Urteil des OLG Köln vom 22.01.2010
OLG Köln (gefahr im verzug, schuldfähigkeit, stpo, stgb, bak, blutalkoholkonzentration, verletzung, blutprobe, versäumnis, gefahr)
Oberlandesgericht Köln, III-1 RVs 5/10
Datum:
22.01.2010
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
III-1 RVs 5/10
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch
über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des
Amtsgerichts Aachen zurückverwiesen.
Gründe
1
I.
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Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Trunkenheit zu einer
Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu je 20,00 Euro verurteilt.
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Es hat zum Schuldspruch festgestellt:
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"Am 08.11.2008 befuhr der Angeklagte gegen 03:26 Uhr mit einem Fahrrad unter
anderem die L. in A., obwohl er zuvor Alkohol getrunken hatte. Eine um 04:31 Uhr
entnommene Blutprobe ergab einen Wert von 2,24 Promille."
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Zur Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagte zur Tatzeit ist im Urteil nichts ausgeführt.
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Die Revision des Angeklagten rügt Verletzung formellen und materiellen Rechts.
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II.
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Das Rechtsmittel hat (vorläufigen) Erfolg. Es führt auf die Sachrüge zur Aufhebung des
angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.
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Die - oben wiedergegebenen - Feststellungen im angefochtenen Urteil zum
Schuldspruch sind materiell-rechtlich unvollständig, weil sie trotz eines festgestellten
Entnahmewertes von 2,24 Promille nicht die tatgerichtliche Prüfung eines etwaigen
Ausschlusses der Schuldfähigkeit des Angeklagten (§ 20 StGB) erkennen lassen.
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Wenn zur Frage der Schuldfähigkeit die maximale Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit
auf der Grundlage einer nach der Tat entnommenen Blutprobe ermittelt werden muss,
sind zugunsten des Angekl. für den gesamten Zeitraum der Rückrechnung ein
stündlicher Abbauwert von 0,2 Promille und zusätzlich ein einmaliger
Sicherheitszuschlag von 0,2 Promille anzusetzen (BGHSt 37, 231 [237]; BGH NStZ
1995, 539; ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur SenE v. 20.08.1999 - Ss 374/99 - =
VRS 98, 140; SenE v. 15.09.2009 - 83 Ss 78/09 -; Fischer, StGB, 57. Auflage, § 20 Rn.
13 mit weiteren Nachweisen). Das führt hier zu einer BAK von 2,66 Promille
(Zeitdifferenz zwischen Tatzeit 3:26 Uhr und Blutentnahme 4:31 Uhr = 1 Stunde 5
Minuten; BAK der Blutprobe 2,24 Promille + 0,2 + 0,02 + 0,2 = 2,66 Promille).
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Dieser BAK-Wert von 2,66 ‰ hätte dem Amtsgericht Anlass zu Feststellungen zur Frage
der Schuldfähigkeit des Angeklagten geben müssen. Zwar ist davon auszugehen, dass
erst bei Blutalkoholwerten von 3 ‰ und darüber die Voraussetzungen des § 20 StGB
naheliegend sind (Senat NJW 1982, 2613; vgl. Fischer a.a.O. § 20 Rn. 19, 20 mit
Nachweisen). Gleichwohl kann auch bei geringeren Werten die Schuldfähigkeit bereits
ausgeschlossen sein (Fischer a.a.O. mit Nachweisen). Daher ist schon bei Werten ab
2,5 ‰ in der Regel § 20 StGB zu erörtern (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur
Senat VRS 80, 34, 36; SenE v. 27.04.1999 - Ss 67/99 - m. w. Nachw.; vgl. auch
BayObLG NJW 2003, 2397 = zfs 2003, 369 = NZV 2003, 434 = VRS 105, 212;
BayObLG NZV 2005, 494).
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Für die erneute Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
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a.
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Es spricht im vorliegenden Fall viel dafür, dass der Polizeibeamte die - ihm
grundsätzlich zustehende - Eilkompetenz aus § 81a Abs. 2 StPO wegen einer
ansonsten eintretenden "Gefährdung des Untersuchungserfolgs" zurecht in Anspruch
genommen hat.
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Ein Richter wäre frühestens erst wieder um 6.00 Uhr erreichbar gewesen. Denn nach
der maßgeblichen AV des Justizministers NW vom 15.05.2007 (JMBl. NRW S. 165, dort
Ziff. 1.1.) besteht ein richterlicher Eildienst in der Zeit von 6:00 Uhr bis 21:00 Uhr. Die
Blutentnahme hätte sich daher nicht unerheblich verzögert, während der Arzt zeitnah
erreichbar war. Abgesehen von der mit einer solchen Verzögerung für den Angeklagten
verbunden Belastung bestand mithin - insbesondere auch weil der Angeklagte eine
Atemalkoholkontrolle verweigert hatte und daher keine zuverlässige Einschätzung des
Maßes seiner Alkoholisierung möglich war - die Gefahr des Absinkens der
Blutalkoholkonzentration unter rechtlich relevante Grenzwerte verbunden mit der mit
fortschreitender Zeit zunehmenden Unsicherheit der Ermittlung der
Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit. Aus diesen Gründen liegt im vorliegenden Fall
eine Gefährdung des Untersuchungserfolgs für den Fall nahe, dass eine richterliche
Anordnung hätte abgewartet werden müssen.
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b. Aber selbst bei einer abweichenden Beurteilung folgt für den hier zur Entscheidung
stehenden Fall aus einem - dann vorliegenden - Beweiserhebungsverbot kein
Beweisverwertungsverbot.
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Nach dem objektiv vorliegenden Sachverhalt liegt die willkürliche Annahme von Gefahr
im Verzug oder das Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Fehlers, die ein
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Verwertungsverbot nach sich ziehen könnten (BVerfG NJW 2008, 3053), nicht nahe.
c.
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Aber auch ein sonstiger besonders schwer wiegender Verstoß - jenseits willkürlichen
Handelns oder einer bewussten Umgehung des Richtervorbehalts - ist nicht
anzunehmen. Ein solcher wird nicht dadurch begründet, dass bei dem Amtsgericht
Aachen ein richterlicher Eildienst auch zur Nachtzeit (im Sinne des § 104 Abs. 3 StPO)
nicht eingerichtet war.
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Die von 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm für den Landgerichtsbezirk
Bielefeld vertretene gegenteilige Auffassung (OLG Hamm StV 2009, 567 = NJW 2009,
3109 = StraFo 2009, 417) beruht zunächst auf der implizierten Prämisse, ein sonstiger
besonders schwer wiegender Verstoß gegen den Richtervorbehalt (Rz. 45: "fehlerhafte
Missachtung des Richtervorbehalts durch die Justizverwaltung"; Rz. 51: "gröbliche
Verletzung durch die Justizverwaltung") könne - anders als in den bislang von der
Rechtsprechung entschiedenen Fällen (vgl. nur BGHSt 51, 285 = NJW 2007, 2269; OLG
Bamberg NJW 2009, 2146; SenE v. 27.10.2009 - 81 Ss 65/09 = BeckRS 2010 00255) -
nicht nur im Verhalten des jeweils Anordnenden, sondern auch in einem strukturellen
Versäumnis der Justizverwaltung gefunden werden. Denn es liegt auf der Hand, dass
der Umstand des fehlenden richterlichen Eildienstes zur Nachtzeit nicht dem
handelnden Polizeibeamten angelastet werden kann.
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Auch der erkennende Senat hält indessen Fälle für vorstellbar, in welchen ein solches
strukturelles Versäumnis der Justizverwaltung als besonders schwer wiegender Verstoß
im Sinne der vorzitierten Rechtsprechung gewertet werden muss.
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Der erkennende Senat ist allerdings nicht der Auffassung, dass die Nichteinrichtung
eines richterlichen Bereitschaftsdienstes zur Nachtzeit zu Sicherung des
Richtervorbehalts aus § 81a Abs. 2 StPO einen - der willkürlichen oder bewussten
Umgehung dieses Richtervorbehalts gleich zu achtenden - schwerwiegenden Fehler
begründet.
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Zur Wohnungsdurchsuchung (§§ 102, 105 StPO, Art. 13 GG) hat - worauf sich auch der
3. Strafsenat des OLG Hamm stützt - das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen,
dass zur Nachtzeit nicht stets und unabhängig vom konkreten Bedarf ein richterlicher
Eildienst vorgehalten werden müsse; ein solcher sei allerdings dann
verfassungsrechtlich gefordert, wenn hierfür ein praktischer, über den Ausnahmefall
hinausgehender Bedarf bestehe (BVerfG NJW 2004, 1442). Auf den
einfachgesetzlichen Richtervorbehalt des § 81a Abs. 2 StPO ist diese Rechtsprechung
nicht übertragbar. Dies ist sowohl bei der Frage, ob aus einer Verletzung des Vorbehalts
ein Beweisverwertungsverbot folgen kann, unter dem Gesichtspunkt der Schwere eines
eventuellen Fehlers wertend mit heranzuziehen, als auch schon bei der Vorfrage, ob
wegen der Anzahl der Blutentnahmen zur Nachtzeit ein Eildienst zwingend erforderlich
ist (so zutreffend, aber nicht tragend OLG Hamm - 4. Strafsenat - StraFo 2009, 509; vgl.
zu allem auch: BVerfG NJW 2008, 3053).
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