Urteil des OLG Köln vom 07.01.2009
OLG Köln: verfassungskonforme auslegung, dringender tatverdacht, untersuchungshaft, fortdauer, auflage, haftprüfung, verhinderung, vollzug, haftbefehl, erkenntnis
Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 640-641/08
Datum:
07.01.2009
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 640-641/08
Leitsätze:
Zur Wahrung des Gebots des gesetzlichen Richters ist erforderlich, dass
über Haftfragen - abgesehen von dem gesetzlich geregelten Fall der
Haftprüfung bei der Urteilsfällung (§§ 268 b und 120 Abs. 1 S. 2 StPO) -
stets außerhalb der mündlichen Verhandlung nur durch die Berufsrichter
entschieden wird ( Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des
Senats, SenE vom 13.2.1998, NStZ 98, 419 )
Tenor:
Die Beschwerde der Angeklagten I. K. gegen den Beschluss der 5.
großen Strafkammer des Landgerichts K. vom 18.11.2008 wird auf deren
Kosten verworfen.
Der Beschluss vom 7.10.2008 betreffend den Angeklagten S. K. wird
aufgehoben. Insoweit wird das Verfahren zur erneuten Entscheidung
über die Aufrechterhaltung des Haftbefehls an das Landgericht
zurückverwiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens betreffend S. K. und die insoweit
entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten werden der
Staatskasse auferlegt.
G r ü n d e
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I.
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Beide Angeklagten sind am 6.11.2007 vorläufig festgenommen worden und befinden
sich aufgrund der Haftbefehle des Amtsgerichts K. vom 7.11.2007 seit diesem Tag in
Untersuchungshaft. Die Anklage der Staatsanwaltschaft K. vom 17.4.2008 wirft ihnen
gemeinschaftlichen Mord vor. Seit September 2008 findet die Hauptverhandlung vor der
5. großen Strafkammer des Landgerichts K. statt. Weitere Hauptverhandlungstermine
sind noch bis zum Februar 2009 vorgesehen. Der Senat hat mit Beschlüssen vom
2.9.2008 und 15.9.2008 die Fortdauer der Untersuchungshaft über 9 Monate hinaus
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angeordnet.
Mit Beschluss vom 7.10.2008 hat die Strafkammer unter Beteiligung der Schöffen die
Fortdauer der Untersuchungshaft hinsichtlich des Angeklagten S. K. angeordnet. Im
Hauptverhandlungstermin vom 2.12.2008 hat der Angeklagte S. K. Haftbeschwerde
eingelegt, der die Kammer durch den im Hauptverhandlungstermin vom 11.12.2008
verkündeten Beschluss nicht abgeholfen hat.
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Durch Schriftsatz ihres Verteidigers vom 31.10.2008 hat die Angeklagte I. K. außerhalb
der mündlichen Verhandlung Haftprüfung beantragt. Die Strafkammer hat daraufhin am
12.11.2008 ohne Beteiligung der Schöffen einen nichtöffentlichen Haftprüfungstermin
durchgeführt und mit Beschluss vom 18.11.2008 die Fortdauer der Untersuchungshaft
angeordnet. Der gegen diesen Beschluss durch Verteidigerschriftsatz vom 9.12.2008
eingelegten Beschwerde hat die Kammer ohne Beteiligung der Schöffen durch
Beschluss vom 16.12.2008 nicht abgeholfen.
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Beide Angeklagten meinen, es bestehe nach aktuellem Verfahrensstand kein
dringender Tatverdacht gegen sie. Die Angeklagte I. K. lässt weiter rügen, dass die
angefochtene Entscheidung ohne Beteiligung der Schöffen ergangen ist. Hierin liege
ein Verstoß gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters. Die Sache sei deshalb an
das Landgericht zurückzuverweisen. Hilfsweise sei sie zu verschonen.
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II.
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Die Beschwerden sind nach § 304 StPO zulässig, die Beschwerde der Angeklagten I. K.
ist nicht begründet. Die Beschwerde des Angeklagten S. K. hat insoweit Erfolg, als die
Sache zur erneuten Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft an das
Landgericht zurückzuverweisen ist.
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1.
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Die Strafkammer hat zu Recht über den Haftprüfungsantrag der Angeklagten I. K. ohne
Beteiligung der Schöffen entschieden. Soweit der Senat in der Entscheidung vom
13.2.1998 – 2 Ws 717/97-, veröffentlicht in NStZ 98, 419 - zum Ausdruck gebracht hat, er
neige dazu, dass nach Beginn der Hauptverhandlung die Schöffen in und außerhalb in
der Hauptverhandlung an Entscheidungen über Haftfragen zu beteiligen seien, hält er
daran nicht fest.
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Auch zwischen Beginn und Ende der Hauptverhandlung sind nur die Berufsrichter mit
der Haftsache befasst.
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Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 30.4.1997 (BGHSt 43, 91)
ausgeführt, die Praxis der Oberlandesgerichte, bei erstinstanzlichen Verfahren in der
Besetzung mit fünf Berufsrichtern entsprechend der Handhabung bei den
Schöffengerichten und Strafkammern in Haftfragen in der Hauptverhandlung mit fünf
Berufsrichtern und außerhalb der Hauptverhandlung mit drei Berufsrichtern zu
entscheiden, trage dem Erfordernis des gesetzlichen Richters nicht Genüge. Wenn
darauf abgestellt werde, ob der Antrag in oder außerhalb der mündlichen Verhandlung
gestellt werde, werde es den Verfahrensbeteiligten in die Hand gegeben, zu bestimmen
, in welcher Besetzung über die Haftfrage entschieden werde. Im Übrigen würde dieser
Weg ohnehin versagen, wenn zu einer Haftfrage mehrere Anträge, teils in, teils
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außerhalb der mündlichen Hauptverhandlung gestellt würden. Es sei mit Art. 101 Abs. 1
S. 2 GG nicht zu vereinbaren, wenn zwei unterschiedlich besetzte Spruchkörper mit
möglicherweise unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen nebeneinander für die
Entscheidung der gleichen Haftfragen zuständig seien, ohne dass eine hinreichende
Vorausbestimmung des gesetzlichen Richters möglich sei. Bei zweifelhaften Sach- und
Rechtsfragen bestehe zudem die Gefahr divergierender Entscheidungen.
Eine verfassungskonforme Auslegung der Zuständigkeitsvorschrift des § 122 GVG für
die Strafsenate der Oberlandesgerichte erfordere daher, dass während des gesamten
Zeitraums von Beginn bis Ende der Hauptverhandlung nur ein Spruchkörper in einer
einheitlichen Besetzung zur Entscheidung der Haftfrage berufen sein könne.
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Für die Beteiligung der Schöffen bei den Amtsgerichten und Landgerichten stellt sich
das Problem in gleicher Weise. Nach § 30 Abs. 1 GVG nehmen beim Schöffengericht
die Schöffen auch an den im Laufe einer Hauptverhandlung zu treffenden
Entscheidungen teil, die in keiner Beziehung zur Urteilsfällung stehen und auch
außerhalb der mündlichen Verhandlung erlassen werden können. Nach § 30 Abs. 2
GVG werden die außerhalb der Hauptverhandlung erforderlichen Entscheidungen von
dem Richter beim Amtsgericht erlassen. § 76 Abs. 1 S. 2 GVG sieht für die
Strafkammern vor, dass die Schöffen an Entscheidungen außerhalb der
Hauptverhandlung nicht mitwirken. Dass bei den Strafkammern für die Entscheidungen
in der Hauptverhandlung § 30 Abs. 1 GVG entsprechend heranzuziehen ist, unterliegt
keinem Zweifel. Damit ergeben sich verschiedene Entscheidungsgremien je nach dem,
ob in oder außerhalb der mündlichen Verhandlung entschieden wird. Eine
verfassungskonforme Auslegung der Vorschriften kann daher nur dahingehend erfolgen,
dass entweder die Berufsrichter - wie vor Beginn und nach Ende der Hauptverhandlung
- auch während der Hauptverhandlung, gleichgültig ob diese stattfindet oder
unterbrochen ist, allein über die Haftfragen entscheiden oder dass über die Haftfragen
stets außerhalb der mündlichen Verhandlung ohne Beteiligung der Schöffen
entschieden wird.
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Für die Strafsenate der Oberlandesgerichte hat der Bundesgerichtshof die Frage,
welche Besetzung zur Entscheidung berufen sei, dahingehend entschieden, dass stets
das Hauptverhandlungsgremium zu entscheiden habe. Es sei sachgerecht, den
Spruchkörper, der die bisherige Hauptverhandlung durchgeführt habe und zu bewerten
haben werde, auch über die Haftvoraussetzungen, insbesondere die Frage des
Fortbestehens des dringenden Tatverdachts, entscheiden zu lassen. In der
Entscheidung ist aber ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Frage der Besetzung
für Haftentscheidungen während der Hauptverhandlung nur für die Strafsenate der
Oberlandesgerichte, nicht aber die Schöffengerichte und Strafkammern zu beurteilen
sei.
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Tatsächlich bestehen auch gravierende Unterschiede, die eine andere Beurteilung
erfordern.
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Schon bei der Entscheidungskompetenz ist zu berücksichtigen, dass die Strafsenate
gemäß § 122 Abs. 2 S. 1 GVG in der Besetzung mit fünf Berufsrichtern über die
Eröffnung des Hauptverfahrens entscheiden, so dass alle Richter bereits zu Beginn der
Hauptverhandlung die notwendige Sachkenntnis haben. Diese fehlt den Schöffen zu
einem frühen Zeitpunkt der Hauptverhandlung. Sie müssten zunächst durch
Aktenvortrag in die Einzelheiten des Verfahrens und der bisherigen Beweisergebnisse
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eingeführt werden, was jedenfalls nicht der Intention des Gesetzes entspricht, nach der
sie ihren Eindruck aus der mündlichen Verhandlung gewinnen sollen.
Entscheidend ist aber, dass anders als bei den Senaten der Oberlandesgerichte, die nur
mit Berufsrichtern besetzt sind, die Hinzuziehung von Schöffen zu Haftentscheidungen
außerhalb der mündlichen Verhandlung auf praktische Schwierigkeiten stößt.
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Laienrichter gehen i.d.R. anderweitigen Berufstätigkeiten nach. Es kann nicht davon
ausgegangen werden, dass sie zu beliebigen Zeitpunkten außerhalb der
Hauptverhandlung ihre beruflichen Verpflichtungen niederlegen und zu einer
Haftentscheidung, die in der Regel keinen Aufschub duldet, anreisen können. Das
Problem wird dadurch verschärft, dass sich die Möglichkeit zur Unterbrechung der
Hauptverhandlung immer mehr verlängert hat. Nach § 229 Abs. 2 StPO darf die
Hauptverhandlung inzwischen, wenn sie an zehn Tagen stattgefunden hat, bis zu einem
Monat unterbrochen werden. Es können daher zwischen den Verhandlungsterminen
lange Zeiten entstehen, in denen eine Einbindung der Schöffen schwierig oder etwa bei
Urlaubsabwesenheit unmöglich ist. Zudem gibt es bei den Schöffen, anders als bei
Berufsrichtern, keine Vertretungsregelung. Ist nur ein Schöffe nicht erreichbar, kann die
Hauptverhandlungsbesetzung nicht entscheiden. In dringenden Fällen kann zwar der
Vorsitzende gemäß § 125 Abs. 2 StPO den Haftbefehl erlassen oder gemäß § 126 Abs.
2 S. 4 StPO aufheben oder außer Vollzug setzen. Das führt allerdings dazu, dass wegen
der Verhinderung eines Schöffen die anderen mit der Sache vertrauten Berufsrichter
nicht an der Entscheidung mitwirken können. Im Übrigen ist die Inanspruchnahme von
Schöffen auf das Maß des Zumutbaren zu beschränken (§ 54 Abs. 1 Alt. 2 GVG).
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Sprechen aber die besseren Gründe und insbesondere Praktikabilitätserwägungen
dagegen, die Schöffen an Haftentscheidungen außerhalb der mündlichen Verhandlung
zu beteiligen, ist zur Wahrung des Gebots des gesetzlichen Richters erforderlich, dass
über Haftfragen - abgesehen von dem gesetzlich geregelten Fall der Haftprüfung bei der
Urteilsfällung (§§ 268 b und 120 Abs. 1 S. 2 StPO) - stets außerhalb der mündlichen
Verhandlung nur durch die Berufsrichter entschieden wird. Diesem vom Hanseatischen
Oberlandesgericht (NStZ 1998, 99) vertretenen und vom Bundesverfassungsgericht
(NStZ 1998, 418) gebilligten Standpunkt, schließt sich der Senat an (so auch OLG Jena
StV 1998, 101; Schultheis in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Auflage, § 126 Rdn. 10;
Siolek in Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Auflage, § 30 GVG Rdn. Rdn. 21 ff; a.A. Meyer-
Goßner, StPO, 51. Auflage, § 126 Rdn. 8; Hilger in Löwe-Rosenberg a.a.O. § 125 StPO
Rdn. 16).
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2.
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Da die Strafkammer über die Haftbeschwerde des Angeklagten S. K. unter Beteiligung
der Schöffen entschieden hat, ist die Entscheidung insoweit aufzuheben und an das
Verfahren an das Landgericht zurückzuverweisen. Zwar hat das Beschwerdegericht
grundsätzlich nach § 309 Abs. 2 StPO die Sache anstelle des Erstgerichts selbst zu
entscheiden. Die Voraussetzungen für eine Zurückverweisung sind aber dann gegeben,
wenn sich die angefochtene Entscheidung nicht als Erkenntnis des dafür vorgesehenen
Spruchkörpers darstellt und der Mangel im Beschwerdeverfahren nicht in dem Sinne
auszugleichen ist, dass das Beschwerdegericht rechtlich voll an die Stelle des an sich
zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers treten kann (BGH NJW 1992, 2775). Nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der der Senat folgt, obliegt die Prüfung
des dringenden Tatverdachts bei laufender Hauptverhandlung in erster Linie dem
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Tatgericht. Dadurch wird der Prüfungsumfang des Senats beschränkt. Die Wertung des
Tatgerichts ist einer Nachprüfung durch den Senat als Beschwerdegericht nur in
begrenztem Umfang zugänglich. Das Beschwerdegericht hat keine unmittelbare
Kenntnis vom Ergebnis der Beweiserhebungen. Das Tatgericht seinerseits ist nicht zu
einer umfassenden Darstellung der Würdigung der bisher erhobenen Beweise
verpflichtet. Das Beschwerdegericht kann deshalb in die Haftentscheidung nur
eingreifen und diese durch eine abweichende eigene ersetzen, wenn deren
Begründung zum dringenden Tatverdacht grobe Fehler aufweist, die es schlechterdings
als unvertretbar erscheinen lassen, das Weiterbestehen des dringenden Tatverdachts
zu bejahen ( BGH, Beschluss vom 19.12.2003 - StB 21/03 -; vom 2.9.2003 - StB 11/03 -;
Senat , Beschlüsse vom 09.01.2004 – 2 Ws 6/04 –, vom 16.01.2006 – 2 Ws 617/05 –
und vom 27.10.2008 - 2 Ws 506/08 - ).
Grobe Fehler in der Bewertung des dringenden Tatverdachts sind aber auch unter
Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens beider Angeklagter nicht erkennbar.
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Der Senat bejaht, wie sich aus den bisherigen Entscheidungen zur Untersuchungshaft
der Angeklagten ergibt, den dringenden Tatverdacht aus den in der Anklage
dargelegten Gründen. Dass die bisherige Beweisaufnahme Gesichtspunkte ergeben
hätte, die bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung den dringenden Tatverdacht
entfallen ließen, ist nicht ersichtlich. Zu den Aussagen der Zeugen A., P. und D. hat die
Strafkammer Stellung genommen. Eine grob fehlerhafte Bewertung der Beweissituation
ergibt sich daraus nicht.
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Daraus folgt zum einen, dass die Beschwerde der Angeklagten I. K. in der Sache keinen
Erfolg hat. Zum anderen ergibt sich daraus, dass der Senat betreffend den Angeklagten
S. K. in der Sache nicht entscheiden kann.
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