Urteil des OLG Köln vom 07.10.2009
OLG Köln (stpo, auflage, beschwerdeführer, beschwerde, protokoll, ausnahme, verhalten, beweisaufnahme, persönlichkeit, umstand)
Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 468/09
Datum:
07.10.2009
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 468/09
Vorinstanz:
Landgericht Bonn, 28 KLs 3/08
Tenor:
Die angefochtene Entscheidung wird wie folgt abgeändert:
Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten Kosten und Auslagen
aufzuerlegen. Hiervon ausgenommen sind die durch die Nebenklage
verursachten Kosten und Auslagen; diese hat der Angeklagte zu tragen.
Die Gebühr für das Beschwerdeverfahren wird auf 1/5 ermäßigt. Die
dem Beschwerdeführer hierin erwachsenen notwendigen Auslagen
fallen zu 4/5 der Staatskasse zur Last.
G r ü n d e:
1
I.
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Durch Urteil des Landgerichts Bonn vom 04.02.2009 – 28 KLs 3/08 – wurde gegen
den
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zur Tatzeit 18-jährigen Beschwerdeführer wegen gefährlicher Körperverletzung auf
eine
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Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten unter Strafaussetzung zur
Bewährung
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erkannt. Zugleich sind ihm und seinem wegen versuchten Totschlags verurteilten N
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geklagten die Kosten des Verfahrens und der Nebenklage auferlegt worden. Zur
Begrün
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dung der Kostenentscheidung hat das Landgericht ausgeführt:
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"Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 465 Abs. 1, 472 StPO.
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Hinsichtlich des Angeklagten O wird nicht gemäß § 74 JGG davon abgesehen,
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dem Angeklagten die Kosten und Auslagen aufzuerlegen. Dem Angeklagten ist auch
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durch die Auferlegung der Kosten zu zeigen, dass er für alle Folgen seiner Tat
einzuste
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hen hat. Hierbei hat die Kammer auf Grundlage erzieherischer Gründe neben den wirt
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schaftlichen Verhältnissen auch und insbesondere die Art der Tat und das Verhalten
des
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Angeklagte im Verfahren, der über ein bloßes Leugnen hinaus unterschiedliche
unwahre
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Versionen des Geschehensablaufs präsentiert und dadurch zum Teil umfangreichste
Er
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mittlungsmaßnahmen ausgelöst hat, zulässigerweise berücksichtigt (vgl. KG NStZ
1999,
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121; Brunner/Dölling, a.a.O., § 74 Rn. 4 mw.N.).
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Auch hinsichtlich des Angeklagten I wird nicht gemäß §§ 109 Abs. 2, 105, 74 JGG
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davon abgesehen, dem Angeklagten die Kosten und Auslagen aufzuerlegen. Auch
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dem Angeklagten I ist durch die Auferlegung der Kosten zu zeigen, dass er für alle
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Folgen seiner Tat einzustehen hat. Auch er hat durch sein prozessuales Verhalten,
insbe
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sondere dem Leugnen des dritten Mannes, sowie die Art der Tat der Kammer Anlass
ge
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boten im Rahmen der Ermessensentscheidung des § 74 JGG nicht von der
Kostenaufer
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legung abzusehen."
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Das Urteil ist, soweit es den Beschwerdeführer betrifft, rechtskräftig seit dem
12.02.2009 (Bl. 79 des Protokoll- und Urteilsbandes 930 Js 685/08 StA Bonn) mit
Ausnahme der Kostenentscheidung, gegen die der Beschwerdeführer durch
Schriftsatz seines Verteidigers vom 11.02.2009, eingegangen am selben Tage (Bl. 88
f. des Protokoll- und Urteilsbandes 930 Js 685/08 StA Bonn), sofortige Beschwerde
eingelegt hat, die mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 21.04.2009 begründet
worden ist (Bl. 234-238 des Protokoll- und Urteilsbandes 930 Js 685/08 StA Bonn).
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II.
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Die nach §§ 2 JGG, 464 Abs. 2 StPO an sich statthafte, rechtzeitig innerhalb der
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Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegte, den Beschwerdewert des § 304 S. 3
StPO erreichende und daher insgesamt zulässige sofortige Beschwerde führt zu dem
aus dem Beschlusstenor ersichtlichen (überwiegenden) Teilerfolg.
1.
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Gemäß § 74 JGG kann im Verfahren gegen Jugendliche davon abgesehen werden,
dem Angeklagten Kosten und Auslagen aufzuerlegen. Die Vorschrift, die im Verfahren
gegen Heranwachsende gemäß § 109 Abs. 2 JGG entsprechend gilt, wenn auf diesen –
wie hier – Jugendstrafrecht angewendet wird, räumt dem Jugendrichter ein Ermessen
ein. Der Senat entscheidet im Beschwerdeverfahren gemäß § 309 Abs. 2 StPO
gleichwohl unter Ausübung eigenen Ermessens in der Sache selbst. Die in der
Rechtsprechung der Oberlandesgerichte verbreitete gegenteilige Rechtsmeinung,
wonach in Fällen wie dem vorliegenden die angefochtene Entscheidung lediglich auf
Ermessensfehler zu überprüfen sei (vgl. KG, NStZ-RR 2008, 2921; KG, NStZ–RR 2007,
64; KG, NStZ-RR 1999, 121; OLG Hamm, ZJJ 2008, 193; OLG Jena, NStZ 1998, 153),
teilt der Senat nicht. Sie widerspricht dem allenthalben wiedergegebenen Grundsatz,
dass das mit umfassender Prüfungskompetenz ausgestattete Beschwerdegericht auch
in Ermessensfällen eine eigene Entscheidung zu treffen hat (Meyer-Goßner, StPO, 52.
Auflage 2009, § 309 Rz. 4; Matt in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Auflage 2003, § 309 Rz.
7; Engelhardt in: Karlsruher Kommentar, StPO, § 309 Rz. 6 jew. mit weit. Nachw.). Auch
kann aus dem Umstand, dass das Gesetz den Prüfungsmaßstab des
Beschwerdegerichts in einzelnen Fällen beschränkt (so etwa bei §§ 305a Ab s. 1 S. 2,
453 Abs. 2 S. 2 StPO, 59 Abs. 2 S. 2 JGG) der Umkehrschluss gezogen werden, dass
es in den Fällen, in welchen das Gesetz eine solche Beschränkung nicht anordnet, bei
der umfassenden Prüfungskompetenz des Beschwerdegerichts verbleibt. Hierzu zählt
die sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung. Historisch dürfte die
genannte Rechtsmeinung auch nicht auf eine Beschwerde-, sondern auf eine
Revisionsentscheidung zurückgehen (OLG Hamm, NJW 1963, 1168), bei der in der Tat
lediglich eine Rechtskontrolle stattfindet. Sie kann sich nicht auf die Entscheidung BGH,
NStZ 1994, 484 stützen, die sich zum Prüfungsmaßstab des Rechtsmittelgerichts nicht
äußert. Die für sie gegebene Begründung, der Tatrichter könne sich – anders als das
Beschwerdegericht – in der Hauptverhandlung einen umfassenden Eindruck von der
Persönlichkeit, den wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten und den
Auswirkungen der Kostenauferlegung auf dessen weitere Entwicklung machen (so KG,
NStZ-RR 2008, 291), vermag nicht zu überzeugen: Der Senat entscheidet als
Beschwerdegericht auch in anderen Fällen ausschließlich aufgrund des Akteninhalts, in
welchen sich das nachgeordnete Gericht einen umfassenden persönlichen Eindruck
verschafft hat, ohne dass der Beurteilungsmaßstab insoweit eingeschränkt wäre. Das
gilt insbesondere bei den gemäß 57 Abs. 1, 67d Abs. 2 StGB zu treffenden
Prognoseentscheidungen. Darüber hinaus ist der Tatrichter verpflichtet, die im Hinblick
auf die Persönlichkeit und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten
bedeutsamen Umstände festzustellen und im Urteil niederzulegen; diese Feststellungen
sind dann auch für das Beschwerdegericht verfügbar. Schließlich wäre der Senat in
geeigneten Fällen auch nicht gehindert, sich einen persönlichen Eindruck von dem
Angeklagten zu verschaffen (Meyer-Goßner, aaO, § 309 Rz. 1).
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2.
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Die danach erforderlich umfassende eigene Sachprüfung des Beschwerdegerichts führt
dazu, den Angeklagten von Kosten und Auslagen freizustellen, soweit nicht die Kosten
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und Auslagen der Nebenklägerin betroffen sind.
a)
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Maßgeblich für die gemäß § 74 JGG zu treffende Ermessensentscheidung, die eine
Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der Kostentragungspflicht bei Verurteilung
darstellt, ist der Präventionszweck des Jugendstrafrechts, mithin erzieherische Gründe
(Eisenberg, JGG, 13. Auflage 2009, § 74 Rz. 8; Ostendorf, JGG, 4. Auflage 1997, § 74
Rz. 6; KG, JR 1996, 216 [217]). Zweck der Regelung ist es, den Jugendlichen vor einer
oftmals schädlichen zusätzlichen Belastung zu schützen (Eisenberg, aaO), wobei die
Auferlegung von Kosten bei Heranwachsenden eher in Betracht zu ziehen sein wird
(SenE v. 21.09.2009 – 2 Ws 420 – 428/09; KG, NStZ-RR 2007, 64). Entsprechend
sehen die – für die Gerichte allerdings nicht verbindlichen - Richtlienen zu § 74 JGG die
Kostenauferlegung nur für den Fall vor, dass der Jugendliche die Kosten und Auslagen
aus eigenen Mitteln aufbringen kann und ihre Auferlegung aus erzieherischen Gründen
angebracht erscheint.
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In Anwendung dieser Grundsätze ist für den vorliegenden Fall zu sehen, dass der
Angeklagte zur Tatzeit Schüler war und nicht über eigenes Einkommen verfügte.
Insbesondere ist er nicht – wie in der Zuschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom
01.10.2009 angenommen – als selbständiger Bäcker und Autohändler tätig gewesen.
Die entsprechenden Urteilsfeststellungen (UA S. 8) betreffen den Vater des
Angeklagten. Dessen Familie, bei der der Angeklagte lebt, unterhält sich von staatlichen
Transferleistungen. Der Angeklagte beabsichtigte, das Abitur zu machen und
Maschinenbau zu studieren, Pläne, die die Kammer als "jugendtypisch vage und
sprunghaft und eben nicht gefestigt" bezeichnet hat. Vor diesem Hintergrund muss es
als völlig offen angesehen werden, ob und bejahendenfalls wann der Angeklagte in der
Lage sein würde, die erheblichen Verfahrenskosten aus eigenen Mitteln aufzubringen.
Deren Auferlegung ist nicht erzieherisch geboten, wie bereits aus dem Umstand erhellt,
dass die Kammer eine Bewährungszeit von nur zwei Jahren sowie 150 Stunden
gemeinnütziger Arbeit und die Absolvierung eines Anti-Aggressions-Trainings für
ausreichend erachtet hat, um den bei dem Angeklagten zweifellos bestehenden
Defiziten ausreichend zu begegnen. Sie birgt im Gegenteil die erhebliche Gefahr der
Entsozialisierung. Die gebotene zukunftsorientierte Betrachtungsweise (Eisenberg,
aaO, § 74 Rz. 8b) rechtfertigt es daher, den zur Tatzeit soeben erst dem Jugendalter
entwachsenen Angeklagten von Kosten und Auslagen – mit Ausnahme der durch die
Nebenklage verursachten Kosten und Auslagen - freizustellen.
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Ergänzend und ohne dass es für die Entscheidung des Senats darauf ankäme ist zu
bemerken, dass die Erwägung des Landgerichts Bedenken begegnet, (auch) das
Prozessverhalten des Angeklagten habe Veranlassung gegeben, nicht von der
Kostenauferlegung abzusehen. Zwar wird teilweise das Verhalten im Verfahren als ein
Gesichtspunkt bei der Ermessensbetätigung angesehen (in diese Richtung:
Brunner/Dölling, JGG, 10. Auflage 1996, § 74 Rz. 4: "mutwilliges Erzwingen einer
größeren Beweisaufnahme, böswillige Verzögerung des Verfahrens", relativierend
Eisenberg, aaO, § 74 Rz. 8a: "keineswegs vorrangig"; strikt ablehnend Ostendorf, aaO,
§ 74 Rz. 6), soweit es sich wie hier in bloßem teilweisem Bestreiten (der Anwesenheit
eines Dritten am Tatort) erschöpft, handelt es sich um zulässiges
Verteidigungsverhalten, das nicht kostenrechtlich negatives Gewicht beigemessen
werden darf. Das gilt hier um so mehr, als durch die Einlassung des Angeklagten eine
weitere Beweisaufnahme nicht erzwungen wurde, der Geschehensnachweis vielmehr
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auf den Angaben des Angeklagten und der Geschädigten beruht und die bei
Brunner/Dölling angesprochene Fallkonstellation daher gar nicht vorliegt.
b)
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Der Senat sieht es allerdings als erzieherisch notwendig an, den Angeklagten mit den
Kosten und Auslagen zu belasten, soweit diese durch die Nebenklage veranlasst
worden sind (vgl. OLG Hamm, ZJJ 2008, 193; Ostendorf, aaO, § 74 Rz. 12). Insoweit
besteht in der Tat Veranlassung, dem Angeklagten auch die finanziellen Folgen seiner
Tat deutlich vor Augen zu führen. Die durch die Nebenklage verursachten Kosten
erscheinen hier in besonderem Maße als von dem Angeklagten (mit) zu verantwortende
Folgen der Tat. Es wäre daher ein in erzieherischer Hinsicht falsches Signal, den
Angeklagten auch von diesen freizustellen.
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III.
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Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 473 Abs. 4 S. 1 StPO.
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