Urteil des OLG Köln vom 19.09.2005
OLG Köln: faires verfahren, untersuchungshaft, rücknahme, einfluss, entlassung, heimat, konkretisierung, rechtsstaatsprinzip, mittäter, bewährung
Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 443-444/05
Datum:
19.09.2005
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 443-444/05
Schlagworte:
Rücknahme Pflichtverteidigerbestellung
Normen:
StPO § 140
Tenor:
Die Beschwerde wird auf Kosten der Verurteilten verworfen.
G r ü n d e :
1
I.
2
Die Beschwerdeführer sind durch Urteil des Jugendschöffengerichts Leverkusen vom
18.01.2005 zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe von 6 Monaten wegen
gemeinschaftlichen Diebstahls in 7 Fällen - an denen noch zwei weitere Täter beteiligt
waren - verurteilt worden, gegen das sie Berufung eingelegt haben, die der
Beschwerdeführer S. auf das Strafmaß beschränkt hat. Beide Beschwerdeführer hatten
sich aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Leverkusen vom 27.10.2004 - 50 Gs 813
und 814/04 - ab dem 27.10.2004 bis zur Hauptverhandlung 1. Instanz in
Untersuchungshaft befunden. Auf bei Anklageerhebung am 08.11.2004 gestellten
Antrag der Staatsanwaltschaft wurden den Beschwerdeführern durch Beschluss des
Vorsitzenden des Jugendschöffengerichts vom 06.12.2004 Rechtsanwalt H. bzw.
Rechtsanwältin A. zu Pflichtverteidigern bestellt.
3
Durch den angefochtenen Beschluss hat die Vorsitzende des Berufungsgerichts die
Pflichtverteidigerbestellungen zurückgenommen. Dagegen richten sich die von den
Verurteilten eingelegten Rechtsmittel. Auf Veranlassung des Senats ist seitens der
Verteidiger mitgeteilt worden, dass zu den Beschwerdeführern kein Kontakt bestehe und
auch eine Anschrift der Beschwerdeführer - die zur Berufungsverhandlung durch
öffentliche Zustellung geladen worden sind - nicht bekannt sei.
4
II.
5
Bei den Rechtsmitteln handelt es sich um nach § 304 StPO zulässige Beschwerden, die
nicht begründet sind.
6
Die Rücknahme der Pflichtverteidigerbestellungen ist im Ergebnis gerechtfertigt.
7
Den Beschwerdeführern ist allerdings darin beizupflichten, dass die Rücknahme der
Pflichtverteidigerbestellungen nicht auf § 140 Abs. 3 Satz 1 StPO gestützt werden kann,
weil kein Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vorgelegen hatte.
Keiner der beiden Beschwerdeführer hatte sich bei Bestellung der Verteidiger bereits
seit 3 Monaten in Untersuchungshaft befunden. Die Staatsanwaltschaft hatte ihren
Antrag auf Bestellung eines Verteidigers hierauf auch nicht gestützt. Ein Fall
notwendiger Verteidigung war nach § 68 Nr. 4 JGG lediglich für den seinerzeit ebenfalls
in Untersuchungshaft befindlichen, damals noch minderjährigen Mittäter N. L. gegeben,
der gegen seine Verurteilung ebenfalls Berufung eingelegt, die Rücknahme der
Pflichtverteidigerbestellung indes nicht angefochten hat.
8
Ob ein Fall notwendiger Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO (i.V.m. §§ 109,68 JGG)
vorgelegen hat, wovon das Jugendschöffengericht in Ermangelung anderer
Anhaltspunkte ausgegangen sein dürfte und wie die Beschwerdeführer mit
umfangreicher Begründung geltend machen, kann hier dahinstehen.
9
Die Bestellung eines Verteidigers nach § 140 StPO gilt allerdings grundsätzlich für das
gesamte Verfahren bis zur Rechtskraft, also auch für Rechtsmittelverfahren. Ist - wie hier
- die Frage der Notwendigkeit der Mitwirkung eines Verteidigers von dem
erstinstanzlichen Gericht zu Gunsten des Beschuldigten bejaht worden, muß es -
abgesehen vom Sonderfall des § 140 Abs. 3 Satz 1 StPO - aus Gründen des
Vertrauensschutzes bei der einmal erfolgten Pflichtverteidigerbestellung verbleiben.
Liegen nach Auffassung des Berufungsgerichts die Voraussetzungen für die
Notwendigkeit der Mitwirkung eines Verteidigers nicht vor, rechtfertigt das allein die
Zurücknahme nicht.
10
Etwas anderes kann aber gelten, wenn sich die Sach- und Rechtslage gegenüber dem
Verfahrensstand, der die Grundlage für die Verteidigerbestellung bildete, wesentlich
verändert hat (vgl. OLGe Düsseldorf StV 95,117; Stuttgart StV 01,329; Meyer-Goßner,
StPO, 48.A., § 140 Rn 34; KK-Laufhütte, StPO , 5.Aufl., § 140 Rn 26, je m.w.N.) .
11
Von einer wesentlichen Änderung der Umstände ist hier indes auszugehen.
12
Die Bestimmung des § 140 StPO stellt eine Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips
dar. Sie soll eine "konkrete und wirkliche" Verteidigung gewährleisten und den
Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren sichern. Dem Beschuldigten muss
die Möglichkeit geben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das
Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 140 Rn 1;
KK- Laufhütte, a.a.O., § 140 Rn 1).
13
Wie schon das Landgericht konnte der Senat bereits bei Beschlussfassung davon
ausgehen, dass die Beschwerdeführer am Ausgang des Verfahrens kein erkennbares
Interesse mehr hatten. Sie sind mutmaßlich alsbald nach der Entlassung aus der
Untersuchungshaft in ihre Heimat zurückgekehrt, ohne für das Gericht und auch ihre
Verteidiger, zu denen keinerlei Kontakt besteht, erreichbar zu sein. Durch ihr damit
vorprogrammiertes Ausbleiben in der Hauptverhandlung haben sie sich der Möglichkeit,
auf das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen, begeben. Ihr Rechtsmittel ist gem.
§ 329 Abs. 1 StPO - der auch im Verfahren gegen Heranwachsende Anwendung findet -
ohne Verhandlung zur Sache verworfen worden, wobei hier die Anwesenheit eines
Pflichtverteidigers hieran nichts zu ändern vermochte. Der Anspruch des Beschuldigten
auf ein faires Verfahren setzt jedenfalls bei einer Verfahrenslage, wie sie hier gegeben
14
ist, voraus, dass bei dem Beschuldigten auch die wirkliche Bereitschaft zur Verteidigung
gegen das Urteil besteht. Ist das nicht der Fall, gebietet es das Rechtsstaatsprinzip
nicht, die Pflichtverteidigerbestellung aufrechtzuerhalten. Ein schutzwürdiges Vertrauen
auf den Fortbestand der Pflichtverteidigerbestellung ist im Hinblick auf das eigene
Verhalten der Beschwerdeführer hier nicht mehr gegeben; sie durfte daher
zurückgenommen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
15