Urteil des OLG Köln vom 26.04.2007
OLG Köln: steuerberater, einspruch, geschäftsführung ohne auftrag, anfang, veröffentlichung, ausgabe, meinung, einkünfte, adresse, breite
Oberlandesgericht Köln, 8 U 49/06
Datum:
26.04.2007
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
8. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
8 U 49/06
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 2 O 175/05
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das am 20.07.2006 verkündete Urteil
der 2. Zivilkammer des Landgerichts Köln – 2 O 175/05 – wird
zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird zugelassen.
G r ü n d e :
1
I.
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Der Kläger begehrt vom Beklagten, seinem langjährigen steuerlichen Berater,
Schadensersatz wegen angeblicher Pflichtwidrigkeit im Zusammenhang mit
steuerberatender Tätigkeit.
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Die Mandatierung des Beklagten umfasste die laufende Beratung und beinhaltete die
Erstellung der Buchführung sowie der Steuererklärungen.
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Der Kläger hatte im Jahr 1997 Einkünfte aus Spekulationsgewinnen in Höhe von
450.960,00 DM erzielt, im Jahr 1998 solche in Höhe von 678.536,00 DM. Unter dem
24.01.2001 erließ das Finanzamt K. die Einkommensteuerbescheide des Klägers für die
Veranlagungszeiträume 1997 und 1998. Die Bescheide gingen dem Beklagten am
24.01.2001 zu. Er legte gegen diese Bescheide keinen Einspruch ein, so dass sie mit
Ablauf des 24.02.2001 bestandskräftig wurden.
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Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Leistung von Schadensersatz in Höhe von
318.712,00 €; hierbei handelt es sich um den Betrag, den er aufgrund der genannten
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Steuerbescheide an Spekulationssteuern entrichten musste.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, der Beklagte hätte gegen die genannten
Einkommensteuerbescheide Einspruch einlegen müssen. Die Verfassungsmäßigkeit
bzw. –widrigkeit von § 23 Abs. 1 S. 1 b) EStG sei bereits lange vor der unterlassenen
Einspruchseinlegung im Februar 2001 in Rechtsprechung und Literatur intensiv
thematisiert und diskutiert worden. In der Ausgabe Nr. 4 der Zeitschrift EFG im Jahr
2000 sei das Urteil des Schleswig Holsteinischen Finanzgerichts vom 23.09.1999 – V
7/99 - mit dem ausdrücklichen Hinweis abgedruckt gewesen, dass gegen dieses Urteil
Revision beim Bundesfinanzhof eingelegt worden sei, auch das Aktenzeichen des
Bundesfinanzhofs sei mitgeteilt worden. Damit habe bereits Anfang des Jahres 2000
festgestanden, dass beim Bundesfinanzhof ein Revisionsverfahren anhängig gewesen
sei, das sich spezifisch mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit bzw.
Verfassungswidrigkeit von § 23 Abs. 1 S. 1 b) EStG befasst habe. Der Bundesfinanzhof
habe dann mit Beschluss vom 16.07.2002 - IX R 62/99 – die Verfassungswidrigkeit der
Vorschrift angenommen und habe eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
hierzu eingeholt. Das Bundesverfassungsgericht habe die Vorschrift für
verfassungswidrig erklärt. In der einschlägigen Kommentarliteratur sei bereits seit
Anfang 2000 von einer Verfassungswidrigkeit der Vorschrift ausgegangen worden.
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Der Kläger hat behauptet, die zur Beurteilung anstehende Frage der
Verfassungswidrigkeit von § 23 Abs. 1 S. 1 lit. 1. b) EStG sei vor Ablauf der
Einspruchsfrist am 24.02.2001 die vermutlich am meisten diskutierte – und
insbesondere auch in der Tagespresse am meisten publizierte – Frage des Steuerrechts
gewesen. Der Kläger ist insoweit der Ansicht gewesen, der Beklagte habe diese
Berichterstattung kennen, ihn hierüber informieren und ihm zur Einlegung eines
Rechtsmittels raten müssen. Der Beklagte habe ihn so weit belehren müssen, dass ihm
eine eigenverantwortliche Entscheidung möglich gewesen sei. Hätte der Beklagte ihn
auf die Möglichkeit der Anfechtung und die einzuhaltenden Fristen hingewiesen, hätte
er auf der Einlegung von Rechtsmitteln bestanden. Er behauptet, er sei auf der
Grundlage der mit dem Beklagten vor Zustellung der maßgeblichen Steuerbescheide
geführten Gespräche ohnehin als selbstverständlich davon ausgegangen, dass der
Beklagte vor dem Hintergrund des anhängigen und hinreichend medial verbreiteten sog.
"Tipke-Verfahrens" Einspruch einlegen werde.
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Wenn der Beklagte gegen die Steuerbescheide fristgerecht Einspruch eingelegt hätte,
hätte er, der Kläger, die in den Steuerbescheiden aufgeführten Spekulationsgewinne
nicht versteuern müssen. Ihm ist – insoweit unstreitig – ein Schaden in Höhe von
318.712,00 € entstanden – Anl K 3 AnlH.
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Der Kläger hat behauptet, er habe das Thema der Verfassungswidrigkeit von § 23 Abs.
1 S. 1 b) EStG mehrfach vor Ablauf der Einspruchsfrist mit dem Beklagten thematisiert.
Dieser habe ihm erklärt, solange die Steuererklärungen noch offen seien, bestehe kein
Handlungsbedarf. Ende Mai 2004 – nach Bekanntwerden der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts - habe der Beklagte ihm gegenüber eingeräumt, dass er
einen Fehler gemacht habe.
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Der Kläger hat beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, an ihn 318.712,00 € nebst Zinsen in Höhe
von 8 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.04.2005 zu
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zahlen.
Der Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
14
Der Beklagte hat behauptet, das von Prof. Tipke eingeleitete Klageverfahren sei
zwischen den Parteien weder vor noch unmittelbar nach Erlass der
streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1997 und 1998
thematisiert worden.
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Der Beklagte ist der Ansicht gewesen, ihm sei keine Pflichtverletzung im Hinblick darauf
anzulasten, dass er gegen die streitgegenständlichen Einkommensteuerbescheide
keinen Einspruch eingelegt habe. Das Urteil des Finanzgerichts Schleswig Holstein
vom 23.09.1999 habe er nicht kennen müssen, da es keine höchstrichterliche
Entscheidung darstelle und im übrigen in der Zeitschrift EFG veröffentliche worden sei,
mithin in einer Zeitschrift, deren Nichtdurchsicht keine Pflichtverletzung eines
Steuerberaters darstelle. Er habe dieses anhängige Verfahren auch nicht kennen
müssen, da eine Verpflichtung, alle beim Bundesfinanzhof, beim
Bundesverfassungsgericht und beim Europäischen Gerichtshof anhängigen Verfahren
in Steuersachen zu kennen, nicht erfüllbar sei. Zudem sei weder nach der
Rechtsprechung bzw. nach dem Stand der herrschenden Meinung in der Literatur
erkennbar gewesen, dass § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 b) EStG für verfassungswidrig erklärt
werden würde. Es gehöre nicht zum Pflichtenkreis des Steuerberaters, einen Einspruch
einzulegen, wenn nach dem Stand von Rechtsprechung und Literatur einem Einspruch
keine Erfolgsaussicht beigemessen werden könne. Es könne einem Steuerberater nicht
zugemutet werden, Kenntnis von allen möglicherweise für seinen Mandantenkreis
relevanten finanzgerichtlichen Verfahren zu haben. Eine solche weitreichende
Informationspflicht des Steuerberaters könne diesem auch im Hinblick auf das Gebot,
Schaden von seinem Mandanten fern zu halten, nicht zugemutet werden. Es sei in
diesem Zusammenhang auch zu bedenken, dass ein später zurückgenommener
Einspruch erhebliche Kosten für den Mandanten auslöse, die vorliegend mit 2.826,11 €
zu Buche geschlagen wären.
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Der Beklagte hat darüberhinaus die Einrede der Verjährung erhoben.
17
Das Landgericht hat in seinem am 20.07.2006 verkündeten Urteil ein pflichtwidriges
Unterlassen durch den Beklagten verneint. Dieser habe von der Verfassungsmäßigkeit
des § 23 Abs. 1, Satz 1 Nr. 1 b) EStG ausgehen dürfen. Die Unkenntnis der
Entscheidung des Schleswig- Holsteinischen Finanzgerichts v. 23.09.1999 sei dem
Beklagten nicht vorzuwerfen, zumal das Gericht sogar von der Verfassungsmäßigkeit
der genannten Norm ausgegangen sei. Abweichende Auffassungen im Schrifttum habe
der Beklagte nicht berücksichtigen müssen. Aus der Tagespresse habe er das sog.
Tipke-Verfahren nicht kennen müssen.
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Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Rechtschutzziel weiter,
wobei er im Wesentlichen sein erstinstanzliches Vorbringen wiederholt und vertieft:
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Schon in der Ausgabe 4 der Zeitschrift EFG sei das Urteil des Schleswig-
Holsteinischen Finanzgerichts v. 23.09.1999 mit dem ausdrücklichen Hinweis
abgedruckt gewesen, dass Revision zum BFH eingelegt worden sei. In der
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Tagespresse sei die Frage der Verfassungsmäßigkeit § 23 Abs. 1, Satz 1 Nr. 1 b) EStG
noch vor Ablauf der Einspruchsfrist am 24.02.2001 in umfassender Weise diskutiert
worden. Schmidt habe im Standardkommentar zum EStG in der 19. Aufl. 2000 darauf
hingewiesen, dass zur erwähnten Problematik ein Revisionsverfahren beim
Bundesfinanzhof anhängig sei. Im Übrigen behauptet der Kläger weiterhin, mit dem
Beklagten die Frage der Verfassungsmäßigkeit mehrfach vor Ablauf der Einspruchsfrist
thematisiert zu haben. In einer solchen Diskussion Anfang 2000 habe der Beklagte
erwidert, solange die Steuererklärungen noch offen seien, bestehe kein
Handlungsbedarf. In einem Gespräch Ende Mai 2004 habe der Beklagte als Fehler
eingeräumt, dass er die Einlegung der Einsprüche offensichtlich übersehen habe. Der
Kläger meint, der Beklagte habe hier den sichersten Weg wählen müssen und daher auf
jeden Fall vorsorglich Einspruch gegen die Steuerbescheide 1997 und 1998 einlegen
müssen, wenn er sich pflichtgemäß informiert hätte. Eine weitere regresspflichtige
Pflichtverletzung liege auch darin, dass der Beklagte ihn nicht einmal über die
Möglichkeit der Einspruchseinlegung und den Fristablauf unterrichtet habe; diese Pflicht
gelte unabhängig davon, welche Erfolgsaussicht für den Rechtsbehelf bestehe. Das
angefochtene Urteil gehe hier offensichtlich von einem falschen Sachverhalt aus, wenn
es annehme, der Kläger habe nicht belehrt werden müssen, weil ihm die Möglichkeit der
Einspruchseinlegung ohnehin bekannt gewesen sei. Die Steuerbescheide mit der
Rechtsmittelbelehrung seien nämlich beim Beklagten zugestellt worden. Bei
zutreffender Belehrung hätte er den Beklagten selbstverständlich zur
Einspruchseinlegung angewiesen.
Der Kläger beantragt,
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den Beklagten unter Abänderung des am 20.07.2006 verkündeten Urteils
der 2. Zivilkammer des Landgerichts Köln zu verurteilen, an ihn
318.712,00 € nebst Zinsen in Höhe von 8 Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz seit dem 14.04.2005 zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
24
Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung
seines erstinstanzlichen Vorbringens. Er meint, die Entscheidungssammlung EFG
gehöre nicht zur Pflichtlektüre des Steuerberaters. Die Anforderungen würden
überspannt, wenn die Auswertung sämtlicher Fachpublikationen verlangt würde. Im
relevanten Zeitraum sei gerade nicht erkennbar gewesen, dass § 23 Abs. 1, Satz 1 Nr. 1
b) EStG für verfassungswidrig erklärt werden würde, erst im Juli 2002 sei der
Vorlagebeschluss des BFH bekannt geworden. Das Vorbringen, der Kläger habe die
Problematik mehrfach mit ihm ab Anfang 2000 erörtert, hält der Beklagte für
unsubstantiiert und bestreitet es im Übrigen. Das erstmals im nachgelassenen
Schriftsatz vom 07.06.2006 erfolgte Vorbringen, er – der Beklagte – habe den Kläger
nicht über die Möglichkeit der Einspruchseinlegung belehrt, sei neu und schon
erstinstanzlich nicht berücksichtigungsfähig gewesen. Eine Rechtspflicht zur Belehrung
bestehe im Übrigen nur dann, wenn es für ein Rechtsmittel einen Anlass geben könnte.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens der Parteien wird auf den
Inhalt der im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze verwiesen.
26
II.
27
Die formell bedenkenfreie Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
28
Das Landgericht hat nach Auffassung des Senates zu Recht eine Verletzung von
Beratungs- und Aufklärungspflichten der Beklagten gegenüber dem Kläger abgelehnt.
Demzufolge besteht auch kein Schadensersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1 BGB. Mit
den für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkten hat sich das Landgericht in der
angefochtenen Entscheidung bereits zutreffend auseinandergesetzt.
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1.
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Im Grundatz ist davon auszugehen, dass der Steuerberater im Rahmen seines
Auftrages und im Rahmen der diesbezüglich gegebenen Beratungspflicht seinen
Mandanten umfassend zu beraten und ungefragt über alle bedeutsamen steuerlichen
Einzelheiten und deren Folgen zu unterrichten hat (vgl. BGH, WM 1994, 602, 603; BGH,
WM 1998, 301, 302; BGH, MDR 2003, 689; BGH, MDR 2004, 746; Senat, OLGR 2003,
69 ff; OLG Bremen, GI 2002, 213). Da der Steuerberater seinen Auftraggeber möglichst
vor Schaden bewahren muss, muss er den sichersten Weg zu dem erstrebten
steuerlichen Ziel aufzeigen und sachgerechte Vorschläge zu dessen Verwirklichung
unterbreiten (vgl. BGH NJW 1993, 2799, 2800; BGHZ 129, 386, 396; BGH WM 1998,
301 f; BGH, MDR 2004, 746; OLG Bremen, GI 2002, 213). Er hat dabei den Mandanten
auch in die Lage zu versetzen, eigenverantwortlich seine Rechte und Interessen zu
wahren und eine Fehlentscheidung vermeiden zu können. Er muss den Auftraggeber
daher auch ungefragt nach jeder Richtung über alle steuerrechtlichen Einzelfragen und
deren Folgen erschöpfend belehren und ihn über das Ergebnis seiner Sach- und
Rechtsprüfung aufklären.
31
Dabei hat er auch für die Kenntnis des Steuerrechts einzustehen. Von einem
Steuerberater kann erwartet werden, dass er die im Einzelfall einschlägigen
Steuergesetze, Verordnungen und Erlasse, die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs
in gleich gelagerten Fällen und die ständige Verwaltungspraxis der Finanzämter kennt
(vgl. Gräfe/Lenzen/Schmeer, Steuerberaterhaftung, 4. Aufl., Rn. 234; LG Frankfurt GI
2006, 61 f.).
32
2.
33
Unter dem Blickwinkel der vom Kläger erhobenen Vorwürfe ist ein beratungsrechtliches
Fehlverhalten des Beklagten nach den og. Grundsätzen zu verneinen.
34
a)
35
Nicht als Pflichtwidrigkeit vorwerfbar ist der Umstand, dass der Beklagte die
Entscheidung des Schleswig- Holsteinischen Finanzgerichts v. 23.09.1999 nicht kannte.
Die Entscheidung bzw. der Hinweis auf das Revisionsverfahren beim BFH (nebst
Angabe des revisionsgerichtlichen Aktenzeichens) war zum hier maßgebenden
Zeitpunkt des Ablaufs der Einspruchsfrist am 24.02.2001 nur in der Zeitschrift EFG
("Entscheidungen der Finanzgerichte") veröffentlicht. Diese Veröffentlichung musste der
Beklagte nicht kennen und in seine Überlegungen hinsichtlich des weiteren Vorgehens
einbeziehen.
36
Der Steuerberater hat zwar grundsätzlich für die Kenntnis des Steuerrechts und damit –
in den Grundzügen – auch der veröffentlichten Rechtsprechung der Finanzgerichte
einzustehen. Allgemeiner Meinung zufolge geht diese Verpflichtung indes nicht so weit,
dass jede veröffentlichte erstinstanzliche Entscheidung bzw. jedes Publikationsorgan
sowie jedes beim BFH anhängige Revisionsverfahren bekannt sein muss (vgl.
eingehend Gräfe/Lenzen/Schmeer, Steuerberaterhaftung 4. Aufl., Rdn. 234 ff.). In der
Regel kann vom Steuerberater nur die Kenntnisnahme von Urteilen erwartet werden, die
im Bundessteuerblatt (BStBl) sowie in der von der Bundessteuerberaterkammer
herausgegebenen Zeitschrift "Deutsches Steuerrecht" (DStR) veröffentlicht sind, wobei
sich diese Verpflichtung in erster Linie auch nur auf Urteile des BFH bezieht (vgl.
Gräfe/Lenzen/Schmeer aaO Rdn. 237, 241; LG Hamburg GI 1993, 15 m. w. Nachw.).
37
Gemessen hieran oblag dem Beklagten am 24. Februar 2001 nicht die Kenntnis der
Entscheidung des Schleswig- Holsteinischen Finanzgerichts v. 23.09.1999: In den zur
Pflichtlektüre gehörenden Publikationen war die Entscheidung nicht abgedruckt. Die
Nichtkenntnis der Veröffentlichung in EFG kann dem Beklagten nicht vorgeworfen
werden, weil diese Zeitschrift nicht zur Standardausstattung einer
Steuerberatungspraxis gehört (vgl. Gräfe/Lenzen/Schmeer aaO Rdn. 238; ausdrücklich
auch LG Hamburg a.a.O.).
38
b)
39
Die zur möglichen Verfassungswidrigkeit der Besteuerung von Spekulationsgewinnen
ab etwa 1999 erfolgten Veröffentlichungen in der Tagespresse mussten dem Beklagten
nicht nahe legen, von sich aus Einspruch gegen die fraglichen Steuerbescheide
einzulegen.
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Wird in der Tages- oder Fachpresse über Vorschläge zur Änderung des Steuerrechts
berichtet, die im Falle ihrer Verwirklichung von dem Mandanten des Beraters erstrebte
Ziele unter Umständen vereiteln oder beeinträchtigen, kann der Steuerberater zwar
gehalten sein, sich aus allgemein zugänglichen Quellen über den näheren Inhalt und
den Verfahrensstand solcher Überlegungen zu unterrichten, um danach prüfen zu
können, ob es geboten ist, dem Mandanten Maßnahmen zur Abwehr drohender
Nachteile anzuraten (so BGH NJW 2004, 3487). Entgegen der Auffassung des
Beklagten dürften hier nicht nur Gesetzgebungsvorhaben und daraus folgende
Änderungen des Steuerrechts gemeint sein, sondern auch solche Änderungen des
Steuerrechts, die aus der möglichen Verfassungswidrigkeit einer Steuernorm herrühren.
Im Grundsatz gilt hier allerdings, dass der Steuerberater auf die Verfassungsmäßigkeit
der Gesetze vertrauen darf. Wird später ein Gesetz für verfassungwidrig erklärt, kann
ihm nicht vorgeworfen werden, er habe dies vorher erkennen müssen und u. U. einen
Rechtsbehelf gegen einen Steuerbescheid einlegen müssen. Dies gilt im vorliegenden
Falle erst recht vor dem Hintergrund, dass das Schleswig-Holsteinische Finanzgericht
ausdrücklich von der Verfassungsmäßigkeit der Norm ausging und es das
Bundesverfassungsgericht zuvor noch abgelehnt hatte, Gesetzesnormen wegen
Vollzugsdefizites für verfassungswidrig zu erklären. Bis zur gegenteiligen Entscheidung
des BVerfG oder des EuGH haben die Gesetze die Vermutung der
Verfassungsmäßigkeit für sich. Erst Musterprozesse beim BVerfG und dessen Urteile,
die im BStBl oder in der DStR veröffentlicht worden sind, müssen zum Anlass
genommen werden, Steuerbescheide vorsorglich nicht rechtskräftig werden zu lassen
(vgl. Gräfe/Lenzen/Schmeer aaO Rdn. 245 m. w. N.).
41
Damit beantwortet sich die Frage, ab wann der Steuerberater die Diskussion in der
Tagespresse zum Anlass nehmen muss, diese für sein berufliches Handeln zu
beachten. In der gerade hier maßgebenden Frage der Verfassungswidrigkeit des § 23
Abs. 1, Satz 1 Nr. 1 b) EStG stellt Gräfe nach Ansicht des Senats zutreffend auf den
Zeitpunkt ab, zu dem die Tagespresse über den Musterprozess beim
Bundesverfassungsgericht berichtet hat: Wenn der BFH die Rechtsfrage dem BVerfG
vorlegt, muss dies vom Steuerberater beachtet werden. Dabei reicht insoweit die
Information durch die Tagespresse aus, wenn zuvor schon breit über die Thematik
berichtet worden ist (vgl. Gräfe/Lenzen/Schmeer aaO Rdn. 245 m. w. N.). In der hier
zugrunde liegenden Frage teilte der Bundesfinanzhof aber erst in der Pressemitteilung
vom 18.07.2005 (zu finden unter der Adresse
http://www.bundesfinanzhof.de/www/index2.html) mit, dass er eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zu der Frage einhole, ob die Versteuerung privater
Wertpapiergeschäfte gem. § 23 Abs. 1, Satz 1 Nr. 1 b) EStG 1997 mit dem Grundgesetz
insoweit unvereinbar sei, als die Durchsetzung des Steueranspruchs wegen
struktureller Vollzugshindernisse weitgehend vereitelt werde. Bis zu diesem Zeitpunkt
musste ein Steuerberater keine ernsthaften Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der
Besteuerung von Spekulationsgewinnen haben (so auch LG Frankfurt GI 2006, 64 zu
einem Parallelfall; Gräfe/Lenzen/Schmeer aaO Rdn. 245 m. w. N.).
42
Ein Ansatzpunkt für die Haftung des Beklagten wegen Nichtbeachtung der Tagespresse
besteht danach nicht.
43
Auch aus den in der mündlichen Verhandlung erörterten Gründen war der Beklagte
nicht zum Offenhalten der Steuerbescheide verpflichtet. Weder die Breite der
Berichterstattung in der Tagespresse noch die Höhe der hier in Rede stehenden
Steuerforderung mussten den Beklagten hier veranlassen, vorsorglich Einspruch gegen
die Steuerbescheide einzulegen. Der Senat sieht in den genannten Punkten keine
geeigneten Kriterien, um Ausnahmen vom oben erwähnten Grundsatz annehmen zu
können, dass der Steuerberater jedenfalls solange von der Verfassungsmäßigkeit einer
Norm ausgehen kann, bis über die Anhängigkeit eines Verfahrens beim
Bundesverfassungsgericht berichtet wird. Wie bereits das Landgericht zutreffend
ausgeführt hat, fehlt jede Eingrenzung, anhand welcher Tageszeitungen der
Steuerberater sich insoweit informieren müsste und ab welcher Häufigkeit der
Berichterstattung er veranlasst sein soll, seinen Mandanten entsprechend zur Einlegung
von Einsprüchen zu raten oder dies im Sinne der Geschäftsführung ohne Auftrag gar
selbst vorzunehmen. Weiterhin kann die Höhe der in Rede stehenden
Steuerforderungen kein geeignetes Abgrenzungskriterium darstellen; auch ein Mandant,
bei dem es um weniger hohe Einkünfte geht, darf erwarten, dass der Steuerberater sich
im Rahmen des vorgegebenen Pflichtenkreises bestmögliche Kenntnisse des
Steuerrechts und der anstehenden Veränderungen der gesetzlichen Grundlagen
verschafft. Ein Auswerten der gesamten Tagespresse auf relevante steuerrechtliche
Fragen kann dem Steuerberater nicht zugemutet werden. Dabei müsste er über die
schon nicht zu leistende reine Lektüre hinaus stets für jeden seiner – möglicherweise
mehreren hundert - Steuerfälle hinaus untersuchen, ob sich aus einer Zeitungsmeldung
für den einzelnen Mandanten eine Relevanz ergeben könnte. Dies stellt eine
Überspannung des Pflichtenkreises dar und führte letztlich dazu, dass der Steuerberater
quasi aus Vorsichtsgründen in jedem Fall zur Einlegung von Einsprüchen raten müsste,
so dass es zur Überschwemmung der Finanzbehörden mit Rechtsbehelfen käme.
44
c)
45
Der Vortrag des Klägers, er habe in einer Reihe von Gesprächen Anfang 2000 den
Beklagten auf die Problematik hingewiesen, ist unsubstantiiert und wird vom Kläger
auch nicht unter Beweis gestellt.
46
d)
47
Schließlich hatte der Beklagte auch keine Pflicht, den Kläger über die Möglichkeit der
Einlegung eines Rechtsmittels zu belehren bzw. diesem die Einspruchseinlegung zu
empfehlen. Dies wäre nur dann geboten gewesen, wenn das Rechtsmittel hinreichende
Aussicht auf Erfolg versprochen hätte und daher ein Anlass für eine entsprechende
Belehrung bestanden hätte. Für die Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussicht ist
auf die Rechtslage während des Laufes der Rechtsmittelfristen abzustellen. Ist die
Rechtsprechung zu dem Zeitpunkt ungeklärt und sind Tendenzen nicht eindeutig
absehbar, ist eine hinreichende Erfolgsaussicht zu verneinen (Senat, OLGR 2003, 69).
48
Hier gelten die Ausführungen zu b) sinngemäß; nach der seinerzeitigen
Rechtsprechung der Finanzgerichte konnte der Beklagte nicht prognostizieren, dass §
23 Abs. 1, Satz 1 Nr. 1 b) EStG 1997 für verfassungswidrig erklärt werden würde. Er
durfte von der fortbestehenden Geltung der Norm ausgehen.
49
Darüber hinaus bedurfte der Kläger nach Ansicht des Senat auch keiner abstrakten
Belehrung über die Einspruchsmöglichkeit. Er schreibt als Journalist und Börsenanalyst
Bücher über Aktiengeschäfte und moderiert Fernsehsendungen zu Geldmarkthemen.
Die von ihm vorgelegten Presseartikel dürften jedenfalls teilweise (z. B.
Wirtschaftswoche, Capital, Financial Times Deutschland u. ä.) zu seiner eigenen
Pflichtlektüre gehören. Die Kenntnis, dass man gegen Steuerbescheide Einspruch
einlegen kann, dürfte bei ihm zu unterstellen sein, zumal er selbst vorträgt (Bl. 63 GA), er
habe sich vor Ablauf der hier streitgegenständlichen Einspruchsfrist mit Bekannten über
die mögliche Verfassungswidrigkeit der Steuernorm unterhalten, die ebenfalls
Spekulationsgewinne erzielt haben und über ihre Steuerberater – "selbstverständlich" –
gegen die entsprechenden Steuerbescheide hätten Einspruch einlegen lassen. Dass
die Steuerbescheide beim Beklagten eingegangen waren, war dem Kläger jedenfalls
mit dem Zugang des Schreibens vom 01.02.2001 (Bl. 108 GA) bekannt.
50
Nach alldem war die Berufung mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO
zurückzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§
708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
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Die Revision ist zuzulassen, da die Rechtssache nach Auffassung des Senats
grundsätzliche Bedeutung für den Berufsstand der Steuerberater hat. Die Frage, wie
weit die Informationspflichten des Steuerberaters in Bezug auf die Auswertung der
Tagespresse und die daraus zu ziehenden Konsequenzen geht, erscheint bislang
höchstrichterlich noch nicht hinreichend geklärt.
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Streitwert für das Berufungsverfahren: 318.712,- €
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