Urteil des OLG Köln vom 20.10.2000
OLG Köln: beweisantrag, auflage, fahrzeug, rüge, beweismittel, rückwärtsfahren, aufklärungspflicht, zeugenaussage, behandlung, kollision
Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
1
2
3
4
5
6
Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, Ss 438/00 Z - 180 Z -
20.10.2000
Oberlandesgericht Köln
1. Strafsenat
Beschluss
Ss 438/00 Z - 180 Z -
I.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
II.
Das angefochtene Urteil wird mit den getroffenen Feststellungen
aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung -
auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht
Aachen zurückverwiesen.
G r ü n d e:
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen nicht ausreichender Vorsicht beim
Rückwärtsfahren zu einer Geldbuße von 75,00 DM verurteilt. Das Amtsgericht hat folgende
Feststellungen getroffen:
"Am 2.03.2000 befuhr der Betroffene gegen 11.47 Uhr die K.straße in Richtung
V.straße . Er suchte einen Parkplatz, als er an einer freien Parktasche auf der rechten
Straßenseite vorbeigefahren war, hielt er an und fuhr zurück, um in den Stellplatz einfahren
zu können. Hierbei kam es zur Kollision mit dem von dem Herrn G. geführten Fahrzeug.
Herr G. war mit seinem Kraftfahrzeug in Gegenrichtung unterwegs und wollte einen vor ihm
an einer Bushaltestelle stehenden Bus überholen, nachdem er dem Betroffenen die
Vorfahrt gewährt hatte. Hierzu mußte er auf die Gegenfahrbahn ausweichen. Bei der
Kollison stieß das Fahrzeug des Betroffenen mit der linken hinteren Ecke in den hinteren
linken Bereich des Fahrzeugs des Herrn G. , das durch die Kollision u. a. am linken
hinteren Radkasten und an der hinteren linken Tür beschädigt wurde.
Beim Rückwärtsfahren hatte der Betroffene das Fahrzeug des Herrn G. übersehen, er
hätte es jedoch bei genügender Aufmerksamkeit erkennen können."
Das Amtsgericht hat die Einlassung des Betroffenen, er habe nicht zurückgesetzt, aufgrund
der Aussage des Zeugen G. als widerlegt angesehen.
Mit dem Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wird Versagung
rechtlichen Gehörs gerügt. Hierzu wird vorgetragen:
7
8
9
10
11
12
13
14
In der Hauptverhandlung habe der Betroffene mit einem Beweisantrag auf Vernehmung
von drei Zeugen die Behauptung unter Beweis gestellt, der Betroffene habe sein Fahrzeug
nicht zurückgesetzt; das Amtsgericht habe diesen Beweisantrag mit der Begründung
zurückgewiesen, die Vernehmung des Zeugen könne zur Wahrheitsfindung nichts
beitragen. Weiter sei ein Beweisantrag auf Einholung eines
Unfallrekonstruktionsgutachtens zu der Behauptung gestellt worden, der Schaden am
Fahrzeug des Herrn G. sei dadurch entstanden, dass er gegen den stehenden Wagen des
Betroffenen gefahren sei; auch dieser Beweisantrag sei zurückgewiesen worden, weil die
Aussage des Zeugen G. überzeugend sei.
Über die Zulassung der Rechtsbeschwerde hat nach § 80 a Abs. 2 Nr. 2 OWiG der Senat in
der Besetzung mit einem Richter zu entscheiden (SenatsE NZV 1999, 264 = VRS 96, 451).
Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, da das angefochtene Urteil wegen Versagung
rechtlichen Gehörs aufzuheben ist (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG). Dieser Zulassungsgrund wird
durch § 80 Abs. 2 OWiG nicht eingeschränkt (ständige Senatsrechtssprechung, vgl. NStZ
1988, 31; NZV 1998, 476 = VRS 95, 383; NZV 1999, 264 = VRS 96, 451; Göhler, OWiG,
12. Auflage, § 80 Rnr. 16 i; Steindorf in KK, OWiG, 2. Auflage, § 80 Rnr. 40 c).
Die Rüge der Versagung rechtlichen Gehörs, mit der die Ablehnung von zwei
Beweisanträgen beanstandet wird, entspricht jedenfalls hinsichtlich der Ablehnung des
Beweisantrags auf Einholung eines Sachverständigengutachten den Anforderungen des §
344 Abs. 2 Satz 2 StPO.
Diese Vorschrift gilt für alle Verfahrensrügen und damit auch für die Rüge der Versagung
rechtlichen Gehörs (ständige Senatsrechtssprechung, vgl. SenatsE NZV 1998, 476 = VRS
95, 383; Göhler OWiG, 12. Auflage, § 80 Rnr. 16 d; Steindorf in KK, OWiG, 2. Auflage, § 80
Rnr. 41). Der Tatsachenvortrag in der Rechtsbeschwerdebegründung muss dem
Rechtsbeschwerdegericht die Überprüfung ermöglichen, ob der gerügte Verfahrensfehler
vorliegt, wenn das tatsächliche Vorbringen zutrifft (SenatsE VRS 94, 123; 95, 383).
Soweit die Ablehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung von drei Zeugen beanstandet
wird, ist der Tatsachenvortrag nicht ausreichend. Um beurteilen zu können, ob die
Ablehnung eines Beweisantrags eine Verletzung rechtlichen Gehörs darstellt, muss dem
Vorbringen zumindest auch entnommen werden können, ob überhaupt ein Beweisantrag
gestellt und fehlerhaft behandelt worden ist. Wird die Nichtvernehmung von Zeugen
beanstandet, so müssen sie namentlich genannt werden (Alsberg/Nüse/Meyer, Der
Beweisantrag im Strafprozess, 5. Auflage, Seite 878). Daran fehlt es in der
Rechtsbeschwerdebegründung.
Soweit die Ablehnung eines Beweisantrags auf Einholung eines
Sachverständigengutachtens gerügt wird, reicht aber der Tatsachenvortrag in der
Rechtsbeschwerdebegründung. Grundsätzlich muss zwar bei der Rüge der Verletzung
rechtlichen Gehörs dargelegt werden, was der Betroffene im Fall seiner Anhörung geltend
gemacht hätte (vgl. Göhler a. a. O. § 80 Rnr. 16 c). Dies gilt aber nicht, wenn - wie hier - die
Versagung rechtlichen Gehörs darin liegen soll, dass ein Beweisantrag nicht berücksichtigt
worden ist, da es in einem solchen Fall für die Beruhensfrage nicht darauf ankommt, was
der Betroffene noch weiter hätte vortragen können, sondern nur darauf, ob das nicht
berücksichtigte Verteidigungsvorbringen entscheidungserheblich sein konnte (vgl. SenatsE
NZV 1999, 264 = VRS 96, 451).
Ob das rechtliche Gehör verletzt ist, muss bereits im Zulassungsverfahren geprüft werden
15
16
17
(BVerfG NJW 1992, 2811, 2812; SenatsE NZV 1998, 476 = VRS 95, 383; Göhler a. a. O. §
80 Rnr. 16 c). Liegt eine Versagung rechtlichen Gehörs vor, so gebietet § 80 Abs. 1 Nr. 2
OWiG die Zulassung der Rechtsbeschwerde (BVerfG NJW 1992, 2811, 2812). Die Prüfung
ergibt im vorliegenden Fall, dass das Amtsgericht durch die Behandlung des vom
Betroffenen in der Hauptverhandlung gestellten Beweisantrags das rechtliche Gehör des
Betroffenen verletzt hat.
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Artikel 103 Abs. 1 GG) gebietet, Beweisanträge, auf
die es für die Entscheidung ankommt, zu berücksichtigen, sofern nicht Gründe des
Prozessrechts es gestatten oder dazu zwingen, sie unbeachtet zu lassen (BVerfG NJW
1996, 2785, 2786; SenatsE vom 11.04.2000 - Ss 175/00 - ; Steindorf a. a. O. § 80 Rnr. 41).
Eine lediglich prozessordnungswidrige Behandlung von Beweisanträgen ist noch keine
Verweigerung rechtlichen Gehörs (SenatsE VRS 83, 446; Senatsentscheidung vom
11.04.2000 - Ss 175/00). Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Entlastungszeugen
unter Verstoß gegen § 77 OWiG kann aber eine Versagung rechtlichen Gehörs sein
(Göhler, a. a. O., § 80 Rnr. 16 b). Jedenfalls verletzt eine willkürliche Ablehnung eines
Beweisantrags, also die Ablehnung eines Beweisantrags ohne nachvollziehbare, auf das
Gesetz zurückführbare Begründung, die unter Berücksichtigung der das Grundgesetz
beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist, das rechtliche Gehör (BVerfG NJW
1992, 2811; OLG Celle VRS 84, 232; SenatsE NZV 1998, 476 = VRS 95, 383; SenatsE
vom 11.04.00 - Ss 175/00 -; Steindorf a. a. O., § 80 Rnr. 41).
Nach diesen Grundsätzen hat das Amtsgericht das rechtliche Gehör des Betroffenen
verletzt.
Das beantragte Sachverständigengutachten, dass die Widerlegung des einzigen
Belastungszeugen bezweckte, konnte nicht ohne Verstoß gegen § 77 OWiG abgelehnt
werden. Nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG kann das Gericht einen Beweisantrag ablehnen,
wenn nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die Beweiserhebung zur Erforschung der
Wahrheit nicht erforderlich ist. Die Ablehnung eines Beweisantrags steht damit nicht im
Belieben des Gerichts und darf vor allem nicht willkürlich erfolgen. Zur Ausübung des
pflichtgemäßen Ermessens gehört, dass der Grundsatz der Wahrheitserforschungspflicht (§
77 Abs. 1 OWiG) unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache beachtet wird (vgl.
SenatsE VRS 81, 201, 202; 88, 376). Drängt sich die Erhebung eines angebotenen
Beweises auf oder liegt sie zumindest nahe, muss das Gericht dem Antrag nachgehen,
anderenfalls verletzt es seine Aufklärungspflicht (SenatsE VRS 88, 376). Ist der
Sachverhalt aufgrund verlässlicher Beweismittel und ohne Mißachtung der
Aufklärungspflicht so eindeutig geklärt, dass die beantragte Beweiserhebung an der
gerichtlichen Überzeugung nichts ändern würde, darf von weiterer Beweiserhebung
abgesehen werden (vgl. SenatsE VRS 81, 202; 88, 376). Diese Voraussetzungen sind
jedoch regelmäßig nicht erfüllt, wenn sich gleichwertige Beweismittel gegenüberstehen
(SenatsE VRS 88, 376). So darf der beantragten Beweiserhebung in der Regel ein weiterer
Aufklärungswert nicht abgesprochen werden, wenn sie der Entkräftung des bisherigen,
lediglich auf der Aussage eines Zeugen beruhenden Beweisergebnisses dienen soll
(BayObLG VRS 84, 44; OLG Düsseldorf NStZ 1991, 542; OLG Karlsruhe NStZ 1988, 226;
SenatsE VRS 81, 201; 88, 376; SenatsE vom 13.05.1997 - Ss 237/97; Göhler, a. a. O.; § 77
Rnr. 14; Senge in KK OWiG, 2. Auflage, § 77 Rnr. 17). Wird die Vernehmung eines
Sachverständigen gerade zu dem Zweck beantragt, die Aussage des einzigen
Belastungszeugen zu widerlegen, so darf das Gericht den Beweisantrag nicht ablehnen,
wenn im Fall der Bestätigung der Beweisbehauptung durch den Sachverständigen der
Beweiswert der Zeugenaussage erschüttert würde (BayObLG VRS 84, 44; SenatsE VRS
18
19
20
88, 376; Göhler a. a. O. § 77 Rnr. 14). Nur ausnahmsweise kann der Tatrichter aufgrund
besonderer Umstände des Einzelfalles von dieser Regel abweichen, dann nämlich, wenn
der Sachverhalt aufgrund einer zuverlässigen Zeugenaussage geklärt ist und
demgegenüber die zusätzlich beantragte Beweiserhebung keinen Aufklärungswert hat
(OLG Düsseldorf NStZ 1991, 542, 543).
Ein solcher Ausnahmefall lag hier nicht vor. Es hätte sich vielmehr die weitere
Beweiserhebung vor allem deshalb aufgedrängt, weil der einzige Belastungszeuge der
Unfallgegner war, dessen Fahrzeug ebenfalls beschädigt worden ist und der
möglicherweise wegen der Frage der zivilrechtlichen Haftung für die Unfallschäden daran
interessiert ist, den Betroffenen als schuldigen Unfallverursacher hinzustellen. Soll die
Aussage eines solchen Zeugen durch einen Beweisantrag widerlegt werden, kann der
Tatrichter den Antrag nicht ablehnen, ohne gegen seine Pflicht, die Wahrheit zu erforschen,
zu verstoßen. Es stellt nicht nur eine Verletzung des einfachen Verfahrensrechts, sondern
eine Verletzung des verfassungsrechtlich geschützten rechtlichen Gehörs dar, wenn dem
Betroffenen ein für ihn günstigerer, möglicher Verfahrensausgang durch
Nichtberücksichtigung seines unter Beweis gestellten Sachvortrags nur deshalb
vorenthalten worden ist, weil sich der Tatrichter bei der Gesetzesanwendung eklatant
versehen hat (vgl. OLG Celle VRS 84, 232).
Die somit § 79 Abs. 1 Satz 2 zulässige Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
Wird die Rechtsbeschwerde vom Einzelrichter zugelassen, weil es geboten ist, das Urteil
wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG), so ist er
auch für die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde zuständig (vgl. SenatsE NZV 1998,
476 = VRS 95, 383). Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen
Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht, weil - wie oben
ausgeführt - das Amtsgericht das rechtliche Gehör des Betroffenen dadurch verletzt hat,
dass er den Beweisantrag ohne nachvollziehbare Begründung abgelehnt hat.