Urteil des OLG Köln vom 06.03.2001

OLG Köln: lausanne, bundesamt für polizei, rechtliches gehör, rechtshilfe in strafsachen, wiedereinsetzung in den vorigen stand, wohnsitz in der schweiz, zustellung, untersuchungshaft, fair trial

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Schlagworte:
Normen:
Leitsätze:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, Ausl 186/00
06.03.2001
Oberlandesgericht Köln
2. Strafsenat
Beschluss
Ausl 186/00
Auslieferung; Schweiz; Abwesenheitsurteil; fingierte Zustellung
IRG § 73
Die weitreichenden Folgen der fingierten Ladung bzw. Zustellung
gerichtlicher Entscheidungen nach Art. 48 Cpp des Kantons Waadt
machen es unabdingbar, dass derjenige, der sich diesem Verfahren bei
gleichzeitiger Ausweisung unterwerfen muss, über dessen Folgen
unmissverständlich, das heißt vollständig und in einer ihm verständlichen
Sprache belehrt wird. Das grundsätzlich bestehende Recht der
Wiederaufnahme ("demande de relief") erweist sich bei der
Verfahrensweise nach Art. 48 Cpp des Kantons Waadt als stumpfes
Schwert, weil die alles entscheidende kurze Frist an die fingierte
Zustellung des Urteils anknüpft, nicht an die tatsächliche Kenntnisnahme
von der Verurteilung.
1.
Die Auslieferung der Verfolgten zur Strafvollstreckung der in dem Urteil
des Distriktsgerichts von Lausanne vom 17. Juni 1999 - PE 97.004355
CMI/EEC/DHO -gegen sie erkannten Freiheitsstrafe von 38 Monaten
abzüglich 84 Tagen Untersuchungshaft ist nicht zulässig.
2.
Der Auslieferungshaftbefehl gegen die Verfolgte - Senatsbeschluss vom
30. Juni 2000 - wird aufgehoben.
3.
Die Freigabe der von der Verfolgten aufgrund des
Verschonungsbeschlusses vom 16. Oktober 2000 erbrachten
Sicherheitsleistung wird angeordnet.
Gründe:
I.
Das schweizerische Bundesamt für Polizei - Eidgenössisches Justiz- und
Polizeidepartement - ersucht um die Auslieferung der Verfolgten zur Strafvollstreckung.
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Dem liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
1. Gang des Strafverfahrens in der Schweiz:
Die Verfolgte wurde am 11. Februar 1997 im Schweizer Kanton X unter dem Verdacht des
Bandendiebstahls, begangen zwischen November 1996 und Februar 1997, in
Untersuchungshaft genommen. Bei der Verkündung des Haftbefehls legte sie - ihrer
eigenen Darstellung zufolge - vor dem Untersuchungsrichter ein Geständnis ab, von dem
sie indes zwischenzeitlich abgerückt ist.
Am 5. Mai 1997 wurde sie vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft gegen
Sicherheitsleistung in Höhe von 10.000,- Schweizer Franken verschont und nach
Deutschland abgeschoben. Dabei wurde ihr ein Einreiseverbot für die Schweiz erteilt. Ob
und ggf. in welcher Weise die Verfolgte anlässlich ihrer "fremdenpolizeilichen
Ausschaffung" über weitere Folgen der Ausweisung belehrt worden ist, hat sich nicht
feststellen lassen.
Die Verfolgte wurde während der Dauer der Untersuchungshaft von Rechtsanwältin M aus
C vertreten.
Nach ihrer Ausreise aus der Schweiz hielt sie sich unter wechselnden Adressen in Köln
und Hamburg auf, war dabei jedoch stets ordnungsgemäß gemeldet.
Mit Beschluss vom 19. Januar 1998 verwies der Untersuchungsrichter des Bezirks
Lausanne/Kanton X (Juge d'instruction de l'arrondissement des Lausanne) das Verfahren
gegen die Verfolgte und drei Mitbeschuldigte nach Abschluss seiner Ermittlungen an das
Strafgericht des Bezirks Lausanne. Der Verfolgten wurden darin 17 Fälle des
Bandendiebstahls und gewerbsmäßigen Diebstahls im Sinne des Art.139 Nr.1,2,3 Abs.2
des schweizerischen StGB (Fälle 2, 4 bis 10, 12 bis 20), ein Fall des Bandendiebstahls im
Sinne des Art.140 Nr.1, 3 Abs.2 schweiz. StGB (Fall 11) sowie versuchter Bandendiebstahl
im Sinne der Art. 140 Nr.1, 3 Abs.2, Art.21 Abs.1 schweiz. StGB in einem weiteren Fall (Fall
15)zur Last gelegt.
Am 17. Juni 1999 führte das Distriktsgericht von Lausanne- PE 97.004355 CMI/EEC/DHO -
die Hauptverhandlung durch. Im Protokoll der Hauptverhandlung wurde vermerkt, dass die
Beschuldigte, die - ebenso wie die Mitbeschuldigten - nicht erschienen war,
"ordnungsgemäß über die diplomatischen Wege geladen" worden sei. Als Wohnanschrift
der Verfolgten wird im Urteil die Adresse "T-Str. 8 in Köln" angegeben. Dort wohnte die
Verfolgte zu dieser Zeit nicht.
Die Verfolgte war in der Hauptverhandlung auch nicht anwaltlich vertreten, Rechtsanwältin
M hatte das Mandat zuvor niedergelegt.
Die Beweisaufnahme erfolgte durch Auswertung der Akten. Das Gericht sah die im
Beschluss des Ermittlungsrichters beschriebenen Taten als erwiesen an - der Beschluss
wurde dem Urteil "als wesentlichen Bestandteil beigelegt" - und verurteilte die Verfolgte
nach zwanzigminütiger Hauptverhandlung in Abwesenheit wegen banden- und
gewerbsmäßigen Diebstahls, Bandendiebstahls und versuchten Diebstahls sowie
Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von 38 Monaten abzüglich 84 Tagen
Untersuchungshaft.
Am 29. Oktober 1999 beantragte Rechtsanwältin M u.a. für die Verfolgte ein
Wiederaufnahmeverfahren nach dem Recht des Kantons X (sog. "Démande de relief"). Der
Antrag wurde vom Distriktgericht von Lausanne am 26. November 1999 als unzulässig
zurückgewiesen.
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Das Gericht hielt Rechtsanwältin M schon nicht für ordnungsgemäß zur Stellung eines
Wiederaufnahmeantrags bevollmächtigt, weil die vorgelegten Vollmachten "nicht den
gesetzlichen Vorschriften entsprochen" hätten.
Es erachtete den Antrag aber auch als verspätet. Denn die Verfolgte habe bei ihrer
Ausreise aus der Schweiz die Geschäftsstelle des Strafgerichts als Zustellungsadresse
"gewählt", das angegriffene Urteil sei ihr auf diese Weise am 17. Juni 1999 in der Schweiz
zugestellt worden. Damit sei die 20-Tages-Frist für den Antrag auf Wiederaufnahme in
Gang gesetzt worden. Diese Frist sei mithin am 29. Oktober 1999 abgelaufen gewesen.
Gegen diese Entscheidung ist ein Rechtsmittel nicht eingelegt worden.
Nachdem die Verfolgte - nach ihrer Darstellung - Anfang des Jahres 2000 erfahren hatte,
dass ein Urteil gegen sie ergangen war, ließ sie durch Rechtsanwalt N aus Hamburg
Erkundigungen einholen. Dieser beauftragte, nachdem ihm das Urteil in französischer
Sprache übersandt worden war, den Schweizer Rechtsanwalt O mit der Durchführung
eines Wiederaufnahmeverfahrens.
Der entsprechende Antrag vom 10. Juli 2000 wurde am 9. August 2000 durch Beschluss
des Präsidenten des Distriktsgerichts von Lausanne als verspätet und unbegründet
abgelehnt. Zur Begründung heißt es, der Untersuchungsrichter habe die Antragstellerin auf
Art. 48 Cpp aufmerksam gemacht, diese habe die Geschäftstelle des Gerichts als
Zustellungsanschrift gewählt. Da die Verurteilte gewusst habe, dass sie Gegenstand eines
Strafverfahrens war, habe sie dafür Sorge zu tragen gehabt, eventuelle Ladungen und
Urteile zur Kenntnis zu nehmen. Die Zustellung des Strafurteils sei deshalb
ordnungsgemäß gewesen.
Der von der Verfolgten gegen diesen Beschluss eingelegte Einspruch wurde durch Urteil
des Strafkassationsgerichts des Kantons X vom 14. September 2000 verworfen.
Das Gericht ging davon aus, dass es sich bei dem Gesuch vom 10. Juli 2000 um ein - nur
unter bestimmten Voraussetzungen zulässiges - zweites Wiederaufnahmegesuch
gehandelt habe, das zu Recht zurückgewiesen worden sei. Die Verurteilte könne nicht
damit gehört werden, Rechtsanwältin M habe keine Vollmacht zur Durchführung des ersten
Wiederaufnahmeverfahrens gehabt. Die Rechtsanwältin habe bei Gericht eine
entsprechende Vollmacht mit der handschriftlichen Unterschrift der Verfolgten vorgelegt.
Diese Vollmacht sei auch nicht deshalb ungültig, weil sie nicht datiert sei. Denn sie gelte
ausdrücklich für das "Strafverfahren/Wiederaufnahmeverfahren". Mit den von der
Beschwerdeführerin aufgeworfenen Fragen betreffend die Zustellungsanschrift und der
Zustellung des Urteils habe sich das Gericht nicht mehr zu befassen. Nachdem gegen die
Entscheidung vom 26. November 1999 keine Nichtigkeitsklage erhoben worden sei, diese
Entscheidung daher endgültig und vollstreckbar sei und als rechtskräftig gelte, sei dieses
Vorbringen im Rahmen des Einspruchs verspätet und unzulässig.
2. Der Gang des Auslieferungsverfahrens:
Die Verfolgte ist am 20. Juni 2000 aufgrund einer Ausschreibung von Interpol Bern in Köln
festgenommen worden. Sie hatte sich der Festnahme zunächst durch Flucht entzogen. In
der richterlichen Anhörung vom 21. Juni 2000 hat sie sich mit der Auslieferung an die
Schweiz nicht einverstanden erklärt.
Der Senat hat mit Beschluss vom 30. Juni 2000 gegen die Verfolgte die vorläufige
Auslieferungshaft angeordnet.
Das schweizerische Bundesamt für Polizei - Eidgenössisches Justiz- und
Polizeidepartement - in Bern hat mit Schreiben vom 30. Juni 2000 - B 75820 BL/Rus - um
die Auslieferung der Verfolgten zur Strafvollstreckung des durch das (Abwesenheits-)Urteil
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des Distriktsgerichts von Lausanne vom 17. Juni 1999 - PE 97.004355 CMI/EEC/DHO -
wegen banden- und gewerbsmäßigen Diebstahls, Bandendiebstahls und versuchten
Diebstahls sowie Sachbeschädigung gegen sie erkannten Freiheitsstrafe von 38 Monaten
abzüglich 84 Tagen Untersuchungshaft ersucht und dem Ersuchen beigefügt:
eine Ausfertigung des Beschlusses des Untersuchungsrichters des Bezirks Lausanne
(Juge d'instruction de l'arrondissement de Lausanne) vom 19. Januar 1998, in dem die der
Verfolgten zur Last gelegten Taten im einzelnen dargestellt sind und durch den das
Verfahren gegen die Verfolgte und mehrere Mitbeschuldigte an das Strafgericht des
Bezirks Lausanne verwiesen worden ist,
eine Ausfertigung des in Abwesenheit der Verfolgten ergangenen Urteils des
Distriktgerichts von Lausanne (Tribunal du district de Lausanne) vom 17. Juni 1999 nebst
dem Protokoll der vorausgegangenen Hauptverhandlung,
eine Ausfertigung der Entscheidung des Distriktsgerichts von Lausanne über den von
Rechtsanwältin M im Namen der Verfolgten gestellten Wiederaufnahmeantrag vom 26.
November 1999,
eine Liste der anzuwendenden Vorschriften des schweizerischen Strafgesetzbuches und
der Strafprozessordnung.
Mit Beschluss vom 27. Juli 2000 hat der Senat, der bis zu diesem Zeitpunkt aufgrund der
vorgelegten Unterlagen davon ausgegangen ist, die Verfolgte sei von dem am 17. Juni
2000 anstehenden Hauptverhandlungstermin vor dem Strafgericht durch Ladung "auf
diplomatischem Wege" unterrichtet worden, die Fortdauer der Auslieferungshaft
angeordnet, das Vorbringen der Verfolgten jedoch zum Anlass genommen, folgende
Fragen an die Schweizer Behörden zu richten:
"
War die Verfolgte im Anschluss an die Verschonung von der Untersuchungshaft im
Mai 1997 flüchtig oder war sie berechtigt oder sogar verpflichtet, die Schweiz zu verlassen?
In welcher Weise und wo ist die Verfolgte zur Hauptverhandlung vor dem Distriktgericht von
Lausanne (tribunal du district de Lausanne) vom 17. Juni 1999 geladen worden und in
welcher Weise ist gegebenenfalls der Zugang der Ladung nachgewiesen worden? Der
Senat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die im Urteil angegebene Anschrift
in Köln mit der im Zeitpunkt der Hauptverhandlung nach den hier vorliegenden Unterlagen
bestehenden Meldeanschrift in Hamburg nicht übereingestimmt hat.
Steht der Verfolgten trotz der Verwerfung des Wiederaufnahmeantrags als unzulässig im
"demande de relief"-Verfahren noch ein Rechtsbehelf zu, der ihr eine Überprüfung des
Urteils im Sinne von Kapitel III, Art.3 Abs.1 des zweiten Zusatzprotokolls zum EuAlÜbk
ermöglicht?"
Die Schweizer Behörden haben mit einem Schreiben vom 31. August 2000 erklärt, die
Verfolgte sei im Ermittlungsverfahren durch eine Rechtsanwältin vertreten gewesen und am
5. Mai 1998 "mit Eskorte" aus der Schweiz nach Deutschland abgeschoben worden. Zu
Ziff. 2 und 3 beschränkt sich die Auskunft auf die Wiederholung der bereits bekannten
Erklärungen, die frühere Angeklagte sei zur Hauptverhandlung am 17. Juni 1999
"ordnungsgemäß auf dem diplomatischen Wege geladen worden", das Urteil gelte als
sofort bekanntgemacht, da die Verfolgte das Strafgericht als Zustellungsadresse gewählt
habe.
Da diese Auskünfte eine abschließende Entscheidung nicht erlaubten, hat der Senat mit
Beschluss vom 2. Oktober 2000 die ihm zu diesem Zeitpunkt bedeutsam erscheinenden
Fragen konkretisiert und die Schweizer Behörden um beschleunigte Beantwortung ersucht:
"
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Unter welcher Anschrift ist die Verfolgte geladen worden?
An welchem Tag ist ihr die Ladung zugestellt worden?
Ist die Zustellung durch Übergabe der Ladung an die Verfolgte persönlich, durch Übergabe
an eine dritte, empfangsberechtigte Person oder durch Niederlegung erfolgt?"
Zusätzlich hat der Senat gebeten, folgende Unterlagen vorzulegen:
Den schriftlichen Nachweis darüber, dass die Zustellung der Ladung der Verfolgten
zur Hauptverhandlung vor dem Distriktgericht von Lausanne vom 17. Juni 1999 auf
diplomatischem Wege erfolgt ist (Zustellungsnachweis);
die Entscheidung, durch die die Verfolgte vom Vollzug der Untersuchungshaft in diesem
Verfahren verschont worden ist und aus der sich die ihr erteilten Auflagen und Weisungen
ergeben.
Nachdem trotz einer ausführlichen telefonischen Erörterung der Angelegenheit zwischen
der Vorsitzenden des Senats und einer Vertreterin der Schweizer Behörde am 10. Oktober
2000 eine Beantwortung der Fragen bis zum 16. Oktober 2000 nicht erfolgt war, hat der
Senat die Verfolgte mit Beschluss vom selben Tag gegen Sicherheitsleistung und mit
bestimmten Auflagen vom weiteren Vollzug der Auslieferungshaft verschont. Sie ist am
folgenden Tag aus der Haft entlassen worden und befindet sich seitdem auf freiem Fuß.
Mit Beschluss vom 14. November 2000 hat der Senat den Schweizer Behörden
Gelegenheit zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen bis zum 14. Dezember 2000
gegeben.
Am 6. Dezember 2000 ist ihm ein Anschreiben der Schweizer Behörden vom 17.
November 2000 vorgelegt worden, mit dem die Entscheidungen des Präsidenten des
Distriktgerichtes von Lausanne vom 9. August 2000 und des Strafkassationsgerichts des
Kantons X vom 14. September 2000 mit dem Hinweis darauf übermittelt worden, die
Verfolgte sei nicht, wie bisher vorgebracht, auf diplomatischem Wege geladen worden. Die
Ladung sei vielmehr an die Gerichtsstelle des Strafgerichts erfolgt, nachdem der
Untersuchungsrichter die Verfolgte auf das Verfahren nach Art. 48 Cpp hingewiesen habe
und sie sich hiermit einverstanden erklärt habe.
Der Senat hat diese Mitteilung zum Anlass genommen, die Schweizer Behörden mit
Beschluss vom 14. 12 2000 um ergänzende Auskunft zu folgenden
entscheidungserheblichen Fragen zu ersuchen:
"Wann, in welcher Weise - mündlich oder schriftlich - und von wem ist die Verfolgte
vor ihrer Abschiebung aus der Schweiz darauf hingewiesen worden, dass nach Art. 48 der
Strafprozessordnung des Kantons X bei Personen, die keinen Wohnsitz in der Schweiz
haben, die Gerichtsstelle als Wohnort gilt und Zustellungen und Ladungen dorthin
erfolgen?
Ist die Belehrung - ggf. über einen Dolmetscher - in deutscher Sprache erfolgt?
Hat die Verfolgte - ggf. in welcher Weise - bestätigt, diese Belehrung verstanden zu
haben?"
In einem in französischer Sprache verfassten Schreiben vom 27. Februar 2001, dessen
Übersetzung die Generalstaatsanwaltschaft veranlasst hat und das dem Senat mit der
Übersetzung in die deutsche Sprache am 2. März 2001 vorgelegt worden ist, haben die
Schweizer Behörden zu den aufgeworfenen Fragen folgende Stellungnahme abgegeben:
"J. K. wurde am 5. Mai 1997 mit dem Zug, mit Eskorte, von Lausanne aus mit Zielort
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C/Deutschland abgeschoben. Das Urteil vom 17. Juni 1999 gilt als ihr am Ende der
urteilsfindenden Sitzung vom 17. Juni 1999 bekanntgegeben. Im übrigen hat sie, wie es
Artikel 48 der Strafprozessordnung des Kantons W vorsieht, die Kanzlei des Strafgerichts
des Bezirks Lausanne als Zustellungsadresse gewählt. ...
Es erscheint offenkundig ("il paraît évident.."), dass die Cer Anwältin dieser
Verurteilten in der Lage war, ihr auf Deutsch den Tenor und die Tragweite dieser Verfahren
verständlich zu machen. Allerdings sind diese Informationen in Bezug auf das vorgenannte
Urteil nicht durch die Behörden des Kantons W ins Deutsche übersetzt worden.
In Anbetracht dessen erscheint es fraglich, ob davon ausgegangen werden kann ("Vu
ce qui précède, il est discutable de considérer..."), dass J. K. zu irgendeinem Zeitpunkt zu
bestätigen oder zu entkräften vermochte, den Inhalt des am 17. Juni 1999 gegen sie
verkündetet Urteils verstanden zu haben".
4. Das Vorbringen der Verfolgten:
Die Verfolgte bestreitet die ihr die in der Schweiz zur Last gelegten Taten.
Sie hält die Auslieferung für unzulässig und trägt vor, sie sei von den Schweizer Behörden
weder über die bevorstehende Hauptverhandlung unterrichtet worden, habe auch aus
anderen Quellen keine Kenntnis von der Durchführung der Hauptverhandlung gehabt, noch
sei ihr das Urteil zugestellt worden, obwohl sie für die Schweizer Behörden jederzeit
erreichbar gewesen wäre.
Sie habe die sie während der Untersuchungshaft vertretende Rechtsanwältin M so
verstanden, dass mit der Zahlung der Kaution von 10.000 sfr. und ihrer Erklärung
gegenüber den Haftbehörden die Sache insoweit erledigt sei, als sie zwar die Schweiz
eine Zeit lang nicht würde betreten dürfen, mit der Zahlung der 10.000 sfr. aber außer
Verfolgung gesetzt sei.
Sie sei weder im Hauptverfahren noch im (ersten) Wiederaufnahmeverfahren von
Rechtsanwältin M vertreten worden. Zwar habe sie auf Veranlassung des Ehemanns der in
der Schweiz verhafteten Mitbeschuldigten S. T. eine Vollmacht für Rechtsanwältin M
unterschrieben. Sie habe diese Vollmacht jedoch weder lesen oder ihre Bedeutung
erfassen können, da sie die französischen Sprache nicht beherrsche, noch habe sie diese
Vollmacht auf sich bezogen. Sie habe nach ihrer Haftentlassung weder mit Rechtsanwältin
M gesprochen noch Honorar gezahlt.
Zu den Umständen ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft und ihrer Ausweisung aus
der Schweiz hat die Verfolgte erklärt, ihr gegenüber sei "keine Mitteilung in einer ihr
verständlichen Sprache gemacht worden, irgendwelche Verpflichtungen gegenüber den
Gerichten in Lausanne wahrzunehmen."
Die Generalstaatsanwaltschaft legt dem Senat die Akten mit dem Antrag vor,
1.
Die Anordnung der Auslieferungshaft gegen die Verfolgte und den Beschluss
des Senats über die Aussetzung des Vollzuges der Auslieferungshaft aufzuheben,
2.
die Freigabe der von der Verfolgten erbrachten Sicherheit anzuordnen,
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die Auslieferung der Verfolgten aus Deutschland in die Schweiz zur
Strafvollstreckung der gegen sie durch Urteil des Distriktsgerichts von Lausanne vom 17.
Juni 1999 - PE 97.004355 CMI/EEC/DHO -erkannten Freiheitsstrafe von 38 Monaten
Untersuchungshaft für unzulässig zu erklären.
II.
Dem Antrag der Schweiz auf die Auslieferung der Verfolgten zur Vollstreckung der gegen
sie durch das Urteil des Strafgerichts von Lausanne vom 17. Juni 2000 verhängten Strafe
kann nicht entsprochen werden. Die Auslieferung ist unzulässig. Denn der Verfahrensgang,
den der Senat seiner Entscheidung aufgrund der ihm durch die Schweizer Behörden
erteilten Informationen zugrunde legen muss, genügt nicht dem völkerrechtlich
verbindlichen Mindeststandard.
1.
Zwar liegen die förmlichen Voraussetzungen für die begehrte Auslieferung insofern vor, als
die schweizerische Regierung förmlich um die Auslieferung des Verfolgten nachgesucht
und eine beglaubigte Abschrift des gegen sie ergangenen, den Haftbefehl ersetzenden
Urteils sowie eine Abschrift der nach schweizerischem Recht anwendbaren
Strafvorschriften beigefügt hat.
Das der Verfolgten zum Vorwurf gemachte Tatgeschehen erfüllt nach deutschem Recht
den Tatbestand des Bandendiebstahls, des gemeinschaftlichen Raubes und der
Sachbeschädigung, §§ 244; 249, 25 Abs.2; §§ 303,53 StGB.
Die Auslieferungsfähigkeit der Tat folgt aus Artikel 2 EuAlÜbk. Gründe, die der Zulässigkeit
einer Auslieferung nach den Artikeln 2 bis 10 EuAlÜbk entgegenstehen könnten, liegen
nicht vor.
2.
Die Auslieferung ist jedoch unzulässig, weil das gegen die Verfolgte in der Schweiz
geführte Verfahren dem völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard nicht genügt, den
die deutschen Gerichte über Art.25 GG im Auslieferungsverfahren zu beachten haben.
Die Verletzung dieses völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards liegt darin, dass die
Verfolgte weder über die Durchführung noch den Abschluss des sie betreffenden
Strafverfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war und ihr keine tatsächlich wirksame
Möglichkeit eröffnet ist, sich nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich
wirksam zu verteidigen
a)
Zwar begründet allein der Umstand, dass gegen die Verfolgte ein Abwesenheitsurteil
ergangen ist, für sich noch kein Auslieferungshindernis.
Grundsätzlich haben die deutschen Gerichte im Verfahren über die Zulässigkeit der
Auslieferung zur Strafvollstreckung davon auszugehen, dass das in dem ersuchenden
Staat gegen die jeweiligen Verfolgten ergangene Strafurteil auf rechtmäßige Weise
zustande gekommen ist. Denn die Bundesrepublik Deutschland ist mit zahlreichen Staaten
durch bilaterale und multilaterale Auslieferungsverträge verbunden und deshalb
grundsätzlich verpflichtet, einem Auslieferungsverlangen Folge zu leisten. Diese
völkerrechtliche Pflicht würde verletzt, wenn eine Auslieferung stets dann verweigert würde,
wenn das Verfahren im ersuchenden Staat nicht dem rechtstaatlichen oder auch
verfassungsrechtlichen Standard der Bundesrepublik Deutschland genügen würde.
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Nur wenn die der Auslieferung zugrunde liegenden Akte mit dem nach Art.25 GG in der
Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den
unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung nicht
vereinbar sind, dieser völkerrechtliche Mindeststandard im ersuchenden Staat also
unterschritten worden ist, hindert das Völkerrecht eine Versagung der Auslieferung nicht.
Anlass zu einer Prüfung des Verfahrensgangs auf diesen Mindeststandard besteht, wenn
ein ausländisches Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in
Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (vgl. BVerfG NJW 1991,1411 = NStZ 1991, 294 -
die Entscheidung betrifft ein Auslieferungsersuchen der Schweiz; BVerfGE 59, 280[282ff.] =
NJW 1982,1214; BVerfGE 63, 332[337] m.w.N. = NJW 1983,1726).
Nach deutschem Verfassungsrecht gehört es zu den elementaren Anforderungen des
Rechtsstaates, die insbesondere im Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht
(Art.103 Abs.1 GG) Ausprägung gefunden haben, dass niemand zum bloßen Gegenstand
eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden darf und dadurch zugleich
in seiner Menschenwürde (Art.1 Abs.1 GG) verletzt würde (vgl. BVerfG NJW 1991, 1411
m.w.N.). Daraus ergibt sich insbesondere für das Strafverfahren das zwingende Gebot,
dass der Beschuldigte im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten Regeln die
Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können muss, auf das Verfahren
einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern,
entlastende Umstände vorzutragen, deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung
und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen (BVerfG a.a.O; vgl. ferner
BVerfGE 41, 246 [249] = NJW 1976, 413; BVerfGE 46,202 [210] = NJW 1978, 151;
BVerfGE 54, 100 [116] = NJW 1980, 1943, BVerfG NJW 1983, 1726 [1727]; OLG Hamm
StV 1997, 364 [365] und 365 [366]; OLG Düsseldorf NJW 1987,2172; OLG Zweibrücken
MDR 1986, 874; OLG Karlsruhe NStZ 1983, 225; zum Verhältnis zu Art.6 III c MRK vgl.
OLG Köln, 1.Strafsenat, NStZ-RR 1999,112).
Der wesentliche Kern dieser Rechtsgewährleistungen gehört von Verfassungs wegen zum
unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung, wie auch zum
völkerrechtlichen Mindeststandard, der über Art. 25 GG einen Bestandteil des in der
Bundesrepublik Deutschland geltenden innerstaatlichen Rechts bildet (BVerfG NJW 1991,
1411 m.w.N.).
Eine Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des Verfolgten
ergangenen Strafurteils ist bei Anlegung dieser Maßstäbe danach unzulässig, wenn der
Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des
betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war, noch ihm eine tatsächlich
wirksame Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich
rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen (BVerfG - 2 BvR 369/88
v. 10.6.1988, abgedruckt in Eser/ Lagodny/ Wilkitzki, Die Rechtshilfe in Strafsachen, Nr.U
167; BVerfGE 63,332 [338] = NJW 1983,1726).
b)
Durch den Gang des Verfahrens gegen die Verfolgte, wie er dem Senat unterbreitet worden
ist, sind die sich aus diesen Grundsätzen ergebenden Mindestanforderungen nicht
gewahrt. Denn die Verfolgte hatte von der Durchführung der wesentlichen Abschnitte des
Strafverfahrens keine Kenntnis und konnte sich gegen die Vorwürfe deshalb nicht
verteidigen.
Zwar war ihr aufgrund der Festnahme und der gegen sie vollzogenen Untersuchungshaft
bekannt, dass in der Schweiz gegen sie ein Strafverfahren eingeleitet worden war.
Die Verfolgte wurde aber auch nach der Darstellung der Schweizer Behörden nicht darüber
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unterrichtet, dass der Untersuchungsrichter des Bezirks Lausanne das Verfahren an das
Strafgericht verwiesen hatte. Sie kannte weder den Inhalt des Beschlusses vom 19. Januar
1998 noch hatte sie auf die Ermittlungen Einfluss nehmen können. Sie hatte keine Kenntnis
von der Durchführung der Hauptverhandlung am 17. Juni 1999 in ihrer Abwesenheit und
konnte sich dementsprechend auch in dieser Hauptverhandlung zu den Feststellungen des
Untersuchungsrichters nicht äußern, die das Gericht der Verurteilung sodann ohne eigene
Beweisaufnahme zugrunde legte.
Soweit es im Protokoll der Hauptverhandlung heißt, die Verfolgte sei "ordnungsgemäß auf
diplomatischem Wege" geladen worden, hat diese Feststellung nach den dem Senat
vermittelten Erkenntnissen keine tatsächliche Grundlage.
Der Verfolgten wurde das gegen sie ergangene Urteil nicht in Deutschland zur Kenntnis
gebracht. Sie hat nach ihrem unwiderlegt gebliebenen Vorbringen auch nicht auf andere
Weise innerhalb der für die Wahrung ihrer Rechte maßgeblichen Frist tatsächlich von dem
Urteil Kenntnis erlangt. Auf die umstrittene Frage, ob es einer Kenntnisnahme auf
amtlichem Wege bedarf (vgl. zum Streitstand: Uhlig/Schaumburg/Lagodny, IRG, 2.Aufl., §
73 IRG Rdn.80), kommt es daher nicht an. Eine rein theoretische Möglichkeit der
Kenntniserlangung - etwa über die Mitbeschuldigten - reicht nicht aus
(Uhlig/Schaumburg/Lagodny, a.a.O., Rdn. 80 a).
Gleichwohl begann die Frist, innerhalb derer die Wiederaufnahme eines in Abwesenheit
geführten Verfahrens zu beantragen ist, mit der fingierten Zustellung an die Gerichtsstelle.
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand läuft deshalb leer, weil das "Einverständnis"
mit der Zustellung an Gerichtsstelle die Fristversäumnis nach dem Rechtsverständnis der
Schweizer Gerichte als selbstverschuldet erscheinen lässt.
Damit hatte die Verfolgte nach ihrer Ausweisung aus der Schweiz zu keinem Zeitpunkt die
tatsächliche Möglichkeit, auf das Verfahren Einfluss zu nehmen und sich gegen die
Vorwürfe wirksam zu verteidigen.
b)
Die fingierte Zustellung von Ladungen und gerichtlichen Entscheidungen nach Art. 48 Cpp
des Kantons X heilt den sich hieraus ergebenden schweren Verfahrensmangel -
ungeachtet grundsätzlicher Bedenken gegen diese Verfahrensweise - im Fall der
Verfolgten nicht, weil nicht festgestellt werden kann, dass die Verfolgte auf die
weitreichenden Folgen dieses Verfahrens in der gebotenen Weise belehrt worden ist.
Nach Art. 48 Cpp des Kantons X unterrichtet der Richter den Beschuldigten, der seinen
ständigen Wohnsitz nicht in der Schweiz hat, darüber, dass er einen Wohnsitz im Kanton X
begründen muss, weist ihn darauf hin, dass er sich andernfalls nicht auf Zustellungsmängel
berufen kann und dass in diesem Fall die Gerichtskanzlei als Zustellungsort gelten.
Für die Verfolgte, die im Anschluss an die Verschonung von der Untersuchungshaft
"fremdenpolizeilich ausgeschafft" wurde, bestand die Möglichkeit nicht, einen Wohnsitz im
Kanton X zu begründen.
Damit beschränkte sich die Regelung des Art.48 Cpp in ihrem Fall darauf, dass als
Zustellungsadresse die Gerichtskanzlei fingiert wurde. Davon, dass die Verfolgte die
Möglichkeit der Zustellung an die Gerichtsstelle "gewählt" habe, kann keine Rede sein.
Diese Wahl hatte die Verfolgte aufgrund der Ausweisung und des Einreiseverbots schon
tatsächlich nicht, im übrigen sieht das Gesetz nicht eine "Wahl" sondern eine Unterrichtung
des Betroffenen vor ("Le juge informe...").
Soweit Art.48 Cpp weiter vorsieht, dass - soweit möglich - Zustellungen ungeachtet dessen
auch mit der Post mitgeteilt werden, kommt es hierauf nicht an, weil von dieser Möglichkeit
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kein Gebrauch gemacht worden ist.
Die Möglichkeit des kantonalen Strafverfahrensrechts, einen Zustellungsort im Inland zu
fingieren allein mag einen ausländischen Beschuldigten noch nicht rechtlos stellen. Er
kann sich hierauf einstellen und sich die erforderlichen Kenntnisse vom Verfahrensgang
etwa durch die Einschaltung eines Anwalts verschaffen. Er wird nicht schon durch die
Existenz einer solchen Regelung zum "bloßen Objekt" staatlicher Strafverfolgung.
Die weitreichenden Folgen der fingierten Ladung bzw. Zustellung gerichtlicher
Entscheidungen nach Art.48 Cpp des Kantons X machen es jedoch unabdingbar, dass
derjenige, der sich diesem Verfahren bei gleichzeitiger Ausweisung unterwerfen muss,
über dessen Folgen unmissverständlich, das heißt vollständig und in einer ihm
verständlichen Sprache belehrt wird. Denn der Beschuldigte verzichtet de facto auf jede
weitere Benachrichtigung vom Verfahrensfortgang. Wer sich dem Verfahren unterwirft,
ohne ihre Bedeutung vollständig erfasst zu haben, läuft Gefahr, von diesem Zeitpunkt an
zum Objekt der staatlichen Strafverfolgung zu werden ohne die Möglichkeit, sich gegen die
Vorwürfe wirksam zu verteidigen oder auf das Verfahren Einfluss zu nehmen.
Von einer solchen Belehrung kann der Senat nicht ausgehen:
Die Verfolgte ist entweder polnische Staatsangehörige oder staatenlos. Sie ist nach ihrer
eigenen Einlassung der deutschen Sprache nur unzureichend, der französischen Sprache
gar nicht mächtig und über die näheren Umstände der Ausweisung nur in den Grundzügen
- Stellung einer Sicherheit, Ausreisegebot und Einreiseverbot - belehrt worden.
Diese Einlassung der Verfolgten ist nicht nur nicht widerlegt. Sie wird durch die Schweizer
Behörden weitgehend bestätigt. Auch in der abschließenden Stellungnahme wird schon
nicht vorgetragen, dass die Verfolgte überhaupt durch einen Richter oder die Schweizer
Behörden über die Bedeutung des Art.48 Cpp unterrichtet worden sei, geschweige denn in
einer ihr verständlichen Sprache. Erst eine solche Belehrung hätte sie aber in die Lage
versetzt, ihre Rechte im Strafverfahren wahrzunehmen oder durch einen Verteidiger
wahrnehmen zu lassen. Die Schweizer Behörden sind dabei offenbar davon ausgegangen,
die Belehrung der damals anwaltlich vertretenen Beschuldigten werde im Zweifel durch die
Verteidigerin erfolgen. Mindestens die erstmalige Belehrung über das Verfahren gegen
Abwesende musste indes aufgrund der gerichtlichen Fürsorgepflicht durch den
Untersuchungsrichter erfolgen, wie es im übrigen Art. 48 Cpp ausdrücklich vorsieht, und
konnte nicht der Aufmerksamkeit eines Verteidigers überlassen bleiben.
Lässt sich aber eine der Bedeutung der Verfahrensweise nach Art. 48 Cpp entsprechende
Belehrung nicht feststellen, so stellt sich der Fortgang des Verfahrens als eine Verletzung
des völkerrechtlichen Mindesstandards dar. Das Gebot, dass der Beschuldigte im Rahmen
der von der Verfahrensordnung aufgestellten Regeln die Möglichkeit haben und auch
tatsächlich ausüben können muss, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den
gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen, deren
umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung
zu erreichen (BVerfG a.a.O; vgl. ferner BVerfGE 41, 246 [249] = NJW 1976 413; BVerfGE
46,202 [210] = NJW 1978, 151; BVerfGE 54, 100 [116] = NJW 1980, 1943), ist nicht
gewahrt.
Als Folge der unterbliebenen Belehrung war der völkerrechtlich verbindliche Anspruch der
Verfolgten auf rechtliches Gehör weitgehend außer Kraft gesetzt.
d)
Die Nichteinhaltung des völkerrechtlich verbindlichen Mindesstandards wird nicht durch
andere Umstände ausgeglichen:
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aa)
Die Rechte der Verfolgten wurden nicht durch einen Verteidiger gewahrt.
Die Verfolgte war im Zeitpunkt der Hauptverhandlung nicht von einem Rechtsanwalt
vertreten. Rechtsanwältin M hatte das Mandat vor Beginn des Hauptverfahrens
niedergelegt.
Hierin unterscheidet sich der vorliegende Fall von dem durch das OLG München mit
Beschluss vom 14.12.1990 entschiedenen, im übrigen vergleichbaren Fall, in dem der
Beschuldigte anwaltlich vertreten war (abgedruckt in Eser/ Lagodny/ Wilkitzki, Die
Rechtshilfe in Strafsachen, U 192; vgl. für diese Fälle ferner: OLG Stuttgart, Beschluss v.5.
2.1990, abgedruckt in Eser/Lagodny/Wilkitzki, a.a.O. U 185).
Der Senat hat im übrigen nicht feststellen können, dass Rechtsanwältin M vom Abschluss
der Untersuchungen und die Verweisung des Verfahrens an das Bezirksgericht unterrichtet
worden wäre.
Eine Pflichtverteidigung sieht das Strafverfahrensrecht des Kantons X nach den dem Senat
zur Verfügung stehenden Erkenntnissen für den Fall der Verhandlung gegen einen
abwesenden Beschuldigten nicht vor. Jedenfalls ist hier für eine solche Verteidigung nicht
Sorge getragen worden.
bb)
Der schwerwiegende Eingriff in die Rechte der Verfolgten wird durch die Sicherungen zum
Schutz der von einem Abwesenheitsurteil betroffenen Beschuldigten nicht ausgeglichen.
Denn - ebenfalls als Folge der Verfahrensweise nach Art. 48 Cpp - sind die gesetzlich
vorgesehenen Rechtsbehelfe gegen Abwesenheitsurteile gescheitert:
Zwar sieht das Schweizer Strafverfahrensrecht in den Art.402 ff CPP die Möglichkeit der
Anfechtung von Abwesenheitsurteilen vor. Bei der Zustellung des Urteils in der Schweiz -
wie hier nach Art. 48 Cpp des Kantons X - gilt jedoch eine Anfechtungsfrist von 20 Tagen
(Art.404 Abs.1 CPP - bei Zustellung im Ausland: 3 Monate). Die kurze Frist bei der
"Zustellung" in der Schweiz kann von dem ausgewiesenen und anwaltlich nicht vertretenen
Verurteilten praktisch nicht eingehalten werden.
Dementsprechend ist der von Rechtsanwältin M angebrachte Antrag vom 19. Oktober 1999
als verspätet verworfen worden (Beschluss des Distriktgerichts von Lausanne vom 26.
November 1999).
Die Verwerfung dieses Antrags hatte weiter zur Folge, dass der Antrag, den Rechtsanwalt
O am 10. Juli 2000 stellte, nachdem die Verurteilte vom Urteil Kenntnis erlangt hatte, keine
Aussicht auf Erfolg hatte:
Es handelte sich zum einen um ein sogenanntes Zweites Wiederaufnahmeverfahren, an
dessen Zulässigkeit die Verfahrensordnung der Schweiz höhere Anforderungen stellt. Zum
anderen war die Verfolgte mit Einwendungen ausgeschlossen, die im "ersten"
Wiederaufnahmeverfahren hätten erhoben werden müssen. Wie sehr in den
Wiederaufnahmeverfahren einseitig hohe Anforderungen an die Verurteilte unter Hinweis
darauf gestellt wurden, dass diese die Geschäftsstelle des Gerichts als Zustelladresse
"gewählt" habe, wird in diesem Verfahren besonders deutlich. Hinzu kommt, dass in der
Entscheidung des Strafkassationsgerichts des Kantons X vom 14. September 2000 die
Rechtsanwältin M erteilte Vollmacht für das erste Wiederaufnahmeverfahren als
ausreichend angesehen wurde, während das erkennende Gericht die gesetzlichen
Vorschriften gerade als nicht eingehalten erachtet hatte und Rechtsanwältin M hierdurch
nachhaltig von der Einlegung eines Rechtsmittels abgehalten haben dürfte.
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Das grundsätzlich bestehende Recht der Wiederaufnahme ("démande de relief) erweist
sich damit bei der Verfahrensweise nach Art. 48 Cpp des Kantons X als stumpfes Schwert,
weil die alles entscheidende kurze Frist an die fingierte Zustellung des Urteils anknüpft,
nicht an die tatsächliche Kenntnisnahme von der Verurteilung.
Damit ist auch der völkerrechtlich anerkannte Grundsatz des "fair trial" in seinen
Grundlagen betroffen.
Inzwischen haben die Schweizer Behörden erklärt, dass das Urteil vom 17. Juni 1999
aufgrund des Beschlusses des Kassationsgerichtshofes am Kantonsgerichtshof des
Kantons X vom 14. September 2000 endgültig und vollstreckbar sei. Die der Verfolgten in
der Schweiz zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe sind damit ausgeschöpft.
Auch eine Erklärung i.S.d. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 des 2. Zusatzabkommmens zu EuAlÜbk ist
nicht abgegeben worden.
Damit steht der Verfolgten in der Schweiz kein Recht auf ein neues Gerichtsverfahren mehr
zu, in dem die Rechte der Verteidigung gewahrt werden.
e)
Die Verfolgte ist schließlich auch schutzwürdig. Es liegen keine Umstände vor, die den
Verlust ihrer Rechte selbstverschuldet erscheinen lassen:
Sie war nicht flüchtig, sondern durch behördliche Anordnung aus der Schweiz ausgeschafft
und mit einem Einreiseverbot belegt. Anders als derjenige, der sich einem Verfahren durch
Flucht entzieht, damit zugleich bewusst das Risiko eingeht, vom weiteren
Verfahrensverlauf keine Kenntnis zu erhalten, sich also seiner Verteidigungsmöglichkeiten
bewusst begibt und deshalb nicht schutzwürdig ist (so zu Recht OLG Hamm StV 1997,365;
OLG Frankfurt NJW 1983, 1726) hatte die Verfolgte keine andere Möglichkeit als die, die
Schweiz zu verlassen. In der Bundesrepublik Deutschland war sie stets ordnungsgemäß
gemeldet und damit für Ladungen und Zustellungen jederzeit zu erreichen.
III.
Als Folge der Unzulässigkeit der Auslieferung ist antragsgemäß der
Auslieferungshaftbefehl aufzuheben und die Freigabe der aufgrund des
Verschonungsbeschlusses des Senats vom 16. Oktober 2000 geleisteten Sicherheit
anzuordnen.