Urteil des OLG Köln vom 23.01.2002
OLG Köln: biopsie, tumor, grad des verschuldens, behandlungsfehler, rezidiv, schmerzensgeld, operation, chemotherapie, unterlassen, verdacht
Oberlandesgericht Köln, 5 U 121/01
Datum:
23.01.2002
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 U 121/01
Vorinstanz:
Landgericht Aachen, 11 O 318/98
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts A. vom
30. Mai 2001 (11 O318/98) teilweise abgeändert und wie folgt gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld 25.000
EUR nebst 4% Zinsen seit dem 13.8.1998 zu zahlen. Im übrigen wird die
Klage abgewiesen. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen. Die Kosten des
Rechtsstreits trägt der Kläger zu 15 %, der Beklagte zu 85%. Das Urteil
ist vorläufig vollstreckbar. Beide Parteien können die Vollstreckung der
jeweils anderen durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Gegenseite zuvor
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
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Dem Kläger wurde im Juli/August 1993 in der RWTH A. ein Tumor in der linken
Nasenhöhle entfernt und anschließend bei ihm eine Strahlenbehandlung und
Chemotherapie durchgeführt. Er begab sich im Mai 1995 erstmals in die Behandlung
des Beklagten, der als niedergelassener HNO-Arzt tätig ist und der den Kläger auch im
Hinblick auf eine erneute Tumorbildung untersuchte. Eine weitere Behandlung fand im
März 1997 wegen Erkältungskrankheiten statt. Am 8.9.1997 begab sich der Kläger
sodann zum Beklagten, weil er einen Druckschmerz im linken Nasenabgang verspürte.
Der Beklagte stellte eine große Borke in der linken Nasenhaupthöhle fest und
diagnostizierte eine Knochenhautentzündung der Nase. Er veranlasste zum Ausschluss
eines Tumorrezidivs eine Computertomographie, die der Kläger am 11.9.1997 durch
den Radiologen Dr. S. vornehmen ließ. Dr. S. teilte dem Beklagten durch Arztbrief vom
11.9.1997 mit, dass wohl eher von einer entzündlichen Schleimhautproliferation
auszugehen sei, eine Sicherheitsbiopsie in Anbetracht der ehemaligen
Carzinomlokalisation aber empfohlen werde. Eine solche Sicherheitsbiopsie nahm der
Beklagte jedoch nicht vor. Er untersuchte und behandelte den Kläger weiter bis zum
26.9.1997, verordnete Anwendungen mit Emser Salz und schrieb den Kläger insgesamt
bis zum 3.10.1997 krank. Im November 1997 behandelte der Beklagte den Kläger
wegen einer eitrigen Sinusitis, die zu einer weiteren Arbeitsunfähigkeit von 12 Tagen
führte. Am 26.1.1998 begab sich der Kläger erneut in die Behandlung des Beklagten.
Diesmal stellte der Beklagte fest, dass wegen einer starken Krustenbildung in der linken
Nasenhaupthöhle eine Endoskopie nicht möglich sei und verordnete Medikamente
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gegen Sinusitis und Rhinitis. Am 25.2.1998 schließlich äußerte er den Verdacht auf ein
Tumorrezidiv und wies den Kläger in ein Krankenhaus ein. Der Kläger begab sich
nunmehr allerdings zunächst in die Behandlung eines anderen niedergelassenen
Arztes, Dr. W., der noch am 26.2.1998 eine derartige Verschiebung des Nasenseptums
nach rechts feststellte, dass die Nasenventilation vollständig aufgehoben war. Die von
ihm sofort vorgenommene Biopsie bestätigte den Verdacht eines Tumorrezidivs. Im
März 1998 wurde der Kläger in der HNO-Klinik der RWTH A. operiert, wobei ihm ein
Tumor entfernt wurde, der im Querdurchmesser eine Raumausdehnung von 3,5 cm und
im Längsdurchmesser eine Raumausdehnung von 2,5 cm aufwies. Dabei wurden die
linke Hälfte der befallenen Nase und Teile des Knochens (Siebbein) entfernt und zur
plastischen Korrektur ein Hautlappen von der Stirn entnommen. Im Anschluss daran
wurde eine Chemotherapie durchgeführt. Gleichwohl konnte nicht verhindert werden,
was indes erst im Verlauf des zweiten Rechtszuges näher vorgetragen wurde, dass es
zu einem weiteren Rezidiv kam und sich mittlerweile wieder ein Tumor in der Größe von
2,2 x 2,5 x 3 cm gebildet hat. Der Kläger wird bis heute behandelt. Seinen Beruf als
Feuerwehrmann hat er nicht wieder aufnehmen können. Er ist mittlerweile in den
Ruhestand versetzt worden.
Der Kläger nimmt den Beklagten auf Schmerzensgeld und Feststellung der
Erstattungspflicht künftiger materieller und immaterieller Schäden in Anspruch. Er wirft
dem Beklagten vor, eine hier dringend indizierte Sicherheitsbiopsie unterlassen zu
haben.
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Er hat behauptet, das Tumorrezidiv habe schon im September 1997 bestanden und
wäre bei einer Biopsie mit Sicherheit erkannt und behandelt worden. In diesem Fall
hätte sich der Tumor nicht derart vergrößern können, die notwendige Operation hätte
weit weniger einschneidend erfolgen können - insbesondere hinsichtlich der
gravierenden Entstellungen des Gesichts -, und die Aussichten auf eine dauerhafte
Heilung seien ungleich größer gewesen als nunmehr. Auf die Notwendigkeit einer
Biopsie habe der Beklagte ihn niemals hingewiesen.
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Er hat beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, an ihn ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes
Schmerzensgeld, das er mit mindestens 70.000.- DM beziffert, nebst 4% Zinsen seit
dem 19.8.1998 zu zahlen, sowie,
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festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen
und immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit diese auf der Grundlage der
ärztlichen Fehlbehandlung aus 1997 noch entstehen werden und nicht auf den
Sozialversicherungsträger übergegangen sind.
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Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er hat behauptet, den Kläger mehrfach auf die Notwendigkeit einer Biopsie hingewiesen
zu haben, auch wenn dies in seiner Krankendokumentation keinen Niederschlag
gefunden habe. Der Kläger habe sich jedoch geweigert, weil er eine Phobie vor einer
Untersuchung und Behandlung in der RWTH A. entwickelt habe. Er selbst habe die
Biopsie nicht vornehmen wollen, da die HNO-Klinik der RWTH wegen der früheren
Operation die Situation weit besser habe beurteilen können. Auch habe der Radiologe
Dr. S. den Befund mit dem Kläger besprochen, so dass der Kläger auch von daher
Kenntnis gehabt habe. Im übrigen hat der Beklagte bestritten, dass beim Kläger bereits
im September 1997 ein Rezidiv vorgelegen habe. Auch hätte eine sofort durchgeführte
Operation zu denselben Beeinträchtigungen geführt wie die später durchgeführte.
Ebenfalls hätte sich die Langzeitprognose für den Kläger nicht verbessert.
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Die Kammer hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und nach
Zeugenvernehmung über die Frage, ob der Beklagte auf die Notwendigkeit einer
Biopsie hingewiesen habe, dem Feststellungsantrag stattgegeben und den Beklagten
zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 4000.- DM verurteilt. Es hat, gestützt
auf die Erkenntnisse des Sachverständigen Privatdozent Dr. W., das Unterlassen der
Sicherheitsbiopsie als groben Behandlungsfehler gewertet. Die Behauptung, den
Kläger auf die Biopsie hingewiesen zu haben, habe die vom Beklagten benannte
Sprechstundenhilfe nicht bestätigt. Eine - von der Kammer angenommene - Information
durch den Radiologen S. ändere nichts am Fehler des Beklagten, führe im gegebenen
Fall auch nicht zur Annahme eines Mitverschuldens des Klägers. Der Beklagte habe
nicht nachgewiesen, dass der Tumor im September 1997 noch nicht vorgelegen habe.
Allerdings hätte, den Ausführungen des Sachverständigen folgend, auch eine
wesentlich frühere Operation mit gleicher Radikalität durchgeführt werden müssen, so
dass die optischen Beeinträchtigungen in jedem Fall eingetreten wären. Diese schieden
daher auch für die Bemessung des Schmerzensgeldes aus, so dass hier nur die durch
die verzögerte Behandlung bedingten zusätzlichen unnötigen Schmerzen und die
höhere Gefahr für die Zukunft zu berücksichtigen seien.
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Hiergegen haben beide Parteien Berufung eingelegt. Der Beklagte, der weiterhin
Klageabweisung erstrebt, wiederholt seine Behauptung, den Kläger mehrfach auf die
Notwendigkeit der Biopsie hingewiesen zu haben, wie auch Dr. S., die frühere
Hausärztin des Klägers oder die Ärzte der RWTH A.. Im übrigen sei eine Biopsie auch
keineswegs dringend veranlasst gewesen, da das Rezidiv im September noch nicht
vorgelegen habe. Die lediglich endoskopische Untersuchung sei ausreichend gewesen.
Keinesfalls aber könne sein Verhalten als grober Behandlungsfehler gewertet werden.
Im übrigen müsse ein Mitverschulden des Klägers angenommen werden.
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Er beantragt,
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unter teilweiser Abänderung der angefochtenen Entscheidung die Klage insgesamt
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung des Beklagten zurückzuweisen,
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ferner,
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unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu
verurteilen, an den Kläger über den erstinstanzlich zuerkannten Betrag von 4.000.-
DM nebst 4% Zinsen seit dem 13.8.1998 hinaus ein weiteres angemessenes, in das
Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens aber 70.000.- DM,
nebst 4% Zinsen seit dem 13.8.1998 zu zahlen.
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Er bestreitet, jemals durch irgendeinen Arzt auf die Notwendigkeit einer Biopsie
hingewiesen worden zusein. Insbesondere habe Dr. S. ihn nicht über den erhobenen
Befund unterrichtet und auch der Arztbrief vom 11.9.1997 sei ihm erst im Laufe dieses
Rechtsstreits zur Kenntnis gelangt. Das zuerkannte Schmerzensgeld sei deutlich zu
gering bemessen, insbesondere mit Rücksicht auf seine dramatisch verschlechterte
Zukunftsprognose. Insoweit trägt er im einzelnen zur weiteren Entwicklung seiner
Erkrankung vor. Das nunmehr aufgetretene weitere Rezidiv sei wegen massiven
Entfernung von Knochensubstanz durch die Operation im März 1998 nun nicht mehr
operabel, sondern könne nur noch durch Bestrahlung und Chemotherapie behandelt
werden. Auf die durch die zweite Operation hervorgerufenen optischen
Beeinträchtigungen beruft sich der Kläger nicht mehr. Dem Vorbringen des Beklagten
tritt er entgegen und verteidigt im übrigen das angefochtene Urteil.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
29
Er tritt dem Vorbringen des Klägers entgegen.
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Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung des Klägers als Partei auf Antrag
des Beklagten. Er hat ferner den Beklagten gemäß § 141 ZPO zur Frage des Hinweises
auf die Notwendigkeit einer Biopsie angehört. Wegen des Ergebnisses der
Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 19.12.2001 Bezug genommen.
Wegen aller weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten
Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Urteil der Kammer vom 30.5.2001 verwiesen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Beide Berufungen sind zulässig. Die Berufung des Beklagten ist unbegründet,
diejenige des Klägers hat (zum Teil) Erfolg. Ihm steht wegen der durch den Beklagten
unterlassenen Biopsie ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 25.000 EUR zu
(§§ 847, 823 BGB). Auch der Feststellungsantrag ist in vollem Umfang begründet.
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a)
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Das Unterlassen einer Sicherheitsbiopsie zum Ausschluss eines Tumorrezidivs stellt
einen Behandlungsfehler durch den Beklagten dar, den die Kammer zu Recht auch
als groben Behandlungsfehler gewertet hat. Der erstinstanzlich beauftragte
Sachverständige Privatdozent Dr. W. hat sowohl in seinem schriftlichen Gutachten
vom 19.1.2000 als auch in seinem Ergänzungsgutachten vom 20.10.2000 als auch in
seiner mündlichen Anhörung unmissverständlich und einschränkungslos festgestellt,
dass in der beim Kläger gegebenen Situation, nämlich im Hinblick auf den im Jahre
1993 aufgetretenen Tumor, eine Sicherheitsbiopsie unverzichtbar gewesen sei. Das
Vorliegen eines Druckschmerzes sei ein ausgesprochenes Warnsymptom gewesen
und der Zeitraum von fünf Jahren, nach dessen Ablauf erst mit einiger
Wahrscheinlichkeit ein Rezidiv ausgeschlossen werden könne, sei noch nicht
verstrichen gewesen. Angesichts der Vorgeschichte sei ein eher übergenaues
Vorgehen angezeigt gewesen, ferner habe das CT vom 11.9.1997 einen Tumor
gerade nicht sicher ausschließen können. In dieser Situation wäre es zwar vielleicht
mit Rücksicht auf die akute Erkrankung vertretbar gewesen, die Situation eine Weile
zu beobachten, allerspätestens nach vier bis sechs Wochen hätte allerdings eine
Sicherheitsbiopsie vorgenommen werden müssen. Diese Ausführungen sind
eindeutig, nachvollziehbar und überzeugend. Auch der Beklagte hat in erster Instanz
keinen Zweifel geäußert, dass eine Sicherheitsbiopsie kunstgerechtem ärztlichen
Handeln entsprochen hätte. Er will schließlich auch seinem Hauptvorbringen nach
dem Kläger eine solche Biopsie dringend und mehrfach angeraten haben. Seine in
zweiter Instanz geäußerte Auffassung, bei der gegebenen Situation sei ein lediglich
beobachtendes Verhalten ausreichend gewesen, widerspricht nicht nur den
Feststellungen des Sachverständigen, denen der Senat folgt, sondern auch dem
eigenen behaupteten Verhalten des Beklagten.
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b)
40
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Der Vorwurf eines schuldhaften Behandlungsfehlers entfällt auch nicht dadurch, dass
der Kläger in Kenntnis der damit verbundenen Risiken einen solchen Eingriff
verweigert hätte. Der Senat ist nach der vor der Kammer wie vor dem Senat
durchgeführten Beweisaufnahme nicht davon überzeugt, dass der Beklagte den
Kläger auf die Notwendigkeit der Sicherheitsbiopsie hingewiesen hat und dass
daraufhin der Kläger die Biopsie verweigert hat. Die erstinstanzlich hierzu benannte
und vernommene Zeugin S. hat die entsprechende Behauptung des Beklagten nicht
bestätigt. Sie konnte zur Sache nicht mehr sagen, als dass der Kläger ängstlich
gewesen sei und dass ihr Chef grundsätzlich entsprechend der Diagnose darauf
hinweise, dass Gewebeproben entnommen werden müssten. Da es sich bei der
konkreten Situation des Klägers aber nicht um einen Routinevorgang handelt, bei
dem üblichen Gepflogenheiten eine gewisse Indizwirkung zukommen kann, ist die
Aussage der Zeugin insgesamt unergiebig und keineswegs geeignet, den Beweis für
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einen entsprechenden Hinweis zu erbringen, erst recht nicht für eine ausführliche
Aufklärung des Klägers über etwaige Risiken einer unterlassenen Biopsie und für
mehrfache nachdrückliche Aufforderungen, eine Biopsie vornehmen zu lassen.
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Der Beweis ist auch nicht durch die Vernehmung des Klägers geführt worden. Der
Kläger hat eindeutig erklärt, dass der Beklagte ihn weder auf die Notwendigkeit einer
Biopsie hingewiesen noch über den Inhalt des Schreibens von Dr. S. unterrichtet
habe. Er ist hierbei auch auf nachdrückliches Befragen geblieben, und er hat auf den
Senat nicht den Eindruck gemacht, dass er sich dabei von einem in seinem Interesse
liegenden Prozessausgang leiten lasse. Der hierzu ebenso ausführlich angehörte
Beklagte, der letztlich bei seiner schriftsätzlich vorgetragenen Behauptung geblieben
ist, hat den Senat nicht davon überzeugen können, dass seine Darstellung der
Wahrheit entspricht und seiner Darstellung mehr Glauben zu schenken sei als
derjenigen des Klägers. Der Senat hat dabei zur Kenntnis genommen, dass der
Beklagte keineswegs die Gelegenheit wahrgenommen hat, seine schriftsätzlich
wenig konkretisierten Behauptungen näher mit Detailangaben zu versehen und sie
dem Kläger "Auge in Auge" entgegen zu halten, sondern dass er nun weit größeren
Wert auf die Tatsache legte, dass er über das Ausmaß der Vorerkrankung nie wirklich
präzise unterrichtet gewesen sei, dass er selbst auf noch gründlichere
Untersuchungen gedrungen hätte, hätte er geahnt, wie schwerwiegend bereits die
Vorerkrankung gewesen sei. Auf ausdrücklichen Vorhalt, ob er auf die Biopsie
hingewiesen habe, hat er zunächst ausweichend geantwortet, es wäre "angebracht
gewesen", eine Biopsie zu machen, und erst auf nochmaliges Nachfragen bestätigt,
dass er den Kläger tatsächlich "jedesmal" auf die Dringlichkeit hingewiesen habe.
Nähere Angaben dazu hat er nicht gemacht. Dass er auf die Dringlichkeit der Biopsie
und die Folgen eines möglichen Unterlassens gezielt aufgeklärt hätte, hatte der
Beklagte bis dahin aber noch nicht einmal schriftsätzlich behauptet. Insgesamt
genügen die Ausführungen des Beklagten damit dem Senat nicht, um die Darstellung
des Klägers für unwahr und die des Beklagten für wahr zu halten. Sie geben dem
Senat noch nicht einmal Anlass, die angeregte Parteivernehmung nach § 448 ZPO
durchzuführen, da hierdurch eine entscheidende Änderung nicht zu erwarten ist.
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c)
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Die Nichterweislichkeit seiner Behauptung geht zu Lasten des Beklagten. Es handelt
sich bei dem Hinweis auf die Erforderlichkeit einer Sicherheitsbiopsie um einen Fall
der Sicherheitsaufklärung. Diese hat der Beklagte nicht in den Krankenunterlagen
dokumentiert, obwohl sie hätte dokumentiert werden müssen.
Dokumentationspflichtig sind alle wichtigen diagnostischen und therapeutischen
Maßnahmen, also gerade auch medizinisch bedeutsame therapeutische Hinweise
(BGH NJW 1985, 2193, 2194; nur beispielhaft für den Hinweis auf die Notwendigkeit
einer Röntgenuntersuchung bei Verdacht auf Tbc und Weigerung des Patienten BGH
AHRS 6590/11). Der Hinweis, dass zum sicheren Ausschluss eines Tumorrezidivs
eine Sicherheitsbiopsie unabdingbar notwendig sei sowie die dann erfolgende
Weigerung des Patienten samt der angegebenen Gründe sind danach in jedem Fall
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dokumentationspflichtig. Für die spätere medizinische Beurteilung ist es von
offenkundigem Interesse zu wissen, ob und warum eine derartige sichere
Diagnosemethode nicht angewandt wurde. Von einer sich von selbst verstehenden
Routinemaßnahme, die ausnahmsweise nicht dokumentiert werden muss (BGH NJW
1984, 1403, NJW 1993, 2375), kann schon wegen der Schwere der Erkrankung keine
Rede sein. Folge der unterlassenen Dokumentation ist, dass das Unterbleiben der
Aufklärung vermutet wird (BGHZ 85, 212, std. Rspr.) und der Beklagte den Beweis,
dass dies nicht der Fall sei, erbringen muss. Das ist ihm, wie oben dargelegt, nicht
gelungen.
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Im übrigen gereicht die Beweislosigkeit dem Beklagten auch aus einem weiteren
Grund zum Nachteil. Dass es zu einem schadensauslösenden Behandlungsfehler
(Unterlassen der Biopsie) gekommen ist, steht fest. Der Einwand des Beklagten, dies
beruhe auf einer Weigerung des Klägers, stellt sich rechtlich als ein Berufen auf den
Gesichtspunkt des "Verschuldens gegen sich selbst" dar (§ 254 Abs. 1 BGB). Die
Beweislast hierfür und für dessen Schadensursächlichkeit trägt der Ersatzpflichtige,
also hier der Beklagte (vgl. BGH NJW 1994, 3105).
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d)
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Rechtlich nicht von Bedeutung ist, ob der Kläger tatsächlich bereits im Anschluss an
die CT-Aufnahme seitens Dr. S. auf die Erforderlichkeit einer Sicherheitsbiopsie
hingewiesen wurde, wie der Beklagte behauptet, der Kläger aber entschieden
bestreitet (von einem prozessualen Geständnis nach § 288 ZPO kann keine Rede
sein). Auch insoweit schließt sich der Senat den zutreffenden Ausführungen der
Kammer an. Maßgeblich ist allein, was der Beklagte als der behandelnde Arzt für
richtig hält. Eine therapeutische Sicherheitsaufklärung obliegt ihm und nicht einem
zur Erstellung einer (im übrigen vom Beklagten zu interpretierenden) CT-Aufnahme
herangezogenen Radiologen. Keinesfalls darf er sich darauf verlassen, dass ein
Dritter die ihm obliegende Aufklärung bereits vorgenommen hat. Er muss sich
vielmehr selbst vergewissern. Darüber hinaus würde auch der bloße Hinweis auf
eine empfohlene Biopsie bei weitem nicht ausreichen. Erforderlich war vielmehr,
dass dem Kläger mit aller Klarheit und Deutlichkeit vor Augen geführt wurde, welche
Risiken er einging, wenn die empfohlene Biopsie unterblieb. Dass die angeblichen
Hinweise des Dr. S. soweit gegangen wären, behauptet der Beklagte selbst nicht. Auf
den entsprechenden Beweisantritt des Beklagten kommt es damit nicht an. Erst recht
gilt dies für die vom Beklagten in den Raum gestellte Behauptung, der Kläger sei
hinreichend durch seine frühere Hausärztin Dr. P. und die Ärzte der RWTH A. über
die Erforderlichkeit einer Biopsie unterrichtet gewesen. Welchen konkreten Anlass
diese Ärzte zu einer solchen Aufklärung gehabt haben sollen, ist nicht ersichtlich.
Aus den oben genannten Gründen käme es aber auch auf irgendwelche Hinweise
Dritter nicht an.
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e)
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Wäre die gebotene Aufklärung des Klägers allerspätestens Mitte bis Ende Oktober
1997 erfolgt, so hätte dieser die Biopsie vornehmen lassen, es hätte sich schon
damals die Diagnose eines Tumorrezidivs stellen lassen, es wäre eine unverzügliche
Operation erfolgt und der Tumor wäre zu einem Zeitpunkt entfernt worden, wo eine
vollständige Entfernung noch möglich war. Das spätere erneute Rezidiv wäre dem
Kläger ebenso erspart geblieben wie die hierauf bezogene Behandlung. Dieser
weitere Verlauf der Dinge kann zugunsten des Klägers zugrunde gelegt werden,
denn der Beklagte kann nicht beweisen, dass ein anderer ebensogut möglicher
Kausalverlauf eingetreten wäre. Dafür, dass die Situation so, wie sie sich jetzt
darstellt, auch bei rechtzeitiger Aufklärung bestehen würde, etwa, weil der Kläger
sich damals tatsächlich geweigert hätte, oder, weil damals noch kein nachweisbares
Rezidiv vorhanden war, oder weil auch eine sofortige Operation am derzeitigen
Zustand des Klägers nichts geändert hätte, ist aber der Beklagte beweispflichtig, weil
der Behandlungsfehler als grob einzustufen ist. Dass das Unterlassen einer
Sicherheitsbiopsie angesichts der Vorerkrankung des Klägers, des deutlichen
Hinweises auf ein mögliches Rezidiv durch den vom Kläger beklagten
Druckschmerz, die Lokalisation dieses Schmerzes im Bereich des linken
Augenwinkels, des unklaren Befundes aufgrund der Endoskopie wie auch der CT-
Aufnahme und des eindeutigen Hinweises durch Dr.S., eine Biopsie werde
empfohlen, schlechterdings unverständlich und unter keinem medizinischen
Gesichtspunkt mehr vertretbar war, hat der Sachverständige Privatdozent Dr. W. mit
absoluter Klarheit und Deutlichkeit ausgeführt. Er hat im schriftlichen Gutachten vom
19.1.2000 dargelegt: "Bei Vorliegen eines Druckschmerzes linker Nasenabgang mit
Knochenhautentzündung der Nase und dem beschriebenen CT-Befund muss eine
Biopsie vorgenommen werden". Das Wort "muss" hat er fett gedruckt und
unterstrichen. Daraus, wie aus dem Gesamtzusammenhang seiner Ausführungen
ergibt sich, dass es für ihn schlechterdings keine Alternative zu einer
Sicherheitsbiopsie gab. Die ausdrückliche Frage nach einem groben
Behandlungsfehler hat er dahin beantwortet, dass man von einem groben
Behandlungsfehler ausgehen könne, wenn der Beklagte dem Kläger nicht
verdeutlicht haben sollte, dass man nur durch einen Biopsie einen Tumor sicher
ausschließen könne. Auch das ist eindeutig. Im schriftlichen Ergänzungsgutachten
vom 20.10.2000 hat der Sachverständige noch einmal klar und deutlich gesagt, dass
ein grober Behandlungsfehler vorliege, wenn eine entsprechende Empfehlung des
behandelnden Arztes nicht erfolgt sei. Im Rahmen der mündlichen Anhörung hat der
Sachverständige wiederum davon gesprochen, es habe sich "schon um eine
schwerwiegende Unterlassung" gehandelt, wenn er auch den "von den Juristen
geprägten Ausdruck" des groben Behandlungsfehlers nicht "in den Mund nehmen"
wolle. Zu Recht hat die Kammer aus der Gesamtheit seiner Ausführungen
entnommen, dass der Sachverständige die Kriterien, die nach der gefestigten
höchstrichterlichen Rechtsprechung für die Annahme eines groben
Behandlungsfehlers heranzuziehen sind, hier für gegeben erachtet hat, zumal die
Wertung als solche ohnehin Aufgabe des Gerichts ist. Eine gewisse Tendenz des
Sachverständigen, den Beklagten zu schonen, ist den Ausführungen des
Sachverständigen durchaus zu entnehmen. Tatsachen, die eine mildere Bewertung
des Behandlungsfehlers rechtfertigen, benennt der Sachverständige aber nicht und
sind auch vom Beklagten selbst nicht vorgetragen. Auch der Senat hat daher in der
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Gesamtschau keinen Zweifel, dass es sich um einen groben Behandlungsfehler
handelt.
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f)
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Den Nachweis eines anderen Kausalverlaufs hat der Beklagte aber nicht geführt. Für
seine Behauptung, der Kläger habe aus Angst vor einer Biopsie eine solche
Behandlung verweigert, spricht absolut nichts. Dass der Kläger verständliche Angst
vor dem möglichen Ergebnis gehabt haben mag, bedeutet nicht, dass er den Kopf in
den Sand gesteckt und schon die Untersuchung verweigert hätte. Dass er in dem
Moment, in dem der Beklagte erstmals den Verdacht auf ein Rezidiv offen äußerte
(zumindest auf dem Überweisungsschein), sofort eine Biopsie vornehmen ließ, und
zwar von einem ihm bis dahin völlig fremden Arzt, spricht für sich. Dass der Tumor
bereits im September 1997, dem frühest möglichen Termin einer Biopsie, vorgelegen
haben kann, hat der Sachverständige eindeutig bestätigt, und für diese Möglichkeit
sprechen auch die sonstigen Umstände, insbesondere der typische Druckschmerz.
Dass der Kläger im Falle einer sofort durchgeführten Operation weit bessere
Aussichten auf eine endgültige Heilung hatte, als er sie nun hat, ist ebenfalls vom
Sachverständigen eindeutig bestätigt worden, der nachvollziehbar darauf verwiesen
hat, dass zum Zeitpunkt der CT-Aufnahme im September 1997 noch keine knöcherne
Infiltration stattgefunden habe, im März 1998 hingegen schon, und dass der Tumor
bis zum Februar 1998 bereits auf eine immense Größe gewachsen war. Erst recht gilt
das Gesagte für das Entstehen des neuen, dritten Tumors.
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g)
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Ein Mitverschulden des Klägers kommt nicht in Betracht. Dies gilt insbesondere auch
dann, wenn der Kläger, wie der Beklagte behauptet, von Dr. S. auf die Erforderlichkeit
der Biopsie hingewiesen worden sein sollte. Insoweit gilt das oben zu d) Gesagte
entsprechend und auch auf die Ausführungen der Kammer kann Bezug genommen
werden. Ein Patient darf und muss seinem Arzt vertrauen. Hält dieser eine von einem
anderen Arzt, der zudem kein Fachmann auf dem Gebiet des Beklagten ist,
angeregte Maßnahme für unnötig bzw. kommt er auf eine entsprechende Empfehlung
eines anderen Arztes nicht zurück, so ist es nicht Sache des Patienten, diese
medizinische Entscheidung seines Arztes in Frage zu stellen.
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h)
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Der Beklagte schuldet dem Kläger damit Schmerzensgeld in einer deutlich über das
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bisher zuerkannte Maß hinaus gehenden Höhe. Maßgeblich für die Bemessung der
nach § 847 BGB zu gewährenden billigen Entschädigung sind die Schwere der
Verletzungen, das durch diese bedingte Leiden, dessen Dauer, das Ausmaß der
Wahrnehmung der Beeinträchtigung durch den Verletzten und der Grad des
Verschuldens des Schädigers (BGHZ 138, 388, 391). Alle diese Umstände sind in
eine Gesamtbetrachtung einzubeziehen und in eine angemessene Beziehung zur
Entschädigung zu setzen (BGH VersR 1988, 943; VersR 1991, 350, 351; BGHZ 138,
388, 391). Dabei soll das Schmerzensgeld in erster Linie einen Ausgleich für die
erlittenen Beeinträchtigungen darstellen, daneben auch der Genugtuung des
Geschädigten für erlittenes Unrecht dienen. Jedenfalls auf der Grundlage der
nunmehr vorliegenden Erkenntnisse kann nicht mehr davon ausgegangen werden,
dass es lediglich zu einer mehrmonatigen Verzögerung der Heilbehandlung mit
entsprechend länger andauernden Beschwerden gekommen sei. Der entscheidende
Gesichtspunkt ist vielmehr, dass sich die Gefahr eines erneuten Rückfalls mit allen
ihren körperlichen und seelischen Folgen beim Kläger nunmehr definitiv verwirklicht
hat. Aus der vom Kläger vorgelegten ärztlichen Bescheinigung von Dr. G. vom
29.8.2001 ergibt sich, dass sich derzeit ein Tumor gebildet hat, der mit 3 x 2,5 x 2,2
cm Volumen eine erhebliche Größe aufweist. Der Bescheinigung von Dr. T. vom
9.10.2001 ist zu entnehmen, dass der Kläger wegen eines rezidivierten
Nasenhöhlenkarzinoms in regelmäßiger Behandlung befindet, eine intensive
Chemotherapie durchgeführt wird und in diesem Zusammenhang ambulante
Infusionen in 14-tägigen Abständen erforderlich sind. Der Kläger hat im Rahmen der
Berufungsbegründung vorgetragen, dass dieser Tumor nicht mehr operabel sei, es
vielmehr nur noch möglich sei, den Tumor mit Chemotherapie und
Strahlenbehandlung einzudämmen und aufzuhalten, und "zwar mit durchaus
begrenzten Erfolgschancen". Diesem gesamten Vorbringen und den hierzu
vorgelegten Unterlagen ist der Beklagte nicht mehr entgegen getreten. Das noch im
Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht erklärte pauschale
Bestreiten mit Nichtwissen, das sich allerdings auf ein weitaus weniger
substantiiertes Vorbringen des Klägers bezog, ist nicht mehr maßgeblich. Der Senat
hat aufgrund des Gesamtvortrages des Beklagten keinen Anlass anzunehmen, dass
der Beklagte die erneute schwere Erkrankung des Klägers tatsächlich bestreiten
wolle (§ 138 Abs. 3 2. Halbsatz ZPO), so dass die Einholung eines
Sachverständigengutachtens zu dieser Frage nicht erforderlich war. Damit hat sich
die Gefahr einer zu späten Tumortherapie in schon jetzt sehr weitgehendem Maße
verwirklicht. Die Belastungen, die durch die Chemotherapie verursacht wurden und
auf nicht absehbare Zeit verursacht werden, sind überaus erheblich. Zu
berücksichtigen ist ferner, dass die Erkrankung des Klägers zu dessen wohl
endgültiger Berufsunfähigkeit geführt hat. Die Chance, noch einmal in seinem Beruf
tätig sein zu können, kann nach derzeitigem Erkenntnisstand als derart gering
bezeichnet werden, dass schon jetzt eine Berücksichtigung im Rahmen des
Schmerzensgeldes möglich ist. Als mindestens ebenso gewichtig wie die
körperlichen Folgen ist die seelische Belastung einzuschätzen, die durch die
drastisch gestiegene Gefahr begründet ist, dass sich der Tumor auf Dauer doch nicht
in Schach halten lässt. Es liegt auf der Hand, dass diese Belastung in keiner Weise
zu vergleichen ist mit der Situation nach einer frühzeitigen operativen
Tumorentfernung im Gesunden, bei der von durchaus reellen endgültigen
Heilungschancen hätte ausgegangen werden können. Dies alles lässt bei der durch
den Senat vorzunehmenden Ermessensentscheidung ein Schmerzensgeld von
25.000 EUR als angemessen, aber auch als ausreichend erscheinen.
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i)
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Der Feststellungsantrag ist nach dem Gesagten in vollem Umfang begründet.
Einschränkungen sind nicht vorzunehmen.
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j)
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Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs.1, 97, 108, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
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Streitwert: für die Berufung des Beklagten: 37.835,60 EUR
79
für die Berufung des Klägers: 33.745,26 EUR
80
Beschwer: für den Beklagten über, für den Kläger unter 30.677,51.- EUR
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(60.000,- DM)
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