Urteil des OLG Köln vom 17.05.2005

OLG Köln: verzicht, beratung, abgabe, geldstrafe, form, zaun, strafzumessung, anschluss, umwandlung, verwertung

Oberlandesgericht Köln, 8 Ss 87/05 - 77 -
Datum:
17.05.2005
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
8 Ss 87/05 - 77 -
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch
über die Kosten der Revision - an eine andere Abteilung des
Amtsgerichts Kerpen zurückverwiesen.
G r ü n d e
1
I.
2
Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen "gemeinschaftlichen Diebstahls in einem
besonders schweren Fall" zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten unter Strafaussetzung
zur Bewährung verurteilt. Das Protokoll der Hauptverhandlung weist im Anschluss an
die Urteilsverkündung aus: "Angeklagter erklärt Rechtsmittelverzicht". Einen Vermerk,
dass die beurkundete Erklärung verlesen und von dem erklärenden Angeklagten
genehmigt worden sei, enthält es nicht.
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Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte mit Verteidigerschriftsatz vom 08. Dezember
2004 Rechtsmittel eingelegt, welches - nach Zustellung des Urteils am 20. Dezember
2004 - mit weiterem Verteidigerschriftsatz vom 20. Januar 2005 zur Revision bestimmt
und als solche begründet worden ist. Die Revision sieht eine etwaige
Rechtsmittelverzichtserklärung als jedenfalls nicht wirksam an und beantragt unter
Erhebung der näher ausgeführten Sachrüge die Aufhebung des Urteils mit seinen
Feststellungen und die Zurückverweisung der Sache an eine andere Abteilung des
Amtsgerichts. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Revision wegen wirksam
eingelegten Rechtsmittelverzichts als unzulässig zu verwerfen.
4
II.
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Die nach §§ 333, 335 StPO statthafte (Sprung-) Revision ist zulässig, weil von einem
wirksamen Rechtsmittelverzicht nach § 302 StPO nicht ausgegangen werden kann. Das
Rechtsmittel hat auch mit der Sachrüge (vorläufigen) Erfolg; es führt gemäß §§ 353, 354
Abs. 2 StPO zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur
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Zurückverweisung der Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Kerpen.
1.)
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Ein in der Hauptverhandlung vom 01. Dezember 2004 erklärter Rechtsmittelverzicht
steht der Zulässigkeit der Revision nicht entgegen.
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Es ist zwar davon auszugehen, dass der Angeklagte den aus dem
Hauptverhandlungsprotokoll (Bl. 62 d.A.) ersichtlichen Rechtsmittelverzicht tatsächlich
erklärt hat. Ihm ist jedoch die rechtliche Anerkennung zu versagen.
9
a)
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Voraussetzung für die Wirksamkeit eines Rechtsmittelsverzichts ist zunächst, dass der
Erklärende verhandlungsfähig war, d.h. sich verständig und verständlich verteidigen
konnte (vgl. BGH NStZ 99, 258 und NStZ 99, 526, 527; Ruß in Karlsruher Kommentar,
StPO, 5. Aufl., § 302 Rn. 2). Insoweit bestehen hier keine Bedenken. Der Angeklagte hat
sich umfangreich sowohl zur Person als auch zur Sache eingelassen und ein
Geständnis abgelegt. Die Hauptverhandlung konnte zudem ohne Dolmetscher in
deutscher Sprache durchgeführt worden.
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Was die Form eines Rechtsmittelverzichts angeht, gelten die selben Bestimmungen wie
für die Einlegung von Rechtsmitteln; es ist also Schriftform oder Erklärung zu Protokoll
der Geschäftsstelle erforderlich (BGHSt 18, 257, 260; BGHSt 31, 109, 111; Ruß a.a.O.
Rn. 8). Ein im Anschluss an die Urteilsverkündung erklärter Verzicht kann auch im
Sitzungsprotokoll vermerkt werden (BGHSt 18, 257, 258; BGH NStZ 96, 297; vgl. auch
die weiteren Rechtsprechungsnachweise bei Ruß a.a.O. Rn. 9). Hierbei handelt es sich
aber nur dann um einen zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärten Verzicht, wenn die
Beurkundungsförmlichkeiten des § 273 Abs. 3 StPO beachtet worden sind (vgl. BGHSt
31, 109; BGH NStZ 84, 181; BGH NStZ 96, 297; BGH NJW 97, 2691; OLG Düsseldorf
NStZ 84, 44 und VRS 97, 138). Im Protokoll hätte also vermerkt werden müssen, dass
die beurkundete Erklärung verlesen und vom Erklärenden, also dem Angeklagten,
genehmigt worden ist (BGHSt 18, 257, 258). Daran fehlt es vorliegend. Dies führt
zunächst jedoch nur dazu, dass der Vermerk nicht die weit gehende Beweiskraft des §
274 StPO genießt, sondern nur ein Beweisanzeichen ist, das den Rechtsmittelverzicht
des Angeklagten beweisen kann, aber nicht notwendig zu beweisen braucht (BGH
a.a.O.). Auch in einem solchen Falle ist jedoch die Form für einen Rechtsmittelverzicht
gewahrt, weil die im Protokoll vermerkte Erklärung dem Erfordernis der Schriftform
genügen kann (vgl. BGH NJW 84, 1973, 1974). Die in das Protokoll aufgenommene
Erklärung über einen Rechtsmittelverzicht des Angeklagten führt zur Wahrung der
Schriftform deswegen, weil es sich - wenn die Erklärung tatsächlich abgegeben worden
ist - um eine durch einen Ermächtigten niedergeschriebene Erklärung (zu verstehen:
des Angeklagten selbst) handelt. Kommt einem Vermerk wie dem vorliegenden als
"wesentlichem Beweisanzeichen" (BGH wistra 94, 29) für die Verzichtserklärung
Bedeutung zu, so bedarf es vorliegend auch nicht etwa der Einholung dienstlicher
Stellungnahme im Freibeweisverfahren dazu, ob die Verzichtserklärung tatsächlich
erfolgt ist. Selbst die Revisionsbegründung stellt nicht ausdrücklich in Abrede, dass der
Angeklagte einen Rechtsmittelverzicht erklärt habe. Sie führt nur aus, der Angeklagte
habe dem Verteidiger (nachträglich) erklärt, er sei sich "nicht bewusst", eine Erklärung
dahingehend abgegeben zu haben, dass er gegen das Urteil kein Rechtsmittel einlegen
wolle. Richtig mag zwar die weitere Äußerung der Revisionsbegründung sein, dass der
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Angeklagte den Begriff "Verzicht" nicht gekannt habe (dazu auch nachstehend zu b.).
Die Abgabe einer - möglicherweise von dem Gericht erfragten oder angeregten -
Verzichtserklärung wird so aber nicht mit Bestimmtheit bestritten.
b.)
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Der Wirksamkeit eines somit erklärten Rechtsmittelverzichts steht aber entgegen, dass
der Angeklagte gehindert war, sich vor Abgabe der Erklärung mit seinem Verteidiger zu
beraten (vgl. hierzu BGHSt 19, 101, 104; 45, 51, 57). Dies kann auch dann erheblich
sein, wenn - wie hier - der Angeklagte nicht anwaltlich vertreten war (vgl. Ruß a.a.O. Rn.
12 mit ausführlichen Nachweisen aus der obergerichtlichen Rechtsprechung).
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Es muss gesichert sein, dass der Angeklagte, der einen Rechtsmittelverzicht erwägt, die
für und gegen einen solchen Entschluss sprechenden Gründe reichlich überlegen kann
und nicht an unüberlegten und vorschnellen Erklärungen festgehalten wird; deswegen
muss der mit einem Verteidiger in der Hauptverhandlung erschienene Angeklagte
Gelegenheit haben, sich mit diesem zu besprechen (BGHSt 18, 257, 260). Das gilt auch
dann, wenn ohne Einwirkung des Gerichts auf den Angeklagten ein entsprechender
Verzicht zu Protokoll genommen wird (BGH NStZ-RR 97, 305).
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Diese Grundsätze greifen auch dann ein, wenn der Angeklagte in der
Hauptverhandlung des Beistandes eines Verteidigers entbehren musste, sofern ein Fall
der notwendigen Verteidigung nach § 140 StPO vorlag und die Beiordnung eines
Pflichtverteidigers unterblieben ist (OLG Düsseldorf VRS 57, 357, 359). Vorliegend hat
es sich zwar nicht um einen Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO
gehandelt, weil der Sachverhalt einfach gelagert war und auch die Straferwartung selbst
in Ansehung der von dem Amtsgericht verhängten Freiheitsstrafe noch im unteren
Bereich lag. Gleichwohl lag aber auch dem hier zu entscheidenden Fall ein Sachverhalt
zugrunde, der einer Verletzung des Gebots des fairen Verfahrens (so OLG Düsseldorf
a.a.O.) zumindest nahe kommt. Der - nach der Revisionsbegründung über keinen
Schulabschluss verfügende und damit in seinen intellektuellen Fähigkeiten jedenfalls
eingeschränkte - Angeklagte hatte sich durch seinen Verteidiger in der
Hauptverhandlung (wenn auch nach kurzfristigem Entschluss) vertreten lassen wollen.
Einen Terminsverlegungsantrag des an dem Hauptverhandlungstag verhinderten
Verteidigers hat das Amtsgericht abgelehnt, wie nicht nur in der Revisionsbegründung
anwaltlich versichert wird, sondern auch aus dem Hauptverhandlungsprotokoll (Bl. 60
d.A.) hervorgeht. Aus Art. 6 Abs. 3 EMRK in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgebot ist
dem Angeklagten aber jederzeit die Möglichkeit einer geordneten und effektiven
Verteidigung zu geben (BGH StV 98, 246 m.w.N.; BGHSt 45, 51, 57). Dazu bestand
auch vorliegend hinreichender Anlass. Aus den Gründen nachstehend zu 2.) zur
Begründetheit der Revision, soweit es um die Voraussetzungen eines vollendeten
Diebstahls geht, folgt, dass die Rechtslage nicht so einfach war und eine Verteidigung
in der Hauptverhandlung dem Angeklagten günstig gewesen wäre. Es kommt für das
Erfordernis der Mitwirkung des Wahlverteidigers, wie sie beantragt worden war, zum
Strafausspruch die nicht vorauszusehende Divergenz zwischen dem Strafantrag des
Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft und dem Strafausspruch im Urteil hinzu. Auch
von daher war es für das Amtsgericht erkennbar, dass eine Beratung zwischen
Angeklagten und Verteidiger vor Abgabe eines Rechtsmittelverzichts angezeigt
gewesen wäre.
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Entgegen der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft entfiel die Zweckmäßigkeit
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der Hinzuziehung des Verteidigers und damit das Erfordernis, dem Angeklagten eine
Beratung mit diesem vor Abgabe eines Rechtsmittelverzichts zu ermöglichen, auch nicht
deswegen, weil der Angeklagte zuvor schon in seinem letzten Wort angegeben hatte, er
werde die "Strafe bezahlen". Hieraus kann nicht hinreichend darauf geschlossen
werden, dass der Angeklagte akzeptiert hatte, für seine Tat strafrechtlich zur
Verantwortung gezogen werden zu müssen, und anwaltlicher Beratung nicht bedurfte.
Die Erklärung, er werde die Strafe "bezahlen", hat der Angeklagte nämlich abgegeben,
nachdem zuvor der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft lediglich die Verhängung
einer (umgewandelten) Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 5,- EUR beantragt und
auch der Angeklagte seinerseits nur um eine Geldstrafe gebeten hatte. Wenn dann auf
eine Freiheitsstrafe von 4 Monaten ohne Umwandlung in eine Geldstrafe erkannt
worden ist, kann der vorangegangenen Erklärung zu einem Bezahlen der Strafe nichts
mehr dafür entnommen werden, ob sich der Angeklagte überhaupt der Bedeutung und
Tragweite des nunmehr von seiner eigenen Straferwartung abweichenden Urteils
bewusst war und von daher auch ohne die Beratung durch einen Verteidiger nach
reichlicher Überlegung (BGHSt 18, 257, 260) für einen Rechtsmittelverzicht entschieden
hat.
2.)
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Die Revision ist auf die Sachrüge hin auch begründet.
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Die Feststellungen des Amtsgerichts dazu, dass ein vollendeter Diebstahl nach §§ 242
Abs. 1, 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB vorgelegen habe, tragen den Schuldspruch nicht.
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Das Amtsgericht hat zum Tatgeschehen in Bezug auf den Angeklagten ausgeführt: "In
der Nacht auf den 15.06.2003 begab er sich mit den gesondert Verfolgten P und T auf
das Gebrauchtwagenersatzteillager in der I-Straße 126-128 in L. Hierzu bestieg er einen
das Gelände einfriedenden Zaun. Er begann,
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ebenso wie die Mitverfolgten, dort gelagerte Auspuffrohre über den Zaun zu werfen, um
diese sodann von außerhalb des Geländes abzutransportieren".
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Damit ist - so auch das Amtsgericht - zu diesem Zeitpunkt zwar der Gewahrsam des
Eigentümers gebrochen gewesen. Noch nicht aber ist es nach diesen Feststellungen
auch schon zur gleichfalls für die Wegnahmehandlung erforderlichen Begründung
neuen Gewahrsams (vgl. BGHSt 16, 271; BGH NJW 81, 997; Tröndle-Fischer, StGB, 52.
Aufl., § 242 Rn. 17) durch den Angeklagten oder durch seine Mittäter gekommen. Das
Erfordernis dieses Merkmals wird in dem angefochtenem Urteil nicht einmal erwähnt.
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Für die erneute Hauptverhandlung wird drauf hingewiesen, dass die
Strafzumessungserwägungen in dem angefochtenen Urteil zum einen den
Anforderungen des § 46 Abs. 2 StGB nicht genügen (sie verhalten sich nur zu § 47
StGB) und dass zum anderen die Ausführungen zur Notwendigkeit einer kurzen
Freiheitsstrafe nach § 47 Abs. 1 StGB dem für diese Vorschrift geltenden
Begründungszwang nicht entsprechen. Das Urteil muss eine auf den Einzelfall
bezogene, die Würdigung von Tat und Täterpersönlichkeit umfassende Begründung
dafür enthalten, welche besonderen Umstände die Verhängung einer kurzfristigen
Freiheitsstrafe unerlässlich gemacht haben, wobei sich eine Gesamtwürdigung aller die
Tat und den Täter kennzeichnenden Umstände als unverzichtbar erweist (vgl. BGH
NStZ 96, 429; BGH StV 94, 370; ständige Rechtsprechung auch des Senats, vgl. etwa
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Senatsentscheidungen vom 05. September 2003, Ss 334/03 und vom 16. April 2004, Ss
130/04). Es kommt hinzu, dass das Amtsgericht auch nicht summarisch auf Vorstrafen
("bereits mehrfach als jugendlicher Straftäter in Erscheinung getreten") hätte hinweisen
dürfen (vgl. OLG Celle DAR 70, 188; OLG Düsseldorf VRS 39, 328; Schönke-
Schröder/Stree, StGB, 26. Aufl., § 47 Rn. 19). Es ist für die Strafzumessung erforderlich,
dass bei straferschwerender Berücksichtigung von Vorstrafen neben dem Zeitpunkt der
Verurteilung und der Art und der Höhe der Strafen in der Regel auch die den
Vorverurteilungen zugrunde liegenden Sachverhalte zwar knapp, aber doch in einer
aussagekräftigen Form zu umreißen sind (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. etwa
Senatsentscheidungen vom 08.08.2000 - Ss 340/00, vom 28.12.2000 - Ss 513/00 - und
vom 27.07.2004 - Ss 340/04 - ; ebenso etwa OLG Koblenz StV 94, 291 und OLG
Frankfurt StV 95, 27; vgl. auch Tröndle-Fischer, § 46 Rn. 38: "knappe
Zusammenfassung derjenigen Gesichtspunkte, auf welchen die konkrete Verwertung für
die neue Strafzumessung beruht").