemachte
Geldentschädigung.
37
Da der Kläger mit seinem Hauptantrag teilweise obsiegt, ist schon fraglich, ob der
Hilfsantrag überhaupt zur Entscheidung gestellt ist. Im Ergebnis kommt es darauf nicht
weiter an, da der Anspruch jedenfalls nicht begründet ist. Eine Entschädigung nach §
906 Abs. 2 Satz 2 BGB setzt voraus, daß der Eigentümer eine wesentliche
Beeinträchtigung seines Grundstücks zu dulden hat, die ortsüblich ist und durch
wirtschaftlich zumutbare Maßnahmen nicht verhindert werden kann (§ 906 Abs. 2 Satz 1
BGB). An dieser Voraussetzung fehlt es hier. Soweit der Kläger mit dem Hauptantrag
unterlegen ist, ergibt sich seine Duldungspflicht unmittelbar aus § 906 Abs. 1 BGB, weil
die Beeinträchtigung nicht wesentlich ist. Für diesen Fall sieht das Gesetz eine
Entschädigung nicht vor.
38
V.
39
Es besteht kein Anlaß, die Revision zuzulassen. Um eine Rechtssache von
grundsätzlicher Bedeutung handelt es sich nicht; auch weicht das Urteil nicht von einer
höchstrichterlichen Entscheidung ab (§ 546 Abs. 1 Satz 2 ZPO).
40
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 ZPO.
41
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10 ZPO.
42
Berufungsstreitwert und Wert der Beschwer: 20.000,00 DM.
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