Urteil des OLG Köln vom 02.06.1997
OLG Köln (fahrbahn, fahrzeug, verkehr, sorgfalt, fahren, fahrer, ermittlungsverfahren, zpo, vorläufig, betriebsgefahr)
Oberlandesgericht Köln, 19 U 213/96
Datum:
02.06.1997
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
19. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
19 U 213/96
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 21 O 312/95
Schlagworte:
Haftung Wenden Rückwärts Fahren
Normen:
StVO §§ 9 Abs. 5, 10; StVG §§ 7, 17
Leitsätze:
Wer aus einem in Fahrtrichtung leicht schräg vorwärts geneigten
Parkstreifen ,blind" auf die Fahrbahn zurücksetzt, um über die Fahrbahn
hinweg zu wenden, hat den vollen Schaden zu tragen, wenn es dabei zu
einer Kollision mit dem Fahrzeug eines die rechte Fahrbahn geradeaus
befahrenden Verkehrsteilnehmers kommt. Dessen normale
Betriebsgefahr kann zurücktreten.
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 21. Zivilkammer des
Landgerichts Köln vom 17.10.1996 - 21 O 312/95 - wird auf ihre Kosten
zurückgewiesen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
1
Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Der Klägerin steht ein
Schadensersatzanspruch gegen die Beklagten aus dem Unfallereignis vom 25.1.1995
weder nach dem Straßenverkehrsgesetz (§§ 7, 17) noch aus unerlaubter Handlung (§
823 BGB) zu.
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Nicht die Beklagte zu 1., sondern die Klägerin hat ihre Verpflichtungen im
Straßenverkehr erheblich verletzt, als sie aus dem in Fahrtrichtung leicht schräg
vorwärts geneigten Parkstreifen in der K. Straße in L. rückwärts hinaussetzte, um über
die Fahrbahn hinweg zu wenden und dann in Gegenrichtung weiterzufahren. Zur
Kennzeichnung der Rechtslage in derartigen Fällen zitiert der Senat eine Entscheidung
des OLG Frankfurt (VersR 1982, 1079), der er sich in vollem Umfang anschließt:
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B. wollte aus einem senkrecht zur Fahrbahn angeordneten Parkstreifen rückwärts auf
die Fahrbahn einfahren. Er unterlag dabei den verschärften Sorgfaltspflichten nach §§ 9
Abs. 5 und 10 StVO, wonach der Fahrzeugführer beim Rückwärtsfahren und beim
Einfahren auf die Fahrbahn von anderen Straßenteilen sich so zu verhalten hat, daß
eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Dieser wegen der
Gefährlichkeit der beschriebenen Fahrmanöver verschärfte Sorgfaltsmaßstab ist zwar
nicht wörtlich zu verstehen, bedeutet jedoch, daß jeweils das äußerste Maß an Sorgfalt
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anzuwenden ist. Den Verkehrsteilnehmer, dem diese höchstmögliche Sorgfalt obliegt,
trifft die Verantwortung für die Sicherheit seines Fahrmanövers nahezu allein, er hat
regelmäßig den gesamten, bei einem Unfall entstandenen Schaden zu tragen (vgl.
Geigel, Der Haftpflichtprozeß 17. Aufl. 1979 27. Kap. Rdn. 21, 22, 367, 375, jeweils m.
w. Nachw.).
Diese über den gewöhnlichen Haftungsmaßstab der verkehrsüblichen Sorgfalt des §
276 Abs. 1 S. 2 BGB hinausgehende verschärfte Sorgfaltspflicht des Kraftfahrers
bezweckt den Schutz des fließenden Verkehrs. Der sich im fließenden Verkehr
bewegende Kraftfahrer darf darauf vertrauen, daß rückwärtsfahrende, vom
Fahrbahnrand oder einem Seitenstreifen anfahrende Fahrzeuge ihn nicht behindern
oder gefährden, er braucht insbesondere seine Fahrgeschwindigkeit nicht auf ein
solches Fahrverhalten des anderen Kfz-Führers einzurichten. Dies schließt andererseits
nicht aus, daß auch den sich im fließenden Verkehr bewegenden bevorrechtigten
Fahrer an dem Zusammenstoß mit einem Fahrzeug, dessen Fahrer unter Verletzung der
erwähnten äußersten Sorgfalt in die Fahrbahn einfährt, ein Mitverschulden treffen kann,
wenn er, und zwar infolge eigener Unaufmerksamkeit oder überhöhter Geschwindigkeit,
den Zusammenstoß nicht mehr verhindern kann. Der aus den §§ 9 Abs. 5 und 10 StVO
herzuleitende Vertrauensgrundsatz für den sich im fließenden Verkehr bewegenden
Kraftfahrer rechtfertigt es, nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins
ein Verschulden des rückwärtsfahrenden oder in die Fahrbahn einfahrenden Kfz-
Führers am Zusammenstoß mit einem sich im fließenden Verkehr bewegenden
Fahrzeug anzunehmen (KG VersR 75, 664; OLG Düsseldorf VersR 77, 60; Geigel aaO
Kap. 27 Rdn. 374, 375). Diesen Anscheinsbeweis hat die Kl. nicht erschüttern können.
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Im vorliegenden Fall kommt hinzu, daß es sich nicht, wie offenbar in dem F.er Fall, um
ein "einfaches" Rückfahrmanöver gehandelt hat, sondern um ein Zurücksetzen über die
ganze Fahrbahn hinweg auf die Gegenseite.
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Ein Mitverschulden der Beklagten zu 1. ist nicht nachgewiesen. Daß sie rechtzeitig hätte
bremsen können und müssen, läßt sich anhand der Zeugenaussagen nicht feststellen.
Die Ausführungen der Berufungsbegründung hierzu sind theoretisch. Die von der
Beifahrerin der Klägerin, der inzwischen verstorbenen Zeugin G., im
Ermittlungsverfahren (Bl. 8 R AH in den BeiA) geschilderte Situation deutet darauf hin,
daß vor Beginn des Fahrmanövers der Klägerin der PKW der Beklagten zu 1. "in großer
Entfernung", d.h. 100 - 120 m weit, zu sehen war. Daraus folgt aber zwingend, daß die -
zulässigerweise - mit 40 - 50 km/h fahrende Beklagte zu 1. im Laufe dieses Manövers
wesentlich näher herankam. Die Schilderung der Klägerin im Ermittlungsverfahren (Bl.
18 AH in den BeiA = Bl. 41 d.A.) zeigt eindrucksvoll, daß die Klägerin so wie geschehen
- nämlich nach eigenen Worten "blind" - nicht hätte fahren dürfen. Vielmehr hätte sie
zunächst einmal, nach vorsichtigem Einfahren in die Fahrbahn, auf ihrer Fahrbahnseite
weiterfahren müssen, um an geeigneter Stelle zu wenden, wenn sie sich nicht eines
Einweisers bedienen konnte. Auch die Ausführungen in dem nicht nachgelassenen
Schriftsatz vom 12.5.1997 entlasten die Klägerin nicht, sondern schildern die örtliche
Situation als so schwierig, daß das Fahrmanöver der Klägerin geradezu
unverantwortlich war. Die verbleibende Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs kann
demgegenüber zurücktreten (vgl. OLG Frankfurt a.a.O.; LG Darmstadt VersR 1984, 994).
Soweit das OLG Köln in "Parkstreifenfällen" den auf der Fahrbahn Herankommenden
eine Mithaftung auferlegt hat (VersR 1979, 725 - 7. ZS; VersR 1986, 666 - 22. ZS), ist
deren Fahrverhalten dem der Beklagten zu 1. nicht vergleichbar. In dem einen Fall fuhr
der Unfallbeteiligte auf der für ihn linken Fahrbahnseite, im anderen Fall wechselte er
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von der linken auf die rechte Fahrspur gerade dann, als das andere Fahrzeug aus der
Parklücke heraussetzte. Was die von der Klägerin in der Berufungsbegründung zitierte
BGH-Entscheidung aus 1957 angeht, so war im vorliegenden Fall die Beklagte zu 1. für
die Klägerin eben nicht mehr weit genug entfernt, um ein solches Manöver ausführen zu
können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 I ZPO. Das Urteil ist nach den §§ 708 Nr. 10,
713 ZPO vorläufig vollstreckbar.
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Wert der Beschwer der Klägerin: 15.093,05 DM.
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