Urteil des OLG Köln vom 20.05.1999
OLG Köln (kläger, kontrolle, haftung, zpo, abstand, öffentlich, verhältnis, gruppe, jugendhilfe, zaun)
Oberlandesgericht Köln, 7 U 5/99
Datum:
20.05.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
7. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
7 U 5/99
Vorinstanz:
Landgericht Aachen, 4 O 213/98
Schlagworte:
Haftung
Normen:
§ 832 Abs. 1 Satz 2 BGB
Leitsätze:
1. Zur Frage der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben durch das
Personal eines städtischen Kindergartens. 2. Kinder, die sich in einer
Gruppe auf dem Außengelände eines Kindergartens aufhalten, dürfen
nicht über einen längeren Zeitraum (hier 15 bis 20 Minuten)
unbeaufsichtigt bleiben. Geboten ist vielmehr eine engmaschigere
Kontrolle im Abstand von wenigen Minuten. 3. Die Beweislastregeln des
§ 832 Abs. 1 Satz 2 BGB sind im Rahmen des § 839 BGB entsprechend
anwendbar.
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Aachen
vom 2.12.1998 (4 O 213/98) wird zurückgewiesen mit der Maßgabe,
dass das Urteil des Landgerichts im Hinblick auf den
zurückgenommenen Teil in Höhe von 257,45 DM nebst anteiligen
Zinsen unwirksam ist. Die Kosten des Rechtsstreits tragen zu 13% der
Kläger und zu 87% die Beklagte. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Berufung ist zulässig, hat in der Sache - soweit über sie nach der teilweisen
Klagerücknahme noch zu befinden ist - aber keinen Erfolg.
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Die Beklagte ist dem Kläger zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den die Kinder durch
Steine, die vom Gelände des Kindergartens der Beklagten aus geworfen wurden, am
Fahrzeug des Klägers verursacht haben, weil die Aufsichtskräfte ihrer Aufsichtspflicht
nicht in gebotenem Umfang nachgekommen sind.
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Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob die dem Personal eines städtischen
Kindergartens obliegenden Aufsichtspflichten als Pflichten "in Ausübung eines
öffentlichen Amtes" anzusehen sind, wie das Landgericht angenommen hat (ebenso
etwa - ohne Begründung - OLG Düsseldorf, VersR 1996, 710 f.), und demzufolge § 839
BGB Anwendung findet, oder ob sie privatrechtlicher Natur sind und sich die Haftung
der Beklagten nach § 832 BGB richtet. Für die Annahme hoheitlicher Tätigkeit könnte
dabei etwa angeführt werden, dass es sich bei der Betreuung von Kindern in
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Kindertagesstätten um eine Aufgabe der Daseinsvorsorge handelt, die der Jugendhilfe
obliegt (§§ 2
Abs. 2 Nr. 3, 22 ff. SGB VIII), dass Träger des Kindergartens im konkreten Fall eine
Gebietskörperschaft des öffentlichen Rechts ist und dass für den Besuch einer
Kindertagesstätte nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern gestaffelte
öffentlich-rechtliche Beiträge erhoben werden. Andererseits ließe sich für einen
privatrechtlichen Charakter anführen, dass die öffentliche Jugendhilfe nur subsidiär
insoweit zuständig ist, als freie Träger nicht zur Verfügung stehen (§ 4 Abs. 2 SGB VIII),
dass die öffentlich-rechtliche Trägerschaft und die öffentlich-rechtliche Ausgestaltung
der Finanzierung keine zwingenden Indizien darstellen, dass Betrieb und Unterhaltung
von Kindergärten wohl nicht als traditionelle öffentliche Aufgaben anzusehen sind, und
dass sich das Verhältnis des Kindes zum Kindergarten schon wegen des freiwilligen
Charakters grundlegend unterscheidet etwa vom zweifellos hoheitlich zu beurteilenden
Verhältnis des Schülers zur Schule, vielmehr eher ähnelt dem (privatrechtlich zu
beurteilenden) Verhältnis des Patienten zum in öffentlicher Trägerschaft betriebenen
Krankenhaus (vgl. insoweit etwa BGH NJW 1985, 677 ff.). Einer abschließenden
Entscheidung dieser Frage bedarf es deshalb nicht, weil die an den Umfang der
Aufsichtspflicht zu stellenden Anforderungen bei § 839 BGB und bei § 832 BGB gleich
zu beurteilen sind (BGH aaO S. 678), und sich auch ansonsten - zumindest im hier zu
entscheidenden Fall - keine Unterschiede in der Rechtsanwendung ergeben.
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Kinder, die sich in einer größeren Gruppe auf dem Außengelände eines Kindergartens
aufhalten, sind so zu beaufsichtigen, dass eine relativ engmaschige Kontrolle jedes
Kindes sichergestellt ist. Die Aufsichtskräfte müssen zwar nicht jedes Kind
ununterbrochen, also "auf Schritt und Tritt" im Auge haben (so auch OLG Düsseldorf
VersR 1996, 710 f.), wobei sich die Dichte der Kontrolle, wie das Landgericht zutreffend
ausgeführt hat, an Entwicklungsstand, Charakter und Eigenart des jeweiligen Kindes zu
richten haben, sowie danach, ob das Kind in der Vergangenheit Auffälligkeiten zeigte,
die Anlass zu besonderer Obacht geben. Es geht aber nicht an, dass Kinder im
Kindergartenalter, auch wenn sie bislang nicht auffällig wurden, sich über einen
längeren Zeitraum selbst überlassen bleiben. Die Auffassung des Landgerichts Krefeld
(Urteil vom 14.3.1996, 3 O 128/95), wonach sechsjährige Kinder sich auf dem
Kindergartengelände ohne weiteres für Zeiträume von einer halben Stunde
unbeaufsichtigt auf dem Außengelände des Kindergartens sollen aufhalten können, teilt
der Senat ausdrücklich nicht. Insoweit sind auch nicht die von der Rechtsprechung für
gleichaltrige einzelne Kinder entwickelten Grundsätze auf Fälle der vorliegenden Art
übertragbar, denn in einer Gruppe spielende (tobende) Kinder sind nicht nur selbst
größeren (Verletzungs-)Gefahren ausgesetzt, sondern neigen auch eher zu
Dummheiten, wie gerade auch der vorliegende Fall zeigt. Die Aufsichtspflicht wird dort
besonders sorgfältig wahrzunehmen sein, wo sich spezielle Gefahren für die Kinder
selbst oder für Dritte realisieren können, wie hier entlang eines relativ niedrigen Zaunes
zu einer befahrenen Straße. Dies gilt um so mehr, wenn dort wegen einer Hecke die
Einsichtnahme für den Aufsichtspflichtigen erheblich beeinträchtigt ist.
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Dieser Verpflichtung sind die Aufsichtskräfte des Kindergartens nicht nachgekommen.
Es ist zwischen den Parteien nicht streitig, dass drei Kinder vom Gelände des
Kindergartens aus auf das Fahrzeug des Klägers Steine geworfen haben, schließlich
hat die Beklagte selbst eingeräumt, die betreffenden Kinder namentlich ermittelt zu
haben. Dass dies geschehen konnte, obwohl die Aufsichtsführenden ihren oben näher
bezeichneten Pflichten nachgekommen wären, ist dem Vorbringen der Parteien und
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dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme nicht zu entnehmen.
Die von der Beklagten vorgetragene bloße Anwesenheit von drei Aufsichtsführenden
auf dem Gelände reicht sicherlich nicht aus, denn Anwesenheit allein bedeutet noch
nicht, dass auch eine effektive Aufsicht stattgefunden hat. Gleiches gilt für die Aussage
der Zeugin E.-R., die lediglich bekundete, normalerweise würden regelmäßig
Kontrollgänge im Abstand von 15 bis 20 Minuten durchgeführt. Abgesehen von der
Ungewissheit, ob es sich auch am fraglichen Tag so verhielt, reichen derartige
Kontrollintervalle nach dem oben Gesagten nicht aus, vielmehr war eine deutlich
engmaschigere Kontrolle im Abstand von wenigen Minuten geboten. Darüber hinaus ist
weder vom Kläger noch von der Beklagten Näheres zur Wahrnehmung der
Aufsichtspflicht am damaligen Tag vorgetragen worden, insbesondere nicht, wann und
wie lange man die drei Kinder, die Steine auf die Straße warfen, im Blick hatte, wie
häufig und wann zuletzt man die dem Blickfeld entzogene Stelle am Zaun kontrolliert
hatte, und wie es kommen konnte, dass die Kinder vom anderen Gelände des
Grundstücks zahlreiche Steine aufsammeln und zum Zaun tragen konnten, ohne dass
dies den Aufsichtskräften aufgefallen wäre.
Dies geht zu Lasten der Beklagten. Soweit sich der Anspruch aus § 832 BGB ergeben
sollte, folgt dies unmittelbar aus § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB, wonach der
Aufsichtspflichtige darzulegen und zu beweisen hat, dass er ordnungsgemäß
beaufsichtigt hat oder der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden
wäre, was die Beklagte nicht getan hat. Aber auch im Rahmen des § 839 BGB sind
nach Auffassung des Senats die Grundsätze des § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB
entsprechend anwendbar. Es kann keinen Unterschied machen, ob eine bestehende
Aufsichtspflicht sich als Amtspflicht darstellt oder nicht, hier konkret also, ob die Steine
vom Gelände eines städtischen Kindergartens oder eines Kindergartens in freier
Trägerschaft geworfen wurden. Dies wird allerdings von anderen Oberlandesgerichten
(OLG Düsseldorf, VersR 1996, 710; OLG Dresden NJW-RR 1997, 857 f.) anders
gesehen. Auch der BGH hat in einer früheren Entscheidung die Beweislastverteilung
des § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB im Rahmen des § 839 BGB für unanwendbar gehalten
(BGH NJW 1954, 874). Allerdings geht der Senat davon aus, dass diese Entscheidung
des BGH überholt ist, denn sowohl bei der Haftung für Tiere als auch bei der Haftung für
den Zustand von Gebäuden sind nach neuerer Rechtsprechung des BGH die
Beweislastregelungen der §§ 833 Satz 2 (etwa BGH VersR 1972, 1047 f.) bzw. 836 Abs.
1 Satz 2 BGB (etwa BGH NJW-RR 1990, 1500 m.w.N.) im Rahmen des § 839 BGB
entsprechend heranzuziehen. Einen plausiblen Grund, warum für § 832 Abs. 1 Satz 2
BGB etwas anderes gelten soll, vermag der Senat nicht zu erkennen.
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Eine Zulassung der Revision wegen dieser Frage war nicht veranlasst, denn selbst
wenn mit der Gegenmeinung der Entlastungsbeweis des § 832 Abs. 1 Satz 2 BGB im
Rahmen von § 839 BGB nicht entsprechende Anwendung fände, hätte die Beklagte der
ihr obliegenden Substantiierungspflicht nicht genügt, so
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dass sich am Ergebnis nichts ändern würde. Der Kläger hatte seiner Darlegungslast
zunächst dadurch genügt, dass er die Schadensverursachung durch offensichtlich -
jedenfalls zur Zeit der Schädigung - unbeaufsichtigte Kinder vortrug. Weitergehenden
Vortrag zur Verletzung der den Aufsichtskräften obliegenden Pflichten war ihm nicht
möglich, da er insoweit über keine Erkenntnismöglichkeiten verfügte, und
entsprechende zielgerichtete Nachforschungen waren ihm jedenfalls nicht zumutbar. Er
durfte sich in dieser Situation vielmehr darauf beschränken, die objektive Verletzung der
Aufsichtspflicht allgemein zu behaupten. Dass die objektive Pflichtverletzung auch
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schadensursächlich war und auf einem der Beklagten zurechenbaren Verschulden der
Bediensteten beruhte, bedurfte ebenfalls keiner weiteren Darlegung, da es nach den
Grundsätzen über den Beweis des ersten Anscheins vermutet werden konnte. Da sich
die Aufsicht über die Kinder allein in der Sphäre der Beklagten abspielte, lag es an
dieser, die objektive Pflichtverletzung konkret und substantiiert zu bestreiten, indem sie
die getroffenen Maßnahmen darlegte. Dies hätte dann erst wieder den Kläger
gezwungen, konkret hierauf einzugehen und Beweis für die Unrichtigkeit des
Beklagtenvorbringens anzutreten. Die Beklagte hätte auch den Anscheinsbeweis
hinsichtlich der Kausalität und des Verschuldens erschüttern können. All dies hat die
Beklagte jedoch nicht getan, so dass die Anspruchsvoraussetzungen auch dann zu
bejahen wären, wenn die Darlegungs- und Beweislast im Rahmen des § 839 BGB
grundsätzlich beim Kläger verbliebe.
Durch die Vorlage des Kostenvoranschlages eines Fachbetriebes hat der Kläger den
entstandenen Schaden hinreichend glaubhaft gemacht, so dass der dort ausgeworfene
Reparaturbetrag als ausreichende Grundlage für eine entsprechende auf § 287 ZPO
beruhende Schadensschätzung angesehen werden kann. Die dort aufgeführten
Maßnahmen passen zu einem Schadensbild, wie es bei Steinwürfen zu erwarten ist. Zu
ersetzen war damit der für die Instandsetzung des Fahrzeugs erforderliche Nettobetrag
in Höhe von 1716,31 DM.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 97, 269 Abs.3 ZPO, die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
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Streitwert: 2.013,76 DM.
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