Urteil des OLG Köln vom 21.07.2010

OLG Köln (verfügung von todes wegen, gemeinschaftliches testament, ausschlagung der erbschaft, erbvertrag, bindungswirkung, anfechtungsfrist, erblasser, rechtsirrtum, anfechtung, erbeinsetzung)

Oberlandesgericht Köln, 2 Wx 81/10
Datum:
21.07.2010
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Wx 81/10
Vorinstanz:
Amtsgericht Aachen, 74 M VI 1897/09
Tenor:
Die Beschwerde der Beteiligten zu 1) und 2) gegen den Beschluss des
Amtsgerichts Aachen vom 8. März 2010 - 74 M VI 1897/09 - wird
zurückgewiesen.
Die Beteiligten zu 1) und 2) haben die Kosten des
Beschwerdeverfahrens zu tragen.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe:
1
I.
2
Die am 11. Juli 2009 ohne eigene Abkömmlinge verstorbene Erblasserin war in erster
Ehe verheiratet mit Herrn I. X. M.. Mit ihm schloss sie am 10. Juli 1975 einen notariell
beurkundeten Erbvertrag, in welchem der Ehemann die Erblasserin zu seiner alleinigen
Erbin einsetze. Die Erblasserin ihrerseits setzte die beiden Kinder des Ehemannes aus
dessen erster Ehe zu ihren Erben ein. Dabei handelt es sich zum einen um die
Beteiligte zu 3), zum anderen um eine nach Abschluss des Erbvertrages, aber vor der
Erblasserin kinderlos verstorbene Schwester der Beteiligten zu 3). Die Erblasserin
vermachte desweiteren in diesem Erbvertrag den Beteiligten zu 1) und 2), ihren
Geschwistern, eine Grundbesitzbeteiligung. Die Ehegatten behielten sich kein
Rücktrittsrecht von diesem Erbvertrag vor. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Bl.
12 ff. d.A. 74 b IV 100-101/88 AG Aachen verwiesen.
3
Nach dem Tod des Herrn M. am 9. Januar 1988 schlug die Erblasserin die Erbschaft
aus allen Berufungsgründen aus, da der Nachlass überschuldet sei. Anschließend
schlugen auch die Beteiligte zu 3) – zugleich für ihre Kinder – und ihre Schwester das
Erbe wegen Überschuldung des Nachlasses aus.
4
Die Erblasserin heiratete im Dezember 1994 Herrn K. N., den Vater der Beteiligten zu 4)
5
bis 6). Im Vorgriff auf die beabsichtigte Eheschließung schlossen die Erblasserin und
Herr N. am 9. November 1994 einen notariell beurkundeten Ehe- und Erbvertrag. Hierin
setzte u.a. die Erblasserin ihren zukünftigen Ehemann, ersatzweise dessen
Abkömmlinge, zu ihren Erben ein. Hinsichtlich dieser Ersatzerbeneinsetzung behielt sie
sich ein Rücktrittsrecht vom Erbvertrag vor. Dieser Erbvertrag wurde nachfolgend
mehrfach geändert; die Änderungen betrafen jedoch nur Verfügungen des Herrn N.
zugunsten der Erblasserin.
Nachdem Herr N. am 24. Februar 2001 verstorben war, errichtete die Erblasserin am 10.
Mai 2001 ein Testament vor Notar O. in Q., in welchem sie die Beteiligten zu 1) und 2)
zu ihren Erben zu je ½-Anteil einsetzte. Eingangs des Testamentes heißt es: "Die
Erschienene erklärte dem Notar auf Befragen, daß sie die deutsche Staatsangehörigkeit
besitze und bisher keine Verfügungen von Todes wegen errichtet habe, durch die sie
gehindert sei, über ihren Nachlaß frei zu verfügen."
6
Durch weiteres Testament vom 19. Dezember 2006 setzte die Erblasserin noch einige
Vermächtnisse aus, ließ aber im übrigen die Erbeinsetzung der Beteiligten zu 1) und 2)
bis zu ihrem Tode unverändert. Wegen der Einzelheiten der vorgenannten Erbverträge
und Testamente wird auf Bl. 17 ff. d.A. 74 M IV 1431/09 AG Aachen verwiesen.
7
Die Beteiligten zu 1) und 2) beantragten am 3. November 2009 zu Protokoll des
Amtsgerichts – Nachlassgerichts – Aachen die Erteilung eines Erbscheins
dahingehend, dass die Erblasserin von ihnen zu je ½ beerbt worden sei. Sie vertraten
darin die Auffassung, dass die Bindungswirkung des Erbvertrages vom 10. Juli 1975
infolge der Ausschlagung der Erbschaft erloschen sei. Die hierzu angehörte Beteiligte
zu 3) trat dieser Ansicht unter Hinweis auf den fehlenden Vorbehalt eines
Rücktrittsrechts entgegen. Sie ist der Ansicht, sie selbst sei Alleinerbin geworden.
8
Die Beteiligten zu 1) und 2) haben mit Schriftsatz vom 7. Januar 2010 die Anfechtung
des Erbvertrages vom 10. Juli 1975 erklärt (Bl. 36, 41 d.A.). Hierzu behaupten sie, die
Erbeinsetzung der Kinder des Herrn M. im Erbvertrag vom 10. Juli 1975 sei im Hinblick
darauf erfolgt, dass damals der Ehemann das von ihm betriebene LKW-Import/Export-
Unternehmen wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten auf seine Ehefrau übertragen
habe, selbst aber weiterhin den Betrieb geführt habe. Dieses Unternehmen wie auch
das übrige Vermögen habe den Kindern des Herrn M. erhalten werden sollen. Die
Erblasserin habe lediglich die bereits damals den Beteiligten zu 1) und 2) vermachte
Grundstücksbeteiligung in die Ehe eingebracht. Die Erwartung bei Abschluss des
Erbvertrages, dass das von der Erblasserin hinterlassene Vermögen im Wesentlichen –
mit Ausnahme der Grundstücksbeteiligung - aus der Familie des Herrn M. und dessen
Arbeitsleistung stammen werde, habe sich aber nicht erfüllt. Beim Tod des Herrn M.
habe die Erblasserin vor dem wirtschaftlichen "Nichts" gestanden. Der Nachlass sei mit
350.000,00 DM überschuldet gewesen; diese Verbindlichkeiten habe die damals
vermögenslose Erblasserin nicht decken können. Ihr späteres Vermögen habe sie
ausschließlich nach der Eheschließung mit Herrn N. erworben. Schon hieraus ergebe
sich, dass die Bindungswirkung des Erbvertrages das beim Tode der Erblasserin
vorhandene Vermögen überhaupt nicht erfasse. Jedenfalls aber sei die Erblasserin
wegen der nicht eingetretenen Erwartung, die sie zur Erbeinsetzung der Kinder des
Herrn M. motiviert habe, zur Anfechtung berechtigt.
9
Die Beteiligte zu 3) hat den gesamten vorgenannten Sachvortrag der Beteiligten zu 1)
und 2) mit Nichtwissen bestritten.
10
Die Beteiligten zu 4) bis 6) sind auf ihren Antrag an dem Verfahren beteiligt worden; sie
haben sich jedoch zur Sache nicht geäußert.
11
Das Amtsgericht Aachen hat mit Beschluss vom 8. März 2010 den Erbscheinsantrag der
Beteiligten zu 1) und 2) zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der
Erbvertrag könne nicht so ausgelegt werden, dass die Bindungswirkung im Falle der
Überschuldung des Nachlasses des Herrn M. entfallen solle. Die Eheleute M. hätte
vielmehr aus einer Reihe möglicher Gestaltungen zur Erreichung des von den
Beteiligten zu 1) und 2) genannten Zieles der Vermögenstrennung nach Familien
auswählen können und sich bewusst für die dann verwirklichte Variante entschieden.
Zumindest aus Sicht des Herrn M. sei auch kein Grund ersichtlich, warum dieser auf
eine zwingende Erbeinsetzung seiner Kinder hätte verzichten sollen. Eine demnach
anzunehmende erbvertragliche Bindung der Erblasserin sei nicht durch die
Ausschlagung der Erbenstellung aus dem Erbvertrag vom 10. Juli 1975 entfallen, da §
2298 Abs. 2 Satz 3 BGB nur dann eingreife, wenn sich der Erbe einen Rücktritt vom
Erbvertrag vorbehalten habe; dies sei hier nicht der Fall. Auch führe die von den
Beteiligten zu 1) und 2) erklärte Anfechtung nicht zum Ziel. Das Anfechtungsrecht sei
erloschen, da jedenfalls die Anfechtungsfrist von einem Jahr ab Kenntniserlangung
abgelaufen sei. Der Erblasserin sei bereits anlässlich der Überschuldung des
Nachlasses ihres ersten Ehemannes bekannt geworden, dass ihr ursprüngliches Motiv
für die Erbeinsetzung der Beteiligten zu 3) und deren Schwester entfallen sei. Wegen
der Einzelheiten der Begründung wird auf Bl. 58ff. d.A. verwiesen.
12
Gegen diesen ihrem Verfahrensbevollmächtigten am 10. März 2010 zugestellten
Beschluss haben die Beteiligten zu 1) und 2) mit einem am 1. April 2010 bei dem
Amtsgericht Aachen eingegangenen Schriftsatz Beschwerde eingelegt.
13
Sie wiederholen und vertiefen ihr erstinstanzliches Vorbringen. Desweiteren machen sie
geltend, die Erblasserin sei damals geschäftlich völlig unerfahren gewesen und sei in
allen geschäftlichen Dingen stets nur den Wünschen ihres ersten Ehemannes gefolgt.
Sie habe nicht erkannt, dass durch die Ausschlagungserklärung die Bindungswirkung
des Erbvertrages nicht beseitigt worden sei. Vielmehr sei sie bei Abfassung der
späteren Erbverträge und Testamente, möglicherweise auch infolge fehlerhafter
notarieller Beratung - davon ausgegangen, frei über ihr Vermögen von Todes wegen
verfügen zu können. Daher sei die Ausschlagungsfrist nicht in Gang gesetzt worden, so
dass die von den Beteiligten zu 1) und 2) erklärte Anfechtung noch rechtzeitig erfolgt sei.
14
Das Amtsgericht hat der Beschwerde mit Beschluss vom 27. Mai 2010 nicht abgeholfen
(Bl. 96 d.A.) und die Sache dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt.
15
Wegen aller weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den
vorgetragenen Inhalt der von den Beteiligten in beiden Rechtszügen gewechselten
Schriftsätze einschließlich der mit diesen Schriftsätzen als Anlagen (in Kopie)
vorgelegten Unterlagen und der vom Gericht protokollierten Erklärungen sowie auf den
Inhalt der Beiakten 74 M IV 1431/09, 74b IV 100-101/88 und 74b VI 116/88, jeweils
Amtsgericht Aachen Bezug genommen.
16
II.
17
Die gemäß § 58 FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere
18
fristgerecht eingelegte Beschwerde der Beteiligten zu 1) und 2) hat in der Sache keinen
Erfolg.
1.
19
Der Erbscheinsantrag der Beteiligten zu 1) und 2) ist unbegründet, da sie nicht Erben
der verstorbenen P. B. N. geb. von der H. sind. Zur Begründung verweist der Senat
zunächst auf die zutreffenden und von ihm nach Maßgabe der folgenden Anmerkungen
geteilten Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss und dem
Nichtabhilfebeschluss vom 27. Mai 2010.
20
a)
21
Dass die Erblasserin bei Abschluss des Erbvertrages mit ihrem ersten Ehemann
geschäftlich völlig unerfahren gewesen sein soll, führt nicht zur Unwirksamkeit des
Vertrages. Eine solche käme nur bei einer Geschäftsunfähigkeit in Betracht oder dann,
wenn die Überlegenheit des Ehemannes und ein eventuelles einseitiges Diktat von
Vertragsbedingungen seinerseits zu einer Sittenwidrigkeit des Erbvertrages führen
würden. Es sind jedoch keine konkreten Umstände vorgetragen oder sonst ersichtlich,
welche den Schluss auf eine Geschäftsunfähigkeit der Erblasserin oder eine
Sittenwidrigkeit des Vertrages zuließen.
22
b)
23
Eine Auslegung des Erbvertrages dahingehend, dass die Bindungswirkung im Fall
einer Überschuldung des Nachlasses entfallen sollte, kommt nicht in Betracht. Auch die
Beteiligten zu 1) und 2) gehen – zutreffend – davon aus, dass im Zeitpunkt des
Erbvertragsabschlusses die Erbeinsetzung der Erblasserin durch ihren Ehemann
einerseits und die Einsetzung der Kinder des Ehemannes durch die Erblasserin
andererseits vertragsmäßige Verfügungen im Sinne des § 2278 Abs. 1 BGB waren.
Vertragsmäßige Verfügungen liegen im Zweifel – und auch hier – dann vor, wenn einem
der Vertragspartner eine Zuwendung gemacht wird und dieser seinerseits eine dem
anderen nahestehende Person bedenkt. So liegt der Fall hier: es ist davon auszugehen,
dass die Erbeinsetzung der Ehefrau zur Alleinerbin seitens des Ehemannes nicht so
getroffen worden wäre, wenn nicht zugleich diese die Kinder des Ehemannes zu ihren
Erben eingesetzt hätte. Allerdings gehen die Beteiligten zu 1) und 2) davon aus, dass
die Erblasser eine Aufhebung der Vertragsmäßigkeit für den Fall der Überschuldung
des Nachlasses übereinstimmend und für den anderen Vertragspartner erkennbar (!)
gewollt haben, ohne dies im Erbvertrag explizit niederzulegen. Für eine derartige
Annahme gibt der Erbvertrag aber keinen Anhaltspunkt. Ihm ist nicht zu entnehmen,
dass die Eheleute M. überhaupt über zukünftige Veränderungen ihres Vermögens
nachgedacht hätten, noch dass sie davon ausgingen, der Ehemann werde womöglich
vermögenslos versterben. Erst recht ist ihm nicht einmal andeutungsweise zu
entnehmen, dass sie für diesen Fall vorsorgen und die Vertragsmäßigkeit ihrer
Verfügungen aufschiebend bedingt auf den Eintritt der Überschuldung aufheben
wollten. Jedenfalls auf Seiten des Ehemannes kann ein Einverständnis mit einem
derartigen Vorbehalt nicht unterstellt werden; hierzu haben die Beteiligten auch nichts
vorgetragen.
24
Sofern die Eheleute M. aber nicht bereits bei Abschluss des Erbvertrages einen
derartigen Vorbehalt vereinbart haben sollten, so wäre ein späterer, angesichts der
25
konkreten Vermögensentwicklung vereinbarter Vorbehalt jedenfalls formnichtig nach §
125 BGB. Denn dann hätte der Vorbehalt eine Abänderung des zuvor abgeschlossenen
Erbvertrages bedeutet und dementsprechend nach § 2290 Abs. 4 i.V.m. § 2276 Abs. 1
BGB der notariellen Beurkundung oder der (Teil-)Aufhebung durch ein
gemeinschaftliches Testament nach § 2292 BGB bedurft.
c)
26
Die von den Antragstellern erklärte Anfechtung des Erbvertrages ist unwirksam. Es
bedarf keiner Aufklärung in tatsächlicher Hinsicht, ob die von den Beteiligten zu 1) und
2) vorgebrachte Motivation der Erblasserin bei Abschluss des Erbvertrages vom 10. Juli
1975 tatsächlich vorlag, ob die Erwartungen der Erblasserin später enttäuscht wurden
und ob die Erblasserin sich der trotz Ausschlagungserklärung fortbestehenden
Bindungswirkung des Erbvertrages bewusst war. Ein aus der enttäuschten Motivation
folgendes mögliches Anfechtungsrecht ist jedenfalls nach § 2285 BGB erloschen, da
mögliche Anfechtungsrechte schon zu Lebzeiten der Erblasserin infolge Ablaufs der
Anfechtungsfrist nach § 2283 Abs. 1 BGB nicht mehr bestanden.
27
aa) Wie bereits das Amtsgericht ausgeführt hat, war der Erblasserin spätestens bei dem
Tod ihres ersten Ehemannes und der Erkenntnis einer erheblichen Überschuldung des
Nachlasses klar, dass eventuell zukünftiges Vermögen eben nicht mehr aus dem
Betrieb ihres verstorbenen Ehemannes werde stammen können, sondern dieses von ihr
selbst oder ggf. in einer späteren Ehe gemeinsam mit einem neuen Ehepartner würde
erwirtschaftet werden müssen. Somit waren ihr ab diesem Zeitpunkt die Tatsachen
bekannt, welche eine Anfechtbarkeit des Erbvertrages nach §§ 2281 Abs. 1, 2078 Abs.
2 BGB begründeten. Ab diesem Zeitpunkt begann die Jahresfrist des § 2283 Abs. 2
BGB zur Erklärung der Anfechtung zu laufen.
28
bb) Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der am 10. Juli 1975
abgeschlossene Erbvertrag zu diesem Zeitpunkt dem Gedächtnis der Erblasserin
entfallen war mit der Folge, dass das Vorliegen einer anderweitigen Verfügung ihr
unbekannt war. Zumindest ist der Erbvertrag anlässlich des Todes des Herrn M. erneut
in ihr Bewusstsein gerückt. Wie sich aus den Beiakten ergibt, ist der Erblasserin aus
Anlass des Todes ihres ersten Ehemannes der Erbvertrag vom 10. Juli 1975 übersandt
worden (Bl. 4f. der Akten 74b IV 100-101/88 AG Aachen). In ihrer
Ausschlagungserklärung hat sie ausdrücklich auf ihn Bezug genommen (Bl. 1 der Akte
74 b VI 116/88 AG Aachen).
29
cc) Dass die Erblasserin möglicherweise davon ausging, aufgrund der Ausschlagung
der Erbschaft nach ihrem ersten Ehemann sei nach § 2298 Abs. 2 Satz 3 BGB auch die
Bindungswirkung des Erbvertrages entfallen, hemmte den Beginn der Anfechtungsfrist
nicht. Dieser Irrtum stellt einen Rechtsirrtum dar. Der Erblasserin waren alle Fakten, aus
denen die fortbestehende Bindungswirkung und der – unterstellte –
Anfechtungstatbestand folgte, bekannt. Insbesondere war ihr der Wortlaut des
Erbvertrages bekannt, die darin enthaltene Erbeinsetzung der Kinder ihres ersten
Ehemannes, ihre ursprüngliche Motivation für diese Erbeinsetzung sowie der
Nichteintritt der bei Abschluss des Erbvertrages erwarteten Vermögensverhältnisse.
30
Nach der Rechtsprechung und h.M. in der juristischen Literatur soll ein Rechtsirrtum nur
dann beachtlich sein, wenn er die Unkenntnis einer die Anfechtung begründenden
Tatsache zur Folge hat; dagegen sei er unbeachtlich, wenn es sich nur um eine
31
rechtsirrtümliche Beurteilung des Anfechtungstatbestandes selbst handelt (vgl. RGZ
132, 1, 4; BGH NJW 1970, 279, Tz 19 bei juris; BayObLG NJW-RR 1997, 1027, 1030;
NJW-RR 1990, 846, 847; Staudinger/Kanzleiter, BGB, Neubearbeitung 2006, § 2283
Rn. ). Was die Anwendung dieses Grundsatzes in einem Fall wie dem vorliegenden
bedeutet, in welchem der Irrtum die fortbestehende Bindungswirkung eines Erbvertrages
und seine Anfechtungsbedürftigkeit zur Wiedererlangung der Testierfreiheit betrifft, wird
allerdings nicht einheitlich beurteilt.
Das Reichsgericht hatte in der genannten Entscheidung einen Fall zu beurteilen, in
welchem der Erblasser der Auffassung war, sein mit der ersten Ehefrau errichtetes
gemeinschaftliches Testament verliere durch eine weitere Eheschließung ohne
Weiteres seine Bindungswirkung, so dass es einer Anfechtung nicht bedürfe. Dies hat
das Reichsgericht als unbeachtliche Rechtsunkenntnis angesehen, durch welche der
Lauf der Anfechtungsfrist nicht gehindert werde. Das Reichsgericht hat dazu ausgeführt,
dass nur die rechtsirrtümliche Beurteilung des Anfechtungs
tatbestandes
Fristenlauf hindere, es aber nicht erforderlich sei, dass der Berechtigte auch über sein
Anfechtungs
recht
32
Der Senat hat ebenso wie das KG entschieden, dass in diesem Sinne auch die
Kenntnis von dem Fortbestand einer bindenden Verfügung von Todes wegen zum
Anfechtungstatbestand des § 2079 BGB gehöre, so dass ein Rechtsirrtum über die
Wirksamkeit des Widerrufs oder der Anfechtung einer solchen den Ablauf der
Anfechtungsfrist hemme (vgl. Senat, OLGZ 1967, 496; KG FamRZ 1968, 218, 219).
33
Der BGH ist in seiner Entscheidung BGH NJW 1970, 279 davon ausgegangen, dass ein
Rechtsirrtum beachtlich sei und die Anfechtungsfrist nicht zu laufen beginne, wenn der
Anfechtungsberechtigte von der Unwirksamkeit des ersten Testamentes ausgehe.
Welchen konkreten Fall der Unwirksamkeit des vorangegangenen, Bindungswirkung
entfaltenden Testamentes der BGH hier meinte, ist der Entscheidung nicht zu
entnehmen.
34
In der Entscheidung BayObLG NJW-RR 1990, 846 war der Erblasser davon
ausgegangen, ein vorheriges gemeinschaftliches Testament sei bereits aufgrund der
Vernichtung der Testamentsurkunde unwirksam geworden, so dass keine
Bindungswirkung mehr bestehe und es einer Anfechtung nicht bedürfe. Dies hat das
Gericht als bloßen unbeachtlichen Rechtsirrtum angesehen und den Ablauf der
Anfechtungsfrist bejaht. In gleicher Weise hat das BayObLG es für unbeachtlich
gehalten, wenn der Erblasser glaubte, durch ein anhängiges Scheidungsverfahren
werde der mit der Ehefrau abgeschlossene Erbvertrag ohne Anfechtung ungültig
(BayObLG NJW-RR 1990, 200, 201). Gleiches solle für den Fall gelten, dass der
Erblasser davon ausging, allein der Wegfall des dem Erbvertrag zugrunde liegenden
Motivs genüge bereits zum Wegfall der Bindungswirkung (dort war die Erblasserin,
ebenso wie im vorliegenden Fall, bei Erbvertragsabschluss davon ausgegangen, das
von ihr [auch] an die Kinder des Ehemannes aus dessen erster Ehe zu vererbendes
Vermögen werde im Wesentlichen aus dieser Ehe stammen). Auch hier hat das
BayObLG ausgeführt, der Erblasserin seien alle wesentlichen Tatsachen bekannt
gewesen, sie habe lediglich die weiterhin bestehende Bindungswirkung des
Erbvertrages falsch eingeschätzt; dies sei ein reiner Rechtsirrtum (BayObLG, NJW-RR
1991, 454, 455).
35
In einer weiteren Entscheidung hat das BayObLG dagegen angenommen, ein Irrtum des
36
Erblassers über den Fortbestand der bindenden letztwilligen Verfügung und die
Anfechtungsbedürftigkeit sei beachtlich; die Anfechtungsfrist beginne somit erst zu
laufen, wenn der Erblasser auch die rechtlichen Folgen erkannt habe. Der Erblasser war
im entschiedenen Fall davon ausgegangen, ein mit seiner ersten Ehefrau errichtetes
gemeinschaftliches Testament werde durch eine erneute Eheschließung hinfällig
(BayObLG NJW-RR 1992, 1223, 1224; zustimmend Staudinger/Kanzleiter, BGB,
Neubearbeitung 2006, § 2283, Rn. 8).
In einer weiteren Entscheidungen führt das BayObLG dagegen wieder aus, es sei
unbeachtlich, wenn der Erblasser annehme, die Bindungswirkung entfalle ohne
weiteres aufgrund einer zweiten Eheschließung (BayObLG NJW-RR 1997, 1027,1030).
In derselben Entscheidung wird zudem erklärt, es könne ein beachtlicher Inhaltsirrtum
sein, wenn sich der Erblasser über die von einem Erbvertrag ausgehende
Bindungswirkung im Unklaren sei (BayObLG NJW-RR 1997, 1027, 1028). Allerdings
soll nach einer anderen Entscheidung ein Rechtsirrtum über die Bindungswirkung die
Kenntnis des Erblassers vom Bestand der Verfügungen und damit den Beginn der
Anfechtungsfrist nicht ausschließen (BayObLG ZEV 1995, 1024, 1026).
37
Dieser Überblick lässt es verständlich erscheinen, wenn die Differenzierungen der
Rechtsprechung in der Literatur als "nicht ganz nachvollziehbar" (vgl. Gutachten des
Deutschen Notarinstituts in DNotI-Report 1998, 78, 80) oder als in der Praxis kaum
durchführbar (vgl. Schubert/Czub, JA 1980, 334, 336) bezeichnet werden. Auch das
OLG Frankfurt hat kritisiert, die Unterschiede seien kompliziert und in der Praxis nur
schwer zu handhaben (vgl. OLG Frankfurt, NJWE-FER 2000, 37, Tz. 19 bei juris).
38
Dabei ist aber in Rechnung zu stellen, dass sich – mit einer Ausnahme – alle genannten
Entscheidungen mit dem Anfechtungstatbestand des übergangenen
Pflichtteilsberechtigten aus § 2079 BGB befassen. Dieser weist insofern die
Besonderheit auf, dass die Voraussetzungen des Anfechtungstatbestandes aus sog.
Rechtstatsachen bestehen. Von daher mag man darüber streiten, ob zur Kenntnis
dieses Tatbestandes auch gehört, dass der Anfechtungsberechtigte eine Person
überhaupt als pflichtteilsberechtigt erkennt und außerdem erkennt, dass diese Person
"übergangen" ist, was eine fortbestehende und bindende anderweitige Verfügung von
Todes wegen voraussetzt. Gleiches mag für Fälle des Inhaltsirrtums gelten, wenn dem
Erblasser nicht klar ist, welche rechtlichen Folgen die von ihm abgegebenen
Erklärungen in einer letztwilligen Verfügung haben. Dies muss hier aber nicht
entschieden werden. Denn die Kenntnis von den Voraussetzungen des
Anfechtungstatbestandes des § 2078 Abs. 2 BGB setzt im Falle des Motivirrtums
regelmäßig – und auch hier – keine Rechtskenntnisse und keine rechtlich zutreffende
Beurteilung der Sachlage voraus. Welche Motive ihn zu einer Verfügung von Todes
wegen bestimmt haben, weiß der Erblasser, ohne hierzu rechtliche Überlegungen
anstellen zu müssen. Ebenso setzt es keine Rechtskenntnisse voraus zu erkennen,
dass und wann sich diese Motive als irrige Annahmen erweisen. Um Missverständnisse
zu vermeiden sei hinzugefügt, dass dies auch dann gilt, wenn das Motiv seinerseits auf
einer rechtlichen Bewertung basierte. Hat der Erblasser beispielsweise eine bestimmte
Person zum Miterben eingesetzt, weil er sie irrtümlich für nicht pflichtteilsberechtigt hielt,
ihr aber etwas zukommen lassen wollte, so befindet er sich zwar in einem Rechtsirrtum.
Dass die vermeintlich fehlende Pflichtteilsberechtigung sein Motiv für die Erbeinsetzung
war, weiß der Erblasser aber ohne Rechtskenntnisse, ebenso wird er bei späterer
rechtlicher Aufklärung erkennen, dass sein Motiv nun weggefallen ist. Es bedarf daher
auch in diesem Fall keiner Berücksichtigung von Rechtsirrtümern bei der Frage, wann
39
die Anfechtungsfrist zu laufen beginnt; auch hier kann allein auf die Kenntnis vom
Anfechtungstatbestand abgestellt werden.
dd) Auf den vorliegenden Fall angewendet bedeutet dies, dass entscheidend für den
Beginn der Anfechtungsfrist allein die Kenntnis von der fehlgeschlagenen Erwartung
war, die Erblasserin werde im Wesentlichen Vermögen zu vererben haben, das aus
ihrer ersten Ehe stammt. Bei dem Irrtum darüber, dass trotz der Ausschlagungserklärung
eine weiterhin bindende Erbeinsetzung der Kinder des Herrn M. aus dessen erster Ehe
vorlag, handelt es sich dagegen um einen unbeachtlichen Rechtsirrtum, der für das
Vorliegen des Anfechtungstatbestandes des Motivirrtums ohne Bedeutung ist und den
Lauf der Anfechtungsfrist daher nicht hemmen konnte.
40
ee) Da die Anfechtungsfrist bereits im Jahre 1989 abgelaufen war, ist es ohne Belang,
ob die Erblasserin anlässlich späterer Beurkundungen weiterer letztwilliger
Verfügungen fehlerhaft notariell beraten worden ist. Hierdurch mag zwar eine noch
laufende Anfechtungsfrist nach §§ 2283 Abs. 2 Satz 2, 206 BGB gehemmt werden (vgl.
dazu Senat, OLGZ 1967, 496, 499), jedoch kann eine bereits abgelaufenen
Anfechtungsfrist nicht erneut in Gang gesetzt werden.
41
d)
42
Ob der Erbvertrag nach §§ 2281 Abs. 1, 2079 BGB aufgrund der nachfolgenden
Eheschließung der Erblasserin mit Herrn K. N. anfechtbar (gewesen) wäre, kann hier
dahinstehen, da die Antragsteller jedenfalls nicht nach § 2079 Abs. 3 BGB
anfechtungsberechtigt sind.
43
III.
44
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG.
45
Der Beschwerdewert wird gesondert festgesetzt.
46
Die Rechtsbeschwerde war gemäß § 70 Abs. 2 Nr. 2 FamFG zuzulassen. Wie
vorstehend ausgeführt, werden die Grenzen zwischen einem beachtlichen und einem
unbeachtlichen Rechtsirrtum im Rahmen der Testaments- und Erbvertragsanfechtung
von der obergerichtlichen Rechtsprechung nicht einheitlich gezogen. Dass im Bereich
des Motivirrtums überhaupt kein beachtlicher Rechtsirrtum vorliegen könne, wie vom
Senat vorliegend vertreten, ist soweit ersichtlich in dieser Allgemeinheit bisher noch
nicht entschieden worden. Die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung erfordern daher eine Entscheidung des
Bundesgerichtshofes.
47
Rechtsmittelbelehrung:
48
Gegen diesen Beschluss ist das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde gegeben. Sie ist
binnen einer Frist von einem Monat nach der schriftlichen Bekanntgabe dieses
Beschlusses durch Einreichung einer in deutscher Sprache abgefassten und
unterschriebenen Beschwerdeschrift eines beim Bundesgerichtshof zugelassenen
Rechtsanwalts beim Bundesgerichtshof, Herrenstraße 45a, 76133 Karlsruhe
(Postanschrift: Bundesgerichtshof, 76125 Karlsruhe) einzulegen.
49
Die Rechtsbeschwerdeschrift muss die Bezeichnung des Beschlusses, gegen den die
Rechtsbeschwerde gerichtet wird, und die Erklärung enthalten, dass gegen diesen
Beschluss Rechtsbeschwerde eingelegt wird.
50
Sofern die Beschwerdeschrift keine Begründung enthält, ist die Rechtsbeschwerde
binnen einer Frist von einem Monat zu begründen; diese Frist beginnt mit der
schriftlichen Bekanntgabe dieses Beschlusses und kann auf Antrag durch den
Vorsitzenden des Rechtsbeschwerdegerichts (Bundesgerichtshof) verlängert werden.
51
Die Begründung der Rechtsbeschwerde muss enthalten:
52
1. die Erklärung, inwieweit der Beschluss angefochten und dessen Aufhebung
beantragt wird (Rechtsbeschwerdeanträge)
2. die Angabe der Rechtsbeschwerdegründe, und zwar
53
a. die bestimmte Bezeichnung der Umstände, aus denen sich die Rechtsverletzung
ergibt;
b. soweit die Rechtsbeschwerde darauf gestützt wird, dass das Gesetz in Bezug auf
das Verfahren verletzt sei, die Bezeichnung der Tatsachen, die den Mangel
ergeben.
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55
56