Urteil des OLG Köln vom 19.01.2000

OLG Köln: beeinträchtigung der körperlichen integrität, neues vorbringen, unterlassen, versicherungsrecht, diagnose, tumor, befund, abklärung, sicherheit, kernspintomographie

Oberlandesgericht Köln, 5 U 149/99
Datum:
19.01.2000
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 U 149/99
Vorinstanz:
Landgericht Bonn, 9 O 310/98
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 9. Zivilkammer des
Landgerichts Bonn vom 18.06.1999 - 9 O 310/98 - wird zurückgewiesen.
Auf die Anschlußberufung der Klägerin werden die Beklagten zu 1) bis
4) verurteilt, an die Klägerin als Gesamtschuldner ein weiteres
Schmerzensgeld in Höhe von 10.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem
29.11.1999 zu zahlen. Die Beklagten zu 1) bis 4) tragen die Kosten des
Berufungsverfahrens als Gesamtschuldner. Das Urteil ist vorläufig
vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die zulässige Berufung der Beklagten zu 1) bis 4) bleibt in der Sache ohne Erfolg,
wohingegen der Anschlußberufung der Klägerin in vollem Umfang stattzugeben war.
Entsprechend den im wesentlichen zutreffenden Ausführungen des Landgerichts im
angefochtenen Urteil haften die Beklagten zu 1) bis 4) der Klägerin auf Schadensersatz
wegen der Entfernung einer Niere gemäß den §§ 847, 823, 831, 31 BGB bzw.
hinsichtlich des materiellen Schadens aus dem Gesichtspunkt positiver
Vertragsverletzung des Behandlungsvertrages i. V.
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m. § 278 BGB. Nach den überzeugenden Feststellungen des erstinstanzlichen
Sachverständigen gereicht es den Beklagten zum Vorwurf, daß sie fehlerhaft
medizinisch gebotene Befunderhebungsmaßnahmen unterlassen haben, die zur
Abklärung eines bei der Klägerin bestehenden unklaren Krankheitsbildes, nämlich
eines malignen oder aber benignen Nierentumors erforderlich gewesen wären. Der
erstinstanzliche Sachverständige hat mit überzeugender und in allen Punkten
nachvollziehbarer Begründung mit nicht zu überbietender Deutlichkeit dargelegt, daß
den Beklagten insoweit ein Befunderhebungsmangel anzulasten ist. So hat er darauf
hingewiesen, daß sowohl auf Grund der sonographischen Befunde als auch auf Grund
der CT-Untersuchung die Dignität der renalen Raumforderung nicht bestimmbar
gewesen sei. Zwar reicht nach den Feststellungen des Sachverständigen für die
präoperative Diagnostik eines Nierentumors eine CT-Untersuchung normalerweise aus;
vorliegend bestand jedoch die Besonderheit, daß die CT-Aufnahme entsprechend dem
schriftlichen Befund von Dr. D. veratmet war und somit nur eine eingeschränkte
Beurteilung erlaubte. Entgegen der Ansicht der Beklagten bezog sich diese mangelnde
Aussagekraft der CT-Aufnahme auch auf den renalen Bereichpunkt; dies ergibt sich
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sowohl aus dem schriftlichen Sachverständigengutachten von Prof. Dr. E. als auch aus
der eigenen Befundung des Dr. D.. Dessen gesamte Ausführungen unter dem Stichwort
"Beurteilung" beziehen sich ausschließlich auf den Nierenbereich und insbesondere auf
die dortige größere Raumforderung. Wenn in diesem Zusammenhang dann auch darauf
hingewiesen wird, daß nur eine eingeschränkte Beurteilbarkeit besteht, da die Patientin
nicht optimal die Luft habe anhalten können, so bezieht sich dieser Hinweis auf eine
eingeschränkte Beurteilbarkeit eindeutig gerade auf den Nierenbereich. Vor diesem
Hintergrund erscheint es auch nachvollziehbar, wenn Prof. Dr. E. ausgeführt hat, nach
dieser CT-Untersuchung sei die Dignität der renalen Raumforderung nicht bestimmbar
gewesen; ebenso überzeugend ist seine Schlußfolgerung, daß die präoperative
Untersuchung schon aus urologischer Sicht die von ihm aufgelisteten drei Mängel
aufweise, nämlich die abschließende Verwertung eines nur beschränkt
aussagekräftigen CTs, das Unterlassen einer gebotenen Dichtemessung mit der Folge
eines fehlenden Nachweises von Fettgewebsanteilen in der Raumforderung sowie das
Unterlassen ausreichender Nativ-Aufnahmen. Diese Feststellungen des
Sachverständigen stehen zudem in Einklang mit dem Befundbericht des Dr. D., der
ebenfalls ausdrücklich darauf hingewiesen hat, daß die Beschaffenheit der
Raumforderung in der Niere urologisch weiter abgeklärt werden solle. Es überzeugt
deshalb ohne weiteres, wenn der Sachverständige ausgeführt hat, es sei eine
Dichtemessung durchzuführen gewesen, damit man den Fettgewebsanteil in der
Raumforderung einigermaßen ausreichend hätte bestimmen können. Wie sich aus
seinen weiteren Ausführungen ergibt, wäre mit einer solchen Bestimmung der
Fettgewebsanteile besser abzuklären gewesen, ob es sich um einen bösartigen Tumor
oder aber eben, wie sich dann auch nachher nach Entfernung der Niere herausgestellt
hat, nur um eine Fettgeschwulst handelte. Zusätzlich wäre nach den Ausführungen des
Sachverständigen eine Beurteilung der KM-Anreicherung der peripheren Tumorzone
durch Fertigung von Nativaufnahmen eindeutig zu beurteilen gewesen. Es überzeugt
deshalb, wenn der Sachverständige ferner darauf hinweist, daß angesichts der
unzureichenden Beurteilbarkeit des vorliegenden CTs eine neuerliche CT-
Untersuchung mit zwei oder sogar drei Untersuchungsschnitten hätte durchgeführt
werden müssen. Aussagekräftig ist auch der Hinweis von Prof. E. darauf, daß der
festgestellte Tumor schon in dem vorliegenden CT nicht den raumfordernden Charakter
gehabt habe, wie er für Malignität typisch sei und man ferner durch eine genauere
Differenzierung von Fettgewebe die präoperative Diagnose hätte weiter eingrenzen
können. Den Senat überzeugt nach allem die Feststellung des Sachverständigen, daß
typische Zeichen der Malignität wie raumfordernder Charakter, der in der typischen
Weise im vorliegenden CT nicht erkennbar sei und die genauere Differenzierung von
Fettgewebe die präoperative Diagnose weiter hätte eingrenzen können und müssen mit
der sich als Alternative anbietenden Durchführung einer Kernspintomographie zur
Differenzialdiagnostik Hyperneephrom/Angiomyolipom.
An diesen Feststellungen hat der Sachverständige auch bei seiner mündlichen
Anhörung vor dem Landgericht festgehalten und erneut darauf hingewiesen, daß im
Hinblick auf die fehlende Dichtemessung und eine fehlende Aufnahme ohne
Kontrastmittel in jedem Fall eine weitere Untersuchung und Befundabklärung
vorzunehmen gewesen wäre, nämlich eine neuerliche CT-Untersuchung oder aber eine
Kernspintomographie; wenn der Sachverständige insoweit darauf hingeweisen hat, daß
sich diese zusätzlichen Befunderhebungsmaßnahmen "aufgedrängt" hätten, so ergibt
sich hieraus zur Genüge die Unabdingbarkeit der Durchführung der vorbenannten
weiteren diagnostischen Maßnahmen mit dem Ziel der abschließenden Abklärung der
Beschaffenheit der Raumforderung an der Niere.
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Zwar hat Prof. Dr. E. auch darauf hingewiesen, daß bei verbleibenden Restzweifeln
hinsichtlich der Beschaffenheit der Raumforderung nach umfänglicher Befunderhebung
eine diagnostische Nierenfreilegung und gegebenenfalls auch eine Nierenentfernung
erforderlich ist, wobei im vorliegenden Fall nicht letztlich geklärt erscheint, ob auch bei
umfänglicher Diagnostik eine abschließende Klärung der Beschaffenheit der
Raumforderung möglich gewesen wäre; diese restlichen Zweifel hinsichtlich der
Kausalität gehen jedoch vorliegend zu Lasten der Beklagten, da diese insoweit den
Kausalitätsgegenbeweis zu erbringen haben. Eine derartige Beweislastumkehr ist bei
Fällen unterlassener medizinisch gebotener Befunderhebung zur Abklärung eines
unklaren Krankheitsbildes nämlich dann zu bejahen, wenn ein positiver Befund zu
Gunsten des Patienten anzunehmen ist, falls ein solcher hinreichend wahrscheinlich
erscheint (siehe BGH NJW 1999/3408,3410).
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Diese Voraussetzung ist vorliegend zu bejahen, denn Prof. Dr. E. hat ausdrücklich
darauf hingewiesen, daß bei adäquaten CT-Techniken eine präoperative Diagnose mit
bis zu 95%iger Sicherheit gestellt werden kann.
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Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß mit 95%iger Sicherheit im Falle der Klägerin die
Gutartigkeit der Geschwulst bei adäquater präoperativer Diagnostik festzustellen
gewesen wäre, würde sich auch eine Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft dargestellt
haben. Dies erscheint im vorliegenden Fall zweifelsfrei. Entsprechend des
Ausführungen des Sachverständigen wäre bei festgestellter Gutartigkeit der Geschwulst
die Niere überhaupt nicht freigelegt worden, wie der Sachverständige insbesondere
auch anläßlich seiner mündlichen Anhörung vor der Kammer ausdrücklich klargestellt
hat. In diesem Zusammenhang hat er darauf hingewiesen, daß auf Grund eines
benignen Befundes eine Operation nicht indiziert gewesen wäre, weder eine Entfernung
der Niere noch auch nur deren Freilegung. In diesem Zusammenhang hat der
Sachverständige ferner darauf hingewiesen, daß insofern auch nicht wegen einer
theoretisch denkbaren Blutungsgefahr eine Notwendigkeit zum operativen Vorgehen
bestanden hätte, womit die dahingehende Behauptung der Beklagten im Schriftsatz vom
10.12.1999 bereits widerlegt ist.
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Die dahingehenden Feststellungen des Sachverständigen sind eindeutig und von den
Beklagten auch jedenfalls nicht substantiiert angegriffen worden.
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Im übrigen wäre den Beklagten insoweit auch ein gravierender Aufklärungsmangel
vorzuwerfen. Der Einwilligung der Klägerin in das operative Vorgehen lag nämlich die
ihr von dem Beklagten vermittelte Vorstellung zugrunde, es handele sich um eine
bösartige Geschwulst. Soweit die Beklagten in dem bereits erwähnten nachgelassenen
Schriftsatz vorgetragen haben, sie seien in erster Linie wegen der präoperativ
diagnostizierten Größe des Tumors von einem Angiomyolipom ausgegangen und hätten
sich deshalb zur Nierenfreilegung entschieden, worauf die Klägerin auch bereits im
Rahmen des Aufklärungsgespräches hingewiesen worden sei, handelt es sich um
gänzlich neues Vorbringen, das zudem in nicht zu vereinbarendem Widerspruch zu dem
Arztbrief hinsichtlich der stationären Behandlung der Klägerin (Blatt 9 und 10
Gerichtsakten) steht. Wenn es dort nämlich heißt, der Tumor sei sowohl
computertomographisch als auch sonographisch hochgradig Malignomverdächtig
erschienen und auch intraoperativ habe sich ein maligner Prozeß nicht ausschließen
lassen, weshalb man die Niere entfernt habe, wobei sich dann im Rahmen der
histologischen Aufarbeitung des Präparates "überraschenderweise" der Befund eines
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multifokalen Angioleiomyolipoms ergeben habe, so erweist dies zur Genüge, daß die
behandelnden Ärzte in keiner Weise präoperativ an die Möglichkeit einer gutartigen
Geschwulst mit fehlender Operationsindikation gedacht haben; vor diesem Hintergrund
ist auch auszuschließen, daß sie die Klägerin entsprechend aufgeklärt haben, weshalb
auf das nunmehrige dahingehende Vorbringen der Beklagten nicht weiter einzugehen
ist.
Vor dem Hintergrund des vorstehend Gesagten kann letztlich dahinstehen, ob bereits
der Verstoß gegen die Befunderhebungspflicht für sich allein genommen ein grober
Behandlungsfehler war. Zwar wäre das Unterlassen zweifelsfrei gebotener
Befunderhebungsmaßnahmen als solches noch nicht zwingend als schwerer
Behandlungsfehler zu werten (siehe BGH NJW 1998/1780); vorliegend neigt der Senat
jedoch dazu - ohne daß es hierauf noch entscheidend ankäme -, das Unterlassen der
von Prof. Dr. E. als geboten erachteten weiteren Befunderhebungsmaßnahmen schon
als nicht mehr hinnehmbaren und unverständlichen Verstoß gegen medizinischen
Diagnosestandard zu erachten. Wenn Prof. Dr. E. darauf hingewiesen hat, die von ihm
im einzelnen aufgeführten bereits erwähnten diagnostischen Maßnahmen hätten
"durchgeführt werden müssen" sowie, daß es sich im vorliegenden Fall "aufgedrängt
habe", weitere präoperative Diagnostik zu betreiben, so wertet der Senat dies bereits im
Sinne seine groben Behandlungsfehlers, wenngleich der Sachverständige die
dahingehende und im übrigen auch nicht von ihm als Mediziner zu beantwortende
abschließende Frage des Gerichts ausweichend beantwortet hat. Diese Versäumnisse
wertet der Senat vor dem Hintergrund der Ausführungen des Sachverständigen schon
als Verstöße gegen elementare Behandlungsregeln, die aus objektiver ärztlicher Sicht
nicht mehr verständlich sind und einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen dürfen.
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Nach allem sind die Beklagten zum Ersatz des immateriellen und materiellen Schadens
der Klägerin infolge der Entfernung einer Niere verpflichtet. Insoweit erscheint die Höhe
des vom Landgericht zuerkannten Schmerzensgeldes nicht ausreichend, weshalb der
Anschlußberufung der Klägerin stattzugeben war, mit der Folge, daß die Beklagten der
Klägerin insgesamt ein Schmerzensgeld in Höhe von 35.000,00 DM zu zahlen haben.
Der Verlust einer Niere erweist sich als eine bereits gravierende Beeinträchtigung der
körperlichen Integrität; selbst wenn es sich hierbei um ein Zwillingsorgan handelt, so
bedeutet der Verlust einer Niere insbesondere auch deshalb eine gravierende
Beeinträchtigung, weil hiermit das Bewußtsein verbunden ist, im Falle einer Erkrankung
der zweiten Niere zum Dialysepatienten zu werden. Der vom Senat zuerkannte Betrag
bewegt sich im Rahmen dessen, was in vergleichbaren Fällten den Patienten
zugesprochen worden ist (siehe z. B. OLG Köln vom 05.03.1987 Versicherungsrecht
88/855, OLG Frankfurt Versicherungsrecht 95/785, BGH Versicherungsrecht 84/538,
OLG Köln Versicherungsrecht 91/311, OLG Karlsruhe r+s 97/61).
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97, 92 ZPO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Ziffer 10, 713
ZPO.
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Berufungsstreitwert: bis zum 29.11.1999: 35.000,00 DM, ab dann 45.000,00 DM
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Beschwer der Beklagten zu 1) bis 4): 45.000,00 DM
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