Urteil des OLG Köln vom 19.10.2004
OLG Köln (Zulässigkeit der Auslieferung, Anspruch auf Einbürgerung, Ausstellung, Vorläufige Festnahme, Haftbefehl, Stadt, Staatsangehörigkeit, Beihilfe, Anhörung, Strafvollstreckung)
Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, 6 Ausl 222/04 -34/04
19.10.2004
Oberlandesgericht Köln
2. Strafsenat
Beschluss
6 Ausl 222/04 -34/04
Die Auslieferung des polnischen Staatsangehörigen A. B. aus
Deutschland nach Polen
a) zur Strafverfolgung wegen der in dem Haftbefehl des Bezirksgerichts
Bialystok / Polen vom 11.07.1997 - III Kol 257/97 - zur Last gelegten Tat
b) zur Strafvollstreckung wegen der durch das Urteil des Bezirksgerichts
Bialystok / Polen vom 17.04.1997 - III K 48/97 - erkannten Freiheitsstrafe
von einem Jahr und zwei Monaten wird für zulässig erklärt.
G r ü n d e :
I.
Der Verfolgte wurde am 22.08.2004 aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Siegburg
vom selben Tage (240 Gs 744/04) wegen des Vorwurfs der Verabredung zu einem
Verbrechen in Untersuchungshaft genommen. Zugleich wurde seine vorläufige Festnahme
gemäß § 19 IRG im Hinblick auf den gegen ihn bestehenden Europäischen Haftbefehl der
III. Strafkammer des Bezirksgerichts Bialystok/Polen vom 03.08.20004 (III Kop 16/04)
angeordnet. Der Europäische Haftbefehl wurde erlassen im Hinblick auf
den Haftbefehl des Bezirksgerichts Bialystok vom 11.07.1997 (IIII Kol 257/97).
Der Verfolgte soll, in der Nacht vom 8. auf den 9. April 1997 in der Gefängniszelle Nr.
234 der Untersuchungshaftanstalt in Bialystok zusammen mit vier weiteren Mittätern den M.
B. mit Gewalt zur Unzucht gezwungen zu haben; strafbar gemäß Art. 168 Abs. 2 poln.
StGB.
das rechtskräftige Urteil des Bezirksgerichts Bialystok vom 17.04.1997 (III K 48/97)
Gegen den Verfolgten wurde eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten
wegen Beihilfe zur Hehlerei (Art. 215 Abs. 2, 265 Abs. 2 poln. StGB) verhängt. Am
28.03.1995 half er in Karcze/Polen einem unbekannten Täter einen PKW Toyota-
Landcruiser, der am 13./14.03.1995 in Gdansk/Polen entwendet worden war, zu veräußern,
indem er diesen mit gefälschten Fahrzeugpapieren nach Weißrussland überführen wollte.
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In der Zeit vom 06.03 bis 09.05.1997 hat er sich in dieser Sache in Untersuchungshaft
befunden.
Nach Angaben der polnischen Behörden ist der Verfolgte polnischer Staatsangehöriger.
Nach seinen eigenen Angaben ist er (auch) deutscher Staatsangehöriger. Er lebt seit 1989
mit seiner Familie in Deutschland und ist im Besitz eines gültigen deutschen
Personalausweises. Bei seiner richterlichen Anhörung am 22.08.2004 hat er sich mit der
Auslieferung nicht einverstanden erklärt.
Der Senat hat durch Beschluss vom 08.09.2004 die Auslieferungshaft angeordnet.
Der Verfolgte hat durch Schriftsatz seines Wahlbeistandes vom 15.10.2004 Einwendungen
gegen seine Auslieferung erhoben.
II.
Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Auslieferung des Verfolgten sowohl zur
Strafverfolgung als auch zur Strafvollstreckung für zulässig zu erklären, ist zu entsprechen.
Dabei konnte über die durch Schriftsatz des Wahlbeistands vom 15.10.2004 erhobenen
Einwendungen des Verfolgten im schriftlichen Verfahren entschieden werden; eine nach
der bisherigen Rechtslage gebotene erneute Anhörung durch den Amtsrichter (vgl. § 28
Abs. 2 IRG) war zur Gewährung rechtlichen Gehörs nicht erforderlich, weil dem Verfolgten
die Auslieferungsunterlagen bei seiner richterlichen Anhörung nach der Festnahme
bekannt gegeben worden sind.
1. Nachdem das Europäische Haftbefehlsgesetz (EuHbG) vom 21. Juli 2004 (BGBl. I S.
1748) am 23. August 2004 in Kraft getreten ist (Art. 3 EuHbG), richtet sich die
"Unterstützung eines Mitgliedstaats der Europäischen Union" und insbesondere die
"Auslieferung an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union" nach neuem Recht. Gemäß
§ 1 Abs. 4 IRG n.F. ist deshalb an die Stelle des zuvor im Verhältnis zu Polen geltenden
EuAlÜbk der neue Achte Teil, insbesondere Abschnitt 2, des IRG (§§ 80 ff. IRG) getreten.
a) Der Anwendbarkeit des neuen Rechts steht nicht entgegen, dass das gegenständliche
Auslieferungsverfahren noch unter der Geltung des alten Rechts eingeleitet worden ist.
Auslieferungsrecht ist seiner Natur nach Verfahrensrecht und nicht materielles Strafrecht.
Deshalb gibt es im Auslieferungsrecht im Grundsatz kein Rückwirkungsverbot. Das EuHbG
enthält keine Übergangsvorschrift (wie sie, in gewissen Grenzen, von Art. 32 RbEuHb
zugelassen wird) – was eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers ist, nach dessen
erklärtem Willen "auch noch nicht abgeschlossene, anhängige Aus- und
Durchlieferungsverfahren nach neuem Recht zu behandeln sind" (BT-Drucks. 15/1718 S.
26).
b) Erst recht hindert der Umstand, dass die Taten, die dem Auslieferungsverfahren
zugrunde liegen, noch vor Inkrafttreten des neuen Rechts begangen worden sind, die
Anwendbarkeit des neuen Rechts nicht – was wiederum dem erklärten Willen des
Gesetzgebers entspricht (BT-Drucks. aaO.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 07.09.2004 – 3
Ausl 80/04 -)
2. Der Europäische Haftbefehl steht einem Auslieferungsersuchen gleich und ersetzt es.
Denn es ist gerade Sinn des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls, die
Rechtshilfebeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten durch ein System des freien
Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen zu ersetzen (Erwägungsgrund [5] zum
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RbEuHb). Für klassische Ersuchen, seien sie diplomatisch oder ministeriell, ist in diesem
System kein Raum mehr, weshalb sie im RbEuHb nicht mehr vorgesehen sind. Davon geht
auch der deutsche Gesetzgeber aus, wenn er sagt: "Das gesamte Fahndungs- und
Auslieferungsverfahren soll zukünftig auf der Grundlage eines einzigen Formulars, der im
Anhang zum RbEuHb wiedergegebenen Bescheinigung, durchgeführt werden" (BT-
Drucks. 15/1718 S. 10; OLG Stuttgart, Beschluss vom 07.09.2004 – 3 Ausl 80/04 -)
a) Der in deutscher Übersetzung vorliegende Europäische Haftbefehl enthält die nach §
83a IRG erforderlichen Angaben. Auslieferungshindernisse i. S. der §§ 6 Abs. 2, 8 IRG
bestehen nicht.
b) Die Voraussetzungen der §§ 3, 81 IRG sind gegeben. Die dem Verfolgten angelasteten
Taten sind im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht. Aus dem
rechtskräftigen Urteil sind noch mehr als vier Monate Freiheitsstrafe zu vollstrecken. Die
Beihilfe zur Hehlerei ist auch nach deutschem Recht strafbar. Bezüglich der Tat vom
08./09.04.1997, die nach deutschem Recht als Vergewaltigung zu beurteilen wäre, bedarf
es im Hinblick auf § 81 Nr. 4 IRG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 RbEuHb der Feststellung der
beiderseitigen Strafbarkeit nicht.
c)
Soweit der Verfolgte die Straftat, die Gegenstand des Haftbefehls ist, bestreitet, steht das
seiner Auslieferung nicht entgegen. Im Auslieferungsverfahren findet eine
Tatverdachtsprüfung grundsätzlich nicht statt. Besondere Umstände, die nach § 10 Abs. 2
IRG ausnahmsweise Anlaß zu einer Tatverdachtsprüfung geben könnten, sind nicht
ersichtlich.
d) Die im Beschluss des Senats vom 08.09.2004 im Hinblick auf § 80 IRG ("Auslieferung
deutscher Staatsangehöriger") geäußerten Bedenken haben sich als gegenstandslos
erwiesen. Der Verfolgte besitzt nicht die deutsche, sondern (nur) die polnische
Staatsangehörigkeit und ist auch nicht gem. § 80 Abs. 3 IRG einem Deutschen
gleichzustellen. Die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten zur Strafvollstreckung
setzt daher nicht voraus, dass gesichert ist, dass die Republik Polen anbieten wird, ihn zur
Vollstreckung auf seinen Wunsch in die Bundesrepublik Deutschland zurück zu überstellen
(§ 80 Abs. 1 IRG). Ebenso wenig hängt die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten zur
Strafverfolgung von seiner Zustimmung ab ( § 80 Abs. 2 IRG ).
aa) Der Verfolgte hat die deutsche Staatsangehörigkeit nicht erworben, weil er den von ihm
im Jahre 1989 gestellten Antrag auf Ausstellung eines Vertriebenenausweises, der ihm -
auf der Grundlage von Art. 116 Abs.1 GG - den Anspruch auf Einbürgerung verschafft hätte,
nicht weiter verfolgt hat. Wie sich aus den dem Senat vorliegenden Verwaltungsvorgängen
der Stadt Remscheid ergibt, ist über den Antrag nicht entschieden worden.
Die Ausstellung des Personalausweises setzt die deutsche Staatsangehörigkeit nur
voraus, stellt aber keinen Erwerbsgrund dar.
bb) Die Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 IRG für die entsprechende Anwendung der
Absätze 1 und 2 auf den Verfolgten sind nicht erfüllt.
Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 4 sind ersichtlich nicht einschlägig, weil der Verfolgte erst im Alter von
27 Jahren nach Deutschland eingereist ist und bis dahin in Polen gelebt hat; auch seine
Ehefrau besitzt nicht die deutsche, sondern – wie der Verfolgte – die polnische
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Staatsangehörigkeit.
Abs. 3 Nr. 2 und 3 scheiden aus, weil der Verfolgte formell weder über eine
Aufenthaltsberechtigung noch über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt bzw. verfügt hat –
unbeschadet des Umstandes, dass sich seitens der deutschen Behörden die Frage der
Aufenthaltsberechtigung des Verfolgten nicht gestellt hat, weil er als vermeintlich Deutscher
angesehen worden ist.
Eine über den Katalog des Abs. 3 hinausgehende entsprechende Anwendung der Absätze
1 und 2 – die der Senat bei dem hier gegebenen Sachverhalt zunächst erwogen hat, wie
sich aus dem Beschluss vom 08.09.2004 ergibt – kommt nach abschließender Prüfung
nicht in Betracht. Die Bestimmung des § 80 Abs. 3 IRG, die erst während des
Gesetzgebungsverfahrens geschaffen wurde, ohne dass insoweit ein Erfordernis zur
Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates über den Europäischen Haftbefehl vom
13.06.2002 bestand, bezweckt die Gleichstellung legal in Deutschland lebender Ausländer
mit deutschen Staatsangehörigen, denen die Ausländerbehörden nach den Bestimmungen
des Ausländergesetzes eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt haben.
Zu diesem Personenkreis zählt der Verfolgte nicht. Sein Antrag auf Ausstellung eines
Vertriebenenausweises wäre von den Behörden abzulehnen gewesen, wie sich aus der
Stellungnahme der Stadt Remscheid vom 21.09.2004 an die Generalstaatsanwaltschaft
ergibt. Der Verfolgte hatte – trotz entsprechender Aufforderung durch die Behörden – die
nötigen Unterlagen zur Feststellung seiner deutschen Volkszugehörigkeit nicht
beigebracht. Es ist auch nicht ersichtlich, dass er sie hätte beibringen können oder jetzt
noch beibringen kann. Die von der Stadt Remscheid angestellten Ermittlungen zur
Feststellung der deutschen Volkszugehörigkeit des Verfolgten verliefen ohne jedes
Ergebnis. Der Verfolgte hätte unter diesen Umständen näher darlegen müssen, dass er den
Antrag mit Erfolg hätte weiterverfolgen können bzw. dies jetzt noch kann.
Hiernach ist davon auszugehen, dass mit – zeitnaher – Ablehnung des Antrags auf
Ausstellung des Vertriebenenausweises die Aufenthaltsberechtigung des Verfolgten in
Deutschland geendet hätte mit der Folge, dass er bereits damals zur Ausreise (nach Polen)
verpflichtet gewesen wäre.
Etwas anderes ergibt sich entgegen der Ansicht des Verfolgten auch nicht daraus, dass
ihm durch die Stadt Remscheid ein endgültiger Personalausweis ausgestellt wurde.
Der Senat vermag zunächst keine Rechtsgrundlage für die Ausstellung des
Personalausweises zu erkennen, die insbesondere nicht in der erwähnten Stellungnahme
der Stadt Remscheid in Bezug genommenen Verfügung des Regierungspräsidenten in
Düsseldorf vom 31.03.1988 gesehen werden kann.
Aus den nachstehenden Gründen spricht schon viel dafür, dass es zur Ausstellung des
Personalausweises aufgrund unvollständiger und für einen erfolgreichen Antrag erkennbar
unzureichender Angaben des Verfolgten gekommen ist. Der Verfolgte hat jedenfalls die
durch die Erteilung des Personalausweises geschaffene Situation in unredlicher Weise
ausgenutzt :
Es erschließt sich dem Senat nicht, mit welcher Berechtigung der Verfolgte angenommen
haben soll, dass sich dadurch sein Antrag auf Ausstellung eines Vertriebenenausweises
erledigt haben könnte, der allein zu seiner Einbürgerung in Deutschland hätte führen
können. Dass sich der Verfolgte nach dem Stand seines Antrags je erkundigt bzw.
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angefragt hat, ob sich der Antrag mit der Ausstellung des Personalausweises erledigt habe,
ist nicht ersichtlich. Einer derartigen Annahme steht im übrigen auch entgegen, dass die
Stadt Remscheid den Verfolgten ungeachtet der Ausstellung des Personalausweises mit
Schreiben vom 26.03.1990 zur Vervollständigung der bis dahin nur lückenhaft ausgefüllten
Antragsformulare aufgefordert hat, was dieser unbeantwortet ließ.
Soweit die nach Wohnsitzwechseln des Verfolgten jeweils zuständigen
Einwohnermeldeämter es bei Verlängerungen des Personalausweises (der jetzt im Besitz
des Verfolgten befindliche Personalausweis ist 1996 durch die Gemeinde Kreuzau
ausgestellt worden) anscheinend unterlassen haben, die deutsche Staatsangehörigkeit des
Verfolgten festzustellen, kann der Verfolgte daraus mangels eines schutzwürdigen
Vertrauens ebenfalls nichts zu seinen Gunsten herleiten.
Der Senat muß angesichts der zahlreichen Eintragungen im Zentralregister
( der Verfolgte ist in Deutschland seit 1995 vielfach bestraft worden, u.a. wegen
Steuerhinterziehung, Unterschlagung, Betrugs, Körperverletzung, schweren Diebstahls
sowie wegen Beihilfe zu schwerer räuberischer Erpressung, hat Freiheitsstrafen verbüßt,
steht bis zum 12.06.2006 unter Bewährung und befindet sich derzeit wegen des Verdachts
der Verabredung zu einem Verbrechen in Untersuchungshaft )
davon ausgehen, dass es sich bei dem Verfolgten nicht um einen unbescholtenen Bürger
handelt, der sich in redlicher Weise um die Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit
bemüht und im Vertrauen auf gesetzmäßiges Handeln der Behörden in Deutschland eine
neue Existenz begründet hat.
Nach alledem war dem Auslieferungsersuchen der Republik Polen uneingeschränkt zu
entsprechen.