Urteil des OLG Köln vom 18.01.2000

OLG Köln: versicherer, versicherungsnehmer, widerklage, unfall, kündigungsfrist, akteneinsicht, vollstreckbarkeit, regress, obliegenheit, versicherungsschutz

Oberlandesgericht Köln, 9 U 111/99
Datum:
18.01.2000
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
9. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 U 111/99
Vorinstanz:
Landgericht Aachen, 10 0 627/98
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das am 12.05.1999 verkündete Urteil
der 10. Zivilkammer des Landgerichts Aachen - 10 0 627/98 - wird
zurückgewiesen. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der
Beklagten auferlegt. Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die in formeller Hinsicht bedenkenfreie Berufung der Beklagten ist unbegründet.
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Das Landgericht hat zu Recht der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen.
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1. Die Klageanträge sind begründet. Der ursprüngliche Klageantrag zu 1) betreffend die
Verpflichtung zur Gewährung von Versicherungsschutz ist in der Hauptsache erledigt.
Er wäre zulässig und begründet gewesen, wenn nicht durch die Erhebung der auf
Regreßzahlung gerichteten Widerklage der Beklagten das Feststellunginteresse
entfallen wäre.
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Der Kraftfahrzeug-Versicherungsvertrag zwischen den Parteien (Nr. ...) besteht weiterhin
fort, so daß auch der Feststellungsantrag zu 2) begründet ist.
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Die Kündigung durch die Beklagte vom 05.06.1998 ist nämlich verspätet, also nicht
wirksam gewesen.
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Nach § 6 Abs. 1 VVG kann sich der Versicherer bei einer schuldhaften
Obliegenheitsverletzung vor dem Versicherungsfall auf Leistungsfreiheit nur berufen,
wenn er innerhalb eines Monats nach Kenntniserlangung von der Verletzung einer
Obliegenheit den Vertrag kündigt.
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Die Voraussetzungen einer für den Schadenfall kausalen und schuldhaften
Obliegenheitsverletzung, Verstoß gegen § 2 b Nr. 1e AKB (Trunkenheitsklausel), sind
zwar gegeben. Bei absoluter Fahruntüchtigkeit wie hier ist von einer entsprechenden
Obliegenheitsverletzung auszugehen (vgl. Knappmann in Prölss/Martin, VVG, 26. Aufl.,
§ 2b AKB, Rn 32; 12 AKB, Rn. 90 ff ). Jedoch fehlt es an einer wirksamen Kündigung
des Versicherungsvertrages.
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Allerdings geht der Senat davon aus, dass die Kündigungsfrist noch nicht mit dem
Eingang der Schadenanzeige vom 19.09.1997 zu laufen begonnen hat. Die
Kündigungsfrist beginnt grundsätzlich, sobald der Versicherer den vollen objektiven
Sachverhalt positiv kennt (vgl. Prölss in Prölss/Martin, a.a.O., § 6 Rn 107). Der
Versicherungsnehmer muss die Kenntnis beweisen. Wenn der Versicherer aus der
Schadenmeldung nicht die Obliegenheitsverletzung ersehen kann, fängt die Frist noch
nicht an zu laufen. Kennenmüssen reicht nicht aus, auch wenn es auf einem sich
aufdrängenden Verdacht beruht. Es kann dem Versicherer nicht angesonnen werden,
von vornherein dem Versicherungsnehmer mit Misstrauen zu begegnen und an der
Richtigkeit der Angaben zu zweifeln (vgl. Stiefel/Hofmann, Kraftfahrtversicherung, 16.
Aufl., § 2 , Rn 61). Bei der Trunkenheitsklausel beginnt die Frist danach in der Regel nur
dann mit Eingang der Schadenanzeige, wenn darin Alkoholgenuss und gleichzeitig
Führerscheinbeschlagnahme angegeben sind ( vgl. Stiefel/Hofmann, a.a.O., § 2, Rn 269
f).
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Die Frist beginnt aber auch zu dem Zeitpunkt zu laufen, in dem der Versicherer auf eine
gebotene Rückfrage, für die dem Versicherer angemessen Zeit zu lassen ist, sei es
beim Versicherungsnehmer, sei es bei der Ermittlungsbehörde, Klarheit erlangt hätte
(vgl. zu § 20 VVG BGH, r+s 1989, 412 = NJW 1990, 47; VersR 1991, 170; Prölss in
Prölss/Martin, a.a.O., § 20 Rn 3, § 6 Rn 107). Es kann dem Versicherer nicht freistehen,
wann er eine von ihm zur Vervollständigung seiner Kenntnisse als geboten angesehene
Rückfrage hält, soweit die ihm bereits bekannten Tatsachen ihm nahelegen, dass eine
Kündigung ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Auch der Versicherungsnehmer, der
schuldhaft eine Obliegenheitsverletzung begangen hat, hat einen Anspruch darauf, in
angemessener Zeit zu erfahren, ob seine bisherige Versicherung fortbesteht. Kommt auf
Grund dem Versicherer bekannter Tatsachen ein Obliegenheitsverstoß ernsthaft in
Betracht, so kann der Versicherer durch bewusstes oder unbewusstes Zurückstellen der
gebotenen Rückfrage den Lauf der Frist nicht beeinflussen. So liegt der Fall hier.
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Der Kläger schildert den Unfall in der Schadenanzeige vom 19.09.1997 als Fahrfehler.
Er erklärt, er sei in einer Linkskurve zu hart an den rechten Fahrbahnrand gekommen
und habe dabei " zwei ?" geparkte Pkws an der linken Seite beschädigt. Sodann bittet
er die Beklagte, sie möge bei der Polizeiwache den Polizeibericht anfordern. Er habe
nach dem Unfall unter Schock gestanden. Die Frage nach Alkoholgenuss in den letzten
12 Stunden beantwortet der Kläger nicht. Wohl gibt er durch Ankreuzen der
entsprechende Rubrik in der Schadenanzeige die Führerscheinbeschlagnahme und die
Tatsache der Blutalkoholuntersuchung an.
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In einem solchen Fall liegen auf Grund der Angaben in der Schadenanzeige
ausreichende Tatsachen vor, die eine Rückfrage des Versicherers geboten erscheinen
lassen. Sie drängen sich angesichts des geschilderten Hergangs des
Schadenereignisses und der weiteren Umstände geradezu auf, um Klarheit zum
Alkoholgenuss und zur Fahruntauglichkeit zu schaffen. Welcher genaue Zeitraum für
eine Nachfrage des Versicherers als angemessen anzusehen ist, brauchte der Senat im
vorliegenden Fall nicht zu entscheiden. Selbst bei Zubilligung einer Frist von drei
Monaten, wäre die Kündigung verspätet. Jedenfalls ist ein Zeitraum zwischen
Schadenanzeige vom 19.09.1997, der Beklagten zugegangen am 22.09.1997, und der
Kündigung mit Schreiben vom 05.06.1998 auch unter Berücksichtigung des
Massengeschäftes in dem hier maßgebenden Versicherungszweig bei weitem zu lang.
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Das Bemühen um Akteneinsicht am 26.02.1998 und die Aktenanforderung vom
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05.03.1998 ändern daran nichts. Auf den Eingang der Ermittlungsakten im Mai 1998 ist
wie ausgeführt nicht abzustellen. Dass die Beklagte dem Kläger noch mit Schreiben
vom 28.12.1997 eine Beitragsrechnung für das Versicherungsjahr 1998 übersandt hat,
ist nicht entscheidend.
Im Ergebnis ist demnach die Kündigung vom 05.06.1998 verspätet und unwirksam.
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2. Die auf die §§ 3 Nr. 9 Satz 2 PflVG, 2 b Nr. 2 AKB, 5 Abs. 1 Nr.1, Abs. 3 Satz 1
KfzPflVV, 426 Abs. 2 BGB gestützte Widerklage auf Leistung von Regress ist nach den
obigen Ausführungen unbegründet.
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3. Die prozessualen Nebenentscheidungen über die Kosten und die vorläufige
Vollstreckbarkeit beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO. Der Wert der
Beschwer ist nach § 546
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Abs. 2 ZPO festzusetzen.
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Streitwert für das Berufungsverfahren
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und Wert der Beschwer der Beklagten: 11.000,--DM
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