Urteil des OLG Köln vom 09.02.1994
OLG Köln (eltern, körperliche unversehrtheit, gesetzlicher vertreter, geistige behinderung, wirtschaftliche leistungsfähigkeit, einstweilige verfügung, beschwerde, kind, kenntnis, behandlungsfehler)
Oberlandesgericht Köln, 5 W 2/94
Datum:
09.02.1994
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
5 W 2/94
Normen:
§ 1601 BGB; § 1610 II BGB; § 1360 A BGB; PROZEßKOSTENHILFE;
NACHRANGIGKEIT; PROZEßARMUT; UNTERHALTSANSPRUCH;
VOLLJÄHRIGES KIND; UNTERHALTSPFLICHT DER ELTERN;
Leitsätze:
Prozeßkostenvorschuß der Eltern für volljähriges Kind
Ein volljähriges Kind hat Anspruch auf Zahlung von
Prozeßkostenvorschuß gegen seine leistungsfähigen Eltern, solange es
ihnen gegenüber noch keine selbständige Lebensstellung erlangt hat
und soweit sich die beabsichtigte Prozeßführung als persönlich
lebenswichtige Angelegenheit darstellt (§§ 1601, 1610 II, 1360 a BGB).
Ansprüche auf Ersatz des infolge einer Körperverletzung (hier: ärztliche
Fehlbehandlung) erlittenen immateriellen Schadens sind "persönlich
lebenswichtige Angelegenheiten" des Unterhaltsberechtigten.
G r ü n d e
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I. Die Antragstellerin nimmt die Antragsgegnerin mittels einer unter der Bedingung der
Gewährung von Prozeßkostenhilfe erhobenen Klage wegen behaupteter
Behandlungsfehler in ihren ersten Lebenstagen in Anspruch. Sie begehrt ein
angemessenes Schmerzensgeld und Ersatz ihrer materiellen Schäden.
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Die Antragstellerin wurde am 17. Januar 1963 als Zwillingskind im H. Krankenhaus
geboren und anschließend in die von der Antragsgegnerin betriebenen Kinderklinik
verlegt, wo sie - ebenso wie ihre Schwester - anschließend wegen ihrer
Frühgeburtlichkeit stationär behandelt wurde, die ersten Tage auch im Brutkasten. Bei
der Antragstellerin stellte sich ein irreversibler Hirnschaden ein; sie ist seitdem
schwerstbehindert und ein Pflegefall. Aussicht auf Besserung besteht nicht, sie war und
ist in einem Pflegeheim untergebracht. 1981 wurde ihr Vater zu ihrem Vormund bestellt.
An ihn, der noch heute ihr gesetzlicher Vertreter ist, trat 1987 der L.R. heran, um die
Frage einer etwaigen Erstattungspflicht der Eltern für vom Landschaftsverband gewährte
Eingliederungshilfe zu prüfen. Die Eltern der Antragstellerin teilten daraufhin mit, ihrer
Erkenntnis nach sei die geistige Behinderung der Antragstellerin auf Behandlungsfehler
in der Kinderklinik der Beklagten zurückzuführen. Die Zwillingsschwestern seien ohne
Rücksicht auf ihr unterschiedliches Geburtsgewicht gemeinsam in einem Brutkasten
versorgt worden, wodurch es bei der Antragstellerin wegen nicht angepaßter
Sauerstoffzufuhr zu einer kleinen Gehirnblutung gekommen sei.
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Die Antragstellerin behauptet, ihre Behinderung rühre von verschiedenen zum Teil
groben Diagnoseund Therapiefehlern in der Klinik der Antragsgegnerin her, die sie im
einzelnen ausführlich darlegt. Ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse hat
sie in ihrem am 18. Januar 1993 bei Gericht eingegangenen Antrag auf Gewährung von
Prozeßkostenhilfe offengelegt. Zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen ihrer
Eltern hat sie keine Angaben gemacht. Ihr Vater ist selbständiger Steuerberater.
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Die Antragsgegnerin hat in ihrer Stellungnahme zum Prozeßkostenhilfegesuch die
Einrede der Verjährung erhoben und Behandlungsfehler bestritten.
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Das Landgericht hat die Gewährung von Prozeßkostenhilfe mit Beschluß vom 15.
November 1993 abgelehnt und ausgeführt, hinsichtlich der behaupteten materiellen
Schäden der Antragstellerin habe diese einen Prozeßkostenvorschußanspruch gegen
ihre Eltern, der die Gewährung von Prozeßkostenhilfe ausschließe. Hinsichtlich eines
eventuellen Schmerzensgeldanspruchs bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine
Aussicht auf Erfolg, da ein solcher Anspruch jedenfalls nach § 852 BGB verjährt sei.
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Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer am 8. Dezember 1993
eingegangenen Beschwerde. Mit ihrer Beschwerdebegründung vom 13. Januar 1994
hat sie vorgetragen, ihr Vater sei seit 1985 zu 50 % und seit 1991 zu 70 % in der
Erwerbsfähigkeit gemindert. Im übrigen tritt sie dem angegriffenen Beschluß mit
rechtlichen Erwägungen entgegen.
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II. Die nach § 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO zulässige Beschwerde ist sachlich nicht
gerechtfertigt. Der Antragstellerin steht kein Anspruch auf Gewährung von
Prozeßkostenhilfe für die beabsichtigte Rechtsverfolgung zu.
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1. Der Senat teilt die Auffassung des Landgerichts, daß der Antragstellerin mangels
Prozeßarmut keine Prozeßkostenhilfe gewährt werden kann. Es fehlt an der Darlegung,
daß sie außerstande ist, die Prozeßkosten im Wege eines durchsetzbaren
Vorschußanspruchs gegen ihre Eltern zu finanzieren.
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a) Entgegen der Ansicht der Beschwerde kann auch einem volljährigen Kind ein
Anspruch auf Zahlung eines Prozeßkostenvorschusses gegen seine Eltern aus §§
1601, 1610 Abs. 2 BGB zustehen (ebenso OLG Köln FamRZ 1984, 723; 1986, 1031;
OLG Frankfurt FamRZ 1985, 959; OLG Hamburg FamRZ 1988, 760; OLG Karlsruhe
FamRZ 1989, 534; LG Bremen FamRZ 1992, 984; Palandt-Diederichsen, 53. Aufl., §
1610 Rn. 33; Münchener Kommentar-Köhler, Band 5, 2. Halbband, 2. Aufl., § 1610 Rn.
15). Dies folgt daraus, daß die Prozeßkostenvorschußpflicht spätestens seit der
Einführung des § 1360 a Abs. 4 BGB als Ausfluß der Unterhaltspflicht zu qualifizieren ist
(vgl. BGH FamRZ 1984, 148; OLG Köln FamRZ 1986, 1031). Diese Pflicht folgt wegen
der Verschiedenheit der personalen Beziehungen zwischen Ehegatten einerseits und
Eltern und volljährigen Kindern andererseits zwar nicht aus einer analogen Anwendung
des § 1360 a Abs. 4 BGB, aber doch aus §§ 1601, 1610 Abs. 2 BGB (vgl. OLG Köln
FamRZ 1986, 1031, 1032). Die eine Prozeßkostenvorschußpflicht gegenüber
volljährigen Kindern generell ablehnende Gegenansicht (OLG Stuttgart FamRZ 1988,
758), vermag nicht zu überzeugen. Sie beruft sich darauf, das Unterhaltsrecht der
volljährigen Kinder sei dem allgemeinen Verwandtenunterhaltsrecht zugeordnet, das
vom Prinzip der Eigenverantwortlichkeit geprägt sei. Diese Begründung trägt dann nicht,
wenn - wie im zu entscheidenden Fall - eine Eigenverantwortung des
Unterhaltsberechtigten aus Gründen, die seiner Willensentschließung entzogen sind,
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ausscheidet. Dementsprechend stellt die von der Antragstellerin angeführte
Rechtsprechung, soweit im Einzelfall eine Vorschußpflicht verneint wird, auf die jeweils
gegebenen Umstände ab, insbesondere darauf, ob das volljährige Kind eine gegenüber
den Eltern selbständige Lebensstellung erlangt hat (OLG Düsseldorf FamRZ 1986, 698,
699; OLG Frankfurt FamRZ 1986, 926, 927; OLG Hamburg FamRZ 1990, 1141, 1142).
An einer solchen selbständigen Lebensstellung fehlt es im Streitfall, so daß im
Grundsatz eine Prozeßkostenvorschußpflicht der Eltern der Antragstellerin zu bejahen
ist.
b) Inhaltlich ist die Pflicht dahingehend begrenzt, daß die beabsichtigte Prozeßführung
sich als persönlich lebenswichtige Angelegenheit des Unterhaltsberechtigten darstellen
muß (vgl. Palandt-Diederichsen, a.a.O.). Diese Voraussetzungen hat das Landgericht
für einen eventuellen Anspruch auf Ersatz materieller Schäden der Antragstellerin, die
lebenslang jeder Verdienstmöglichkeit beraubt ist, als evident bejaht. Dem ist zu folgen.
Dazu gehören ferner aber auch Ansprüche auf Ersatz des infolge einer
Körperverletzung erlittenen immateriellen Schadens (vgl. Münchener Kommentar-
Köhler, a.a.O.; LG Hagen NJW 1959, 48), denn zwischen imateriellen und materiellen
Schäden besteht in Ansehung des Anspruchs auf körperliche Unversehrtheit kein
Wesensunterschied.
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c) Die Vorschußpflicht entfiele allerdings, wenn der Unterhaltsverpflichtete selbst zu
dem Vorschuß wirtschaftlich nicht in der Lage wäre, ihm also seinerseits
Prozeßkostenhilfe gewährt werden müßte (OLG Köln FamRZ 1982, 416). Davon kann
indessen nicht ausgegangen werden. Die Antragstellerin hat insofern lediglich
vorgetragen, ihr Vater sei seit 1985 in der Erwerbsfähigkeit gemindert und seit mehreren
Jahren Rentner. Über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse,
insbesondere über Einkünfte und Vermögen, ist damit nichts Relevantes gesagt.
Hinsichtlich der Mutter der Antragstellerin fehlt es auch in der Beschwerdeinstanz
insoweit an jeglichem Vortrag. Auch sonst fehlen jegliche Anhaltspunkte für eine
eingeschränkte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Eltern der Antragstellerin. Gegen
die Vorschußpflicht sprechende Umstände sind damit nicht ersichtlich, wie das
Landgericht zutreffend festgestellt hat. Das geht zu Lasten der Antragstellerin, die ihre
Prozeßarmut darzulegen hat.
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d) Der privatrechtliche Anspruch der Klägerin auf Zahlung von Prozeßkostenvorschuß
geht dem öffentlich rechtlichen Anspruch auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe vor
(OLG Frankfurt FamRZ 1985, 959; OLG Köln FamRZ 1986, 1031; LG Bremen FamRZ
1992, 984). Der gesetzlichen Regelung liegt der Gedanke zugrunde, daß die
Gewährung von Prozeßkostenhilfe als Ausnahme von dem Grundsatz zu sehen ist, daß
jedermann das mit einer Prozeßführung verbundene Kostenrisiko eigenverantwortlich
selbst zu tragen hat. Nach § 115 Abs. 2 ZPO hat eine Partei vor der Inanspruchnahme
von Prozeßkostenhilfe ihr Vermögen einzusetzen. Ausgenommen sind nur die in § 88
BSHG genannten Vermögensgegenstände. Unterhaltsansprüche, wozu eben auch ein
Anspruch auf Prozeßkostenvorschuß gehört, zählen dazu nicht. Demgegenüber findet
die einschränkende Ansicht, auf die sich die Antragstellerin beruft (OLG Düsseldorf
FamRZ 1990, 420), im Gesetz keine Stütze. Die zitierte Entscheidung, die sich
ersichtlich stark an den Umständen des Einzelfalles orientiert, bleibt eine Begründung,
warum nur ein Vorschußanspruch, der kurzfristig einigermaßen sicher durchsetzbar ist,
Vermögen im Sinne des § 115 Abs. 2 ZPO sein soll, schuldig. Zu Recht wurde
hiergegen schon früher geltend gemacht, daß ein Prozeßkostenvorschuß innerhalb
kürzester Zeit durch einstweilige Verfügung erlangt werden kann (LG Berlin, DAVorm
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1975, 378). Danach ist das Landgericht trotz der von der Antragstellerin geltend
gemachten Eilbedürftigkeit zu Recht von einer Vorrangigkeit des privatrechtlichen
Anspruchs der Antragstellerin gegenüber der staatlichen Prozeßkostenhilfe
ausgegangen.
Diesem Ergebnis steht auch nicht entgegen, daß die Antragstellerin angeblich aufgrund
von sozilhilferechtlichen Vorschriften staatliche Leistungen erhält, ohne daß deswegen
ein Rückgriff auf ihre Eltern statthaft sein soll. Davon bleibt die auf Vorschriften des
bürgerlichen Rechts gegründete Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber ihren Kindern,
die grundsätzlich lebenslang besteht, im übrigen unberührt. Abgesehen davon darf nicht
übersehen werden, daß sich das schädigende Ereignis bereits zu einem Zeitpunkt
zugetragen hat, zu dem die Eltern der Antragstellerin uneingeschränkt unterhaltspflichtig
waren und im Falle ihrer Leistungsfähigkeit zweifellos auch verpflichtet gewesen wären,
daneben den nunmehr beabsichtigten Rechtsstreit zu finanzieren. Diese Verpflichtung
wird gerade unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit nicht deshalb in Frage gestellt, weil
die Möglichkeit einer Inanspruchnahme der Antragsgegnerin angeblich erst jetzt erkannt
worden ist, denn dadurch wird den Eltern der Antragstellerin kein aufgrund von nach
Volljährigkeit der Antragstellerin eingetrenen Ereignissen zusätzliches Vermögensopfer
auferlegt, für das an sich die Gesamtheit der Steuerzahler aufzukommen hätte, wie die
Antragstellerin offenbar meint.
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2. Nach allem kommt es für die Entscheidung über die Beschwerde nicht darauf an, ob
der Schmerzensgeldanspruch verjährt ist.
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Der Senat hat freilich Zweifel, ob die Rechtsauffassung des Landgerichts in diesem
Punkt zutrifft.
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Werden deliktische Ansprüche im Zusammenhang mit ärztlicher Behandlung geltend
gemacht, reicht es regelmäßig nicht aus, wenn der Patient oder sein Wissensvertreter
(hier die Eltern der Antragstellerin, vgl. BGH NJW 1989, 2323) Kenntnis vom negativen
Ausgang der Behandlung haben (BGH NJW 1991, 2350). Zur nach § 852 Abs. BGB
erforderlichen Kenntnis gehört das Wissen, daß sich in dem Mißlingen der ärztlichen
Tätigkeit das Behandlungs-, nicht das Krankheitsrisiko verwirklicht hat (BGH, a.a.O.).
Notwendig ist das Wissen über die wesentlichen Umstände des Behandlungsverlaufs
(BGH MDR 1985, 834) bzw. das Bewußtsein, welcher Stellenwert dem ärztlichen
Handeln für den eingetrenen Erfolg nach Laienansicht zukommt (BGH NJW 1991,
2350). Medizinisches Fachwissen setzt dies nicht voraus, der Patient oder sein Vertreter
muß aber erkennen, daß der aufgetretene Schaden auf einem Fehlverhalten beruht (vgl.
BGH NJW 1991, 2350), wobei es nicht darauf ankommt, ob aus den bekannten
Tatsachen zutreffende Schlüsse auf den zugrundeliegenden naturwissenschaftlichen
Kausalverlauf oder die rechtlichen Konsequenzen gezogen wurden (BGH NJW 1984,
661).
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Nach diesen Maßstäben kann nicht davon ausgegangen werden, daß die in § 852 Abs.
1 BGB bestimmte Dreijahresfrist bereits 1987 zu laufen begonnen hat. Zwar haben die
Eltern der Antragstellerin dem Landschaftsverband bereits 1987 auf entsprechende
Anfrage mitgeteilt, sie gingen davon aus, es sei kurz nach der Geburt bei der
Antragstellerin wegen mangelnder Sauerstoffzufuhr zu einer Gehirnblutung gekommen,
die letztlich zu deren geistiger Behinderung geführt habe. Das schädigende
Fehlverhalten beruhe auf einer undifferenzierten gleichen Behandlung und Versorgung
der ganz unterschiedlich entwickelten Säuglinge. Diese eher als Vermutung zu
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qualifizierende Darstellung genügt indessen nicht als Kenntnis im Sinne von § 852
BGB, denn mangels Kenntnis der Behandlungsdokumentation und des damals
geltenden medizinischen Standards, war ihnen keine Beurteilung möglich, ob überhaupt
vom Standard abgewichen worden ist und welche Gründe gegebenenfalls dafür
maßgebend waren. Darüber hinaus waren ihnen die weiteren vorgebrachten
angeblichen Behandlungsfehler (Diagnose- und Therapiefehler) 1987 ganz sicher nicht
bekannt. Ob sie sich die notwendige Kenntnis hätten verschaffen können, ist
unerheblich.
Der Senat weist ausdrücklich darauf hin, daß die vorstehenden Ausführungen nichts
über die sachliche Erfolgsaussicht der Klage im übrigen besagen. Diese sind nach der
vorliegenden Behandlungsdokumentation und auf der Grundlage der Erfahrung, die der
Senat mit einer Vielzahl von ähnlich gelagerten Fällen hat, als eher gering einzustufen.
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Gegenstandswert der Beschwerde: 14.000,-- DM.
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