Urteil des OLG Köln vom 18.12.2001

OLG Köln: rechtliches gehör, zulässigkeit der auslieferung, rechtshilfe in strafsachen, widerruf, bulgarien, völkerrechtlicher vertrag, amtlicher verteidiger, republik, mindeststandard

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Schlagworte:
Normen:
Leitsätze:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, 2 Ausl 645/01
18.12.2001
Oberlandesgericht Köln
2. Strafsenat
Beschluss
2 Ausl 645/01
Auslieferung; Bulgarien; Widerruf der Bewährung; Abwesenheitsurteil
IRG § 73
Eine Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in
Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils ist unzulässig, wenn
der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des
Abschlusses des betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise
unterrichtet war, noch ihm eine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet
ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör
zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen. Diese Grundsätze
müssen auch dann gelten, wenn es im weiteren Verlauf des Verfahrens
zu Verletzungen des völkerrechtlich verbindlichen Mindesstandards
kommt, die in ihrer Auswirkung einer Verurteilung gleichkommen.
1.
Die Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus
dem Urteil des Bezirksgerichts Pleven vom 3. Dezember 1996 in
Verbindung mit dem Urteil des Kreisgerichts Pleven vom 13. Januar 1997
ist zulässig.
2.
Die Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe
aus dem Urteil des 3. Strafkollegiums des Bezirksgerichts Sofia vom 28.
Januar 1985 in Verbindung mit dem Widerrufsbeschluss des
Bezirksgerichts Pleven vom 21. März 2001 ist unzulässig.
Gründe:
I.
Der Senat hat mit Beschluss vom 21. Juni 2001 gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft
angeordnet. Dem Auslieferungshaftbefehl liegt ein Ersuchen der Republik Bulgarien um
die Auslieferung des Verfolgten zum Zweck der Strafvollstreckung in zwei Verfahren
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zugrunde.
Zu vollstrecken sind ausweislich der dem Ersuchen beigefügten Unterlagen
der Rest einer Freiheitsstrafe von ursprünglich 12 Jahren aus dem Urteil des 3.
Strafkollegiums des Bezirksgerichts Sofia vom 28. Januar 1985. Die Aussetzung des
Strafrestes zur Bewährung ist durch Beschluss des Bezirksgerichts Pleven vom 21. März
2001, rechtskräftig seit 5. April 2001, widerrufen worden. Der zu vollstreckende Strafrest
soll ein Jahr acht Monate 23 Tage betragen;
eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren aus dem Urteil des Bezirksgerichts Pleven vom 3.
Dezember 1996 in Verbindung mit dem Berufungsurteil des Kreisgerichts Pleven vom 13.
Januar 1997 wegen unerlaubten Besitzes von Sprengstoff und Herbeiführung einer
Sprengstoffexplosion (Art.330, 333, 339 bulg. StGB).
Der Verfolgte hat sich mit seiner Auslieferung nach Bulgarien im vereinfachten Verfahren
nicht einverstanden erklärt und Einwendungen gegen die Zulässigkeit der Auslieferung
erhoben.
Er ist der Auffassung, das Justizministerium der Republik Bulgarien sei nicht befugt, ein
Auslieferungsersuchen zu stellen. Er werde aus politischen Gründen verfolgt.
Er bestreitet die ihm in den beiden Verfahren zur Last gelegten Taten und behauptet, von
keinem der Verfahren Kenntnis zu haben, insbesondere habe er keine Ladung in dem
Verfahren erhalten, das zur Verurteilung durch das Bezirksgericht Pleven am 3. Dezember
1996 in seiner Abwesenheit geführt hat. Es sei unzutreffend, dass in diesem Verfahren
gegen ihn Untersuchungshaft vollzogen worden sei.
Es sei auch unzutreffend, dass er aufgrund des Urteils des Bezirksgerichts Sofia vom 28.
Januar 1985 Strafhaft verbüßt habe. Er sei in der Zeit vom 7. April 1983 bis zum 30. Juni
1991 durchgängig bei dem Rüstungsbetrieb "U AG" angestellt gewesen. Im übrigen sei der
Widerruf der Aussetzung des Strafrestes in diesem Verfahren nach bulgarischem Recht im
März 2001 nicht möglich gewesen und unter Verletzung des Gebots erfolgt, ihm rechtliches
Gehör zu gewähren. Den bulgarischen Behörden sei im Zeitpunkt des Widerrufs der
Strafaussetzung sein Aufenthaltsort und seine Anschrift in Deutschland bekannt gewesen,
so dass er zur Frage des Widerrufs hätte angehört werden können.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens des Verfolgten wird auf den Schriftsatz
seines Beistands vom 25. Juli 2001 Bezug genommen.
Der Senat hat den bulgarischen Behörden mit Beschluss vom 17. August 2001
Gelegenheit zur Stellungnahme zu den vom Verfolgten erhobenen Einwendungen
gegeben. Das Ministerium der Justiz hat zu den aufgeworfenen tatsächliche und
rechtlichen Fragen in einem Schreiben vom 2. November 2001 Stellung genommen - auf
dieses Schreiben wird Bezug genommen - und weitere Unterlagen vorgelegt.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Auslieferung für zulässig zu erklären.
II.
Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft ist zu entsprechen, soweit die Auslieferung des
Verfolgten zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Bezirksgerichts Pleven
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vom 3. Dezember 1996 in Verbindung mit dem Berufungsurteil des Kreisgerichts Pleven
vom 13. Januar 1997 beantragt wird.
1.
Das Auslieferungsersuchen genügt den formellen Voraussetzungen des Art. 12 des
Europäischen Auslieferungsabkommens (EuAlÜbk), dem die Republik Bulgarien
beigetreten ist. Es ist insbesondere von der zuständigen Behörde, dem Ministerium für
Justiz der Republik Bulgarien, gestellt worden.
Im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Bulgarien
gelten für die Auslieferung die Bestimmungen des 2. Zusatzprotokolls (2.ZP) des EuAlÜbk.
Art. 5 EuAlÜbk 2.ZP bestimmt, dass - unbeschadet eines Ersuchens auf diplomatischem
Wege - ein Auslieferungsersuchen von dem Justizministerium des ersuchenden Staates an
das Justizministerium des ersuchten Staates zu richten ist. Damit ist - unabhängig von
innerstaatlichen Regelungen - jedenfalls im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland
das Ersuchen des Justizministeriums der Republik Bulgarien völkerrechtlich verbindlich.
Etwas anderes ergibt sich aber auch nicht aus der von dem Verfolgten vorgelegten
Übersetzung des Art.436 der bulgarischen Strafprozessordnung. Auch nach dessen Abs.1
Nr.2 kann der Justizminister für einen Verurteilten mit einem in Kraft getretenen Urteil auf
Antrag des entsprechenden Gerichts einen Auslieferungsantrag stellen. Art. 436 Abs. 2
bulg. StPO, wonach "die Anträge durch das Außenministerium eingereicht werden", ist
dahin zu verstehen, dass Rechtshilfeersuchen im diplomatischen Verkehr durch das
Außenministerium weiter zu leiten sind. Selbst wenn man hierin aber eine innerstaatliche
Einschränkung auch der sich aus Art. 5 EuAlÜbk 2.ZP ergebenden Möglichkeit der
Ersuchens durch das Ministerium der Justiz sehen wollte, wäre diese im Verhältnis zur
Bundesrepublik Deutschland nicht bindend.
Das EuAlÜbk als völkerrechtlicher Vertrag regelt grundsätzlich die gegenseitigen Rechte
und Pflichte der Vertragsparteien, also der beteiligten Staaten untereinander. Die
Umsetzung in das innerstaatliche Recht überlässt es den einzelnen Vertragsstaaten
(BGHSt 34, 256 [260], Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe, 3.Aufl., Rdn. 1 vor
Art. EuAlÜbk). Nach außen bindend bleiben die Bestimmungen, denen sich die
Vertragsparteien unterworfen haben.
2.
Der Senat, der mit einem angeblichen Schreiben des Amtsgerichts Pleven konfrontiert
worden ist, in dem das Auslieferungsersuchen sinngemäß als Ergebnis einer
Verwechslung dargestellt und um "Einstellung" des Auslieferungsverfahrens gebeten wird,
hat keine Zweifel, dass die Auslieferung des Verfolgten weiterhin begehrt wird. Das
bulgarische Justizministerium hat über Interpol Sofia mitteilen lassen, dass es sich bei dem
genannten Schreiben um eine Fälschung handelt. Auch die ausführliche Stellungnahme
des Ministeriums für Justiz der Republik Bulgarien zu den Einwendungen des Verfolgten
belegt, dass am Auslieferungsersuchen festgehalten wird.
3.
Die Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des
Bezirksgerichts Pleven vom 3. Dezember 1996 in Verbindung mit dem Urteil des
Kreisgerichts Pleven vom 13. Januar 1997 ist zulässig.
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Der Verfolgte unterliegt der Auslieferung gemäß § 2 IRG. Er ist nicht Deutscher im Sinne
der Art.16 Abs.2, 116 Abs.1 GG, sondern bulgarischer Staatsbürger.
Die Auslieferungsfähigkeit der Taten, wegen derer die Auslieferung begehrt wird, ergibt
sich aus Artikel 2 Absatz 1 EuAlÜbK.
Das dem Verfolgten im Verfahren des Bezirksgerichts Pleven Nr. 258/92 zur Last gelegte
Tatgeschehen - unerlaubter Besitz von Sprengstoff und Herbeiführung einer
Sprengstoffexplosion - ist sowohl nach dem Recht des ersuchenden Staates (Art. 330, 333,
339 des bulg. StGB) als auch nach deutschem Recht strafbar. Es erfüllt - bei sinngemäßer
Umstellung - die Straftatbestände des § 40 Abs.1 Nr.3 SprengstoffG, § 308 StGB.
Die Taten sind im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht. Die
zu vollstreckende Strafe übersteigt auch das Mindestmaß von vier Monaten.
Es liegen keine Gründe vor, die der Zulässigkeit einer Auslieferung nach allgemeinen
Grundsätzen oder nach den Artikeln 3 bis 10 EuAlÜbK entgegenstehen.
Dass der Verfolgte den Tatvorwurf bestreitet, ist schon deshalb unerheblich, weil es sich
um das Ersuchen um Auslieferung zur Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils handelt
und im Auslieferungsverkehr nach dem EuAlÜbK eine Prüfung des Tatverdachts durch den
ersuchten Staat grundsätzlich ausgeschlossen ist (Schomburg/Lagodny, a.a.O. Art.1
EuALÜbK Rdn.7 m.w.N.).
Ungeachtet der vom Verfolgten behaupteten, durch Tatsachen nicht belegten politischen
Motivation des Auslieferungsbegehrens handelt es sich bei der dem Urteil zugrunde
liegenden Tat jedenfalls nicht um eine die Auslieferung hindernde politische Handlung im
Sinne des Art. 3 EuAlÜbk.
4.
Der Umstand, dass das Urteil gegen den Verfolgten im ersuchenden Staat im
Abwesenheitsverfahren ergangen ist, hindert die Zulässigkeit der Auslieferung nicht.
Denn aufgrund der vorgelegten Unterlagen steht fest, dass der Verfolgte von dem gegen
ihn anhängigen Verfahren Kenntnis gehabt, er in dieser Sache auch zwischen dem 3. und
30. Januar 1992 Untersuchungshaft verbüßt und zur Hauptverhandlung vor dem
Bezirksgericht Pleven geladen worden ist. Die gegenteilige Behauptung des Verfolgten ist
widerlegt.
Die bulgarischen Behörden haben mitgeteilt, dass dem Verfolgten am 11. Juni 1996 im
Wege der Rechtshilfe eine Ladung zur Gerichtsverhandlung am 17. August 1996 in der
Strafsache 258/92 des Amtsgerichts Pleven an seine deutsche Adresse übergeben worden
sei, er durch seine Unterschrift bestätigt habe, diese Ladung erhalten zu haben und ohne
Angabe von Gründen erklärt habe, dass er zur Verhandlung nicht erscheinen werde.
Daraufhin sei ihm gemäß Art. 70 Abs.1 Nr. 1 der bulgarischen Strafprozessordnung ein
amtlicher Verteidiger bestellt worden, der das ergangene Urteil vor dem Bezirksgericht
angefochten habe.
Die Tatsache der Ladung im Wege der Rechtshilfe wird durch einen entsprechenden
Vorgang der Generalstaatsanwaltschaft Köln belegt; die Kenntnis des Verfolgten vom
Verfahren ergibt sich aus seiner im ergangenen Urteil wiedergegebenen Einlassung; die
Vollstreckung von Untersuchungshaft wird dadurch bestätigt, dass der entsprechende
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Zeitraum im Urteil ausdrücklich angerechnet worden ist. Vor diesem Hintergrund hat der
Senat auch keine Zweifel an der Darstellung der bulgarischen Behörden, die
Untersuchungshaft sei durch die Stellung einer Kaution am 30. Januar 1996 beendet
worden, anschließend habe sich der Verfolgte dem Verfahren durch Flucht entzogen.
Da dem Verfolgten sowohl wegen seiner Kenntnis vom Verfahren und der gegen ihn
erhobenen Tatvorwürfe als auch wegen der erfolgten Ladung zur Hauptverhandlung alle
Möglichkeiten offen standen, sich gegen die erhobenen Vorwürfe zu verteidigen, er von
dieser Möglichkeit aber bewusst keinen Gebrauch gemacht hat, für ihn darüber hinaus im
Strafverfahren ein Pflichtverteidiger bestellt worden ist, der seine Interessen im
gerichtlichen Verfahren wahrgenommen - und mit der Einlegung der Berufung und der
Durchführung der Berufung eine Herabsetzung des Strafmaßes von drei auf zwei Jahre
Freiheitsstrafe erreicht - hat, ist in diesem Verfahren der völkerrechtlich verbindliche, nach
Art. 25 GG von den deutschen Gerichten auch im Auslieferungsverfahren zu beachtende
Mindeststandard elementarer Verfahrensgerechtigkeit (vgl. dazu Schomburg/Lagodny,
a.a.O., Art. 1 EuALÜbk Rdn.6b) eingehalten worden.
Damit steht der Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung des Urteils des
Bezirksgerichts Pleven vom 3. Dezember 1996 in Verbindung mit dem Berufungsurteil des
Kreisgerichts Pleven vom 13. Januar 1997 wegen unerlaubten Besitzes von Sprengstoff
und Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion kein Hinderungsgrund entgegen.
III.
Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft kann nicht entsprochen werden, soweit die
Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des 3.
Strafkollegiums des Bezirksgerichts Sofia vom 28. Januar 1985 in Verbindung mit dem
Widerrufsbeschluss des Bezirksgerichts Pleven vom 21. März 2001 beantragt wird. Denn in
diesem Verfahren ist der völkerrechtlich verbindliche Mindeststandard insofern nicht
gewahrt, als dem Verfolgten vor der Entscheidung über den Widerruf der Aussetzung der
Reststrafe das rechtliche Gehör nicht gewährt worden, obwohl dies möglich und - wegen
der Besonderheiten des Verfahrens - zwingend geboten war.
1.
Grundsätzlich haben die deutschen Gerichte im Verfahren über die Zulässigkeit der
Auslieferung zur Strafvollstreckung davon auszugehen, dass das in dem ersuchenden
Staat gegen die jeweiligen Verfolgten ergangene Strafurteil auf rechtmäßige Weise
zustande gekommen ist. Denn die Bundesrepublik Deutschland ist mit zahlreichen Staaten
durch bilaterale und multilaterale Auslieferungsverträge verbunden und deshalb
grundsätzlich verpflichtet, einem Auslieferungsverlangen Folge zu leisten. Diese
völkerrechtliche Pflicht würde verletzt, wenn eine Auslieferung stets dann verweigert würde,
wenn das Verfahren im ersuchenden Staat nicht dem rechtstaatlichen oder auch
verfassungsrechtlichen Standard der Bundesrepublik Deutschland genügen würde.
Nur wenn die der Auslieferung zugrunde liegenden Akte mit dem nach Art.25 GG in der
Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den
unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung nicht
vereinbar sind, dieser völkerrechtliche Mindeststandard im ersuchenden Staat also
unterschritten worden ist, hindert das Völkerrecht eine Versagung der Auslieferung nicht.
Anlass zu einer Prüfung des Verfahrensgangs auf diesen Mindeststandard besteht, wenn
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ein ausländisches Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in
Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (vgl. BVerfG NJW 1991,1411 = NStZ 1991, 294,
BVerfGE 59, 280[282ff.] = NJW 1982,1214; BVerfGE 63, 332[337] m.w.N. = NJW
1983,1726).
Nach deutschem Verfassungsrecht gehört es zu den elementaren Anforderungen des
Rechtsstaates, die insbesondere im Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht
(Art.103 Abs.1 GG) Ausprägung gefunden haben, dass niemand zum bloßen Gegenstand
eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden darf und dadurch zugleich
in seiner Menschenwürde (Art.1 Abs.1 GG) verletzt würde (vgl. BVerfG NJW 1991, 1411
m.w.N.). Daraus ergibt sich insbesondere für das Strafverfahren das zwingende Gebot,
dass der Beschuldigte im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten Regeln die
Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können muss, auf das Verfahren
einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern,
entlastende Umstände vorzutragen, deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung
und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen (BVerfG a.a.O; vgl. ferner
BVerfGE 41, 246 [249] = NJW 1976, 413; BVerfGE 46,202 [210] = NJW 1978, 151;
BVerfGE 54, 100 [116] = NJW 1980, 1943, BVerfG NJW 1983, 1726 [1727]; OLG Hamm
StV 1997, 364 [365] und 365 [366]; OLG Düsseldorf NJW 1987,2172; OLG Zweibrücken
MDR 1986, 874; OLG Karlsruhe NStZ 1983, 225; zum Verhältnis zu Art.6 III c MRK vgl.
OLG Köln, 1.Strafsenat, NStZ-RR 1999,112).
Der wesentliche Kern dieser Rechtsgewährleistungen gehört von Verfassungs wegen zum
unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung, wie auch zum
völkerrechtlichen Mindeststandard, der über Art. 25 GG einen Bestandteil des in der
Bundesrepublik Deutschland geltenden innerstaatlichen Rechts bildet (BVerfG NJW 1991,
1411 m.w.N.).
Eine Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des Verfolgten
ergangenen Strafurteils ist bei Anlegung dieser Maßstäbe danach unzulässig, wenn der
Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des
betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war, noch ihm eine tatsächlich
wirksame Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich
rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen (BVerfG - 2 BvR 369/88
v. 10.6.1988, abgedruckt in Eser/ Lagodny/ Wilkitzki, Die Rechtshilfe in Strafsachen, Nr.U
167; BVerfGE 63,332 [338] = NJW 1983,1726).
2.
Diese - auf das Zustandekommen des Strafurteils bezogenen - Grundsätze müssen auch
dann gelten, wenn es im weiteren Verlauf des Verfahrens zu Verletzungen des
völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandards kommt, die in ihrer Auswirkung einer
Verurteilung gleichkommen.
Durch den Gang des Widerrufsverfahrens gegen den Verfolgten, wie er dem Senat
unterbreitet worden ist, sind die sich aus diesen Grundsätzen ergebenden
Mindestanforderungen nicht gewahrt:
Der Verfolgte hatte von der Durchführung des Widerrufsverfahrens keine Kenntnis und
konnte sich gegen den Widerruf deshalb nicht verteidigen. Die Möglichkeit der Gewährung
rechtlichen Gehörs war ohne weiteres gegeben, weil den bulgarischen Behörden, wie die
Ladung zur Hauptverhandlung in der Strafsache Nr.258/92 des Bezirksgerichts Pleven
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zeigt, der Aufenthaltsort des Betroffenen und seine Anschrift bekannt war.
Die Gewährung rechtlichen Gehörs war auch zwingend geboten.
Der Widerruf betraf die Vollstreckung der Reststrafe aus einem 16 Jahre zurückliegenden
Urteil. Er erfolgte über 10 Jahre nach der Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes
(Beschluss vom 30. August 1990), etwa 10 Jahre nach Begehung der den Widerruf
begründenden Tat und etwa vier Jahre nach Rechtskraft des die neue Tat ahndenden
Urteils. Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass nach bulgarischem Recht die
Widerrufsentscheidung in dem neuen Strafverfahren zu erfolgen hat, dies - entgegen der
Sachdarstellung im ursprünglichen Auslieferungsersuchen, wenn auch aus der beigefügten
Schilderung des Verfahrens durch das Gericht in Pleven ersichtlich - indessen "übersehen"
worden ist, weshalb das Gericht in Pleven sich veranlasst sah, mit Beschluss vom 21. März
2001 den Widerruf nachzuholen, weil es "der Ansicht (war), dass prozessuale und
materielle Gründe vorhanden" seien, den Verfolgten den Rest der Strafe - "und zwar ein
Jahr acht Monate und dreiundzwanzig Tage" verbüßen zu lassen.
Der Verfolgte hatte wegen des Zeitablaufs seit dem Ende der im Aussetzungsbeschluss
vom 30. August 1990 ebenfalls auf ein Jahr acht Monate und 23 Tage festgesetzten
Bewährungsfrist und im Hinblick darauf, dass die neue Straftat auch im Urteil vom 3.
Dezember 1996 nicht zum Widerruf und zur Strafverbüßung geführt hatte, damit rechnen
dürfen, dass es zu einem Widerruf nicht mehr kommen werde.
Dadurch, dass ihm vor der Widerrufsentscheidung nicht rechtliches Gehör gewährt wurde,
war ihm die Möglichkeit genommen, Einwendungen gegen den Widerruf zu erheben - etwa
was die Höhe des ausgesetzten Strafrestes anbelangt (die aus den vorgelegten Unterlagen
und Angaben auch für den Senat nicht nachvollziehbar ist) oder sich auf eine
zwischenzeitlich eingetretene "Rehabilitierung" bzw. einen möglichen Anspruch auf
"Rehabilitierung" nach Ablauf eines solch langen Zeitraumes zu berufen.
Die Gewährung rechtlichen Gehörs war um so mehr geboten, als der Widerruf einen
erheblichen Strafrest - über ein Jahr acht Monate - betraf und die ergangene Entscheidung
nach bulgarischem Recht nicht mehr anfechtbar ist.
Der Senat ist wegen der Besonderheiten des Verfahrens - des langen Zeitablaufs und des
sich daraus ergebenden Vertrauenstatbestandes sowie wegen der Höhe des offenen
Strafrestes - der Auffassung, dass der Verfolgte wegen des nicht gewährten rechtlichen
Gehörs in Bezug auf die Widerrufsentscheidung zu behandeln ist wie ein in Abwesenheit
Verurteilter, der nicht über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des
betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war, und dem auch keine
tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis
nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen, und dessen
Auslieferung aus diesem Grund nicht zulässig ist.