Urteil des OLG Köln vom 03.12.1996
OLG Köln (stpo, hauptverhandlung, freiheitsstrafe, verteidiger, aufhebung, schuldspruch, beschränkung, schwere, sache, bewährung)
Oberlandesgericht Köln, Ss 595/96 - 198 -
Datum:
03.12.1996
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
1. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
Ss 595/96 - 198 -
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird mit den getroffenen Feststellungen
aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des
Landgerichts Köln zurückverwiesen.
G r ü n d e
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Mit Urteil des Amtsgerichts Köln vom 28. Februar 1996 ist der Angeklagte wegen
Unterschlagung zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt worden.
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Der damalige Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt W., hat nach der Verhandlung
vor dem Amtsgericht mit Schriftsatz vom 29. März 1996 sein Mandat niedergelegt.
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In dem auf die Berufung des Angeklagten hin anberaumten Hauptverhandlungstermin
vor dem Landgericht Köln hat der zu diesem Zeitpunkt nicht anwaltlich vertretene
Angeklagte, die Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Das Landgericht
hat sodann mit Urteil vom 1. Juli 1996 die Berufung des Angeklagten verworfen.
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Dagegen richtet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen
und materiellen Rechts rügt.
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Das Rechtsmittel hat (vorläufigen) Erfolg.
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Es führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an die
Vorinstanz. Dabei muß das Verfahren - wie darzulegen sein wird - vom
Berufungsgericht trotz der in der Hauptverhandlung erklärten Rechtsmittelbeschränkung
in vollem Umfang, also auch zum Schuldspruch, neu verhandelt und entschieden
werden.
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Die Aufhebung des Urteils erfolgt bereits aufgrund der ordnungsgemäß erhobenen
Rüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO in Verbindung mit § 140 Abs. 2 StPO.
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Der Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO setzt voraus, daß die Hauptverhandlung in
Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz
vorschreibt, stattgefunden hat. Vorliegend hat die Berufungsverhandlung ohne
Verteidiger stattgefunden, obwohl die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwere
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der Tat geboten war (§ 140 Abs. 2 Satz 1 StPO).
Ob eine Tat im Sinne dieser Vorschrift als schwer zu beurteilen ist, richtet sich im
wesentlichen nach der zu erwartenden Rechtsfolge (vgl. BGHSt 6, 199; BayObLG VRS
89, 211; SenE vom 24. September 1996 - Ss 468/96 -; KK-Laufhütte, StPO, 3. Aufl., §
140 Rdnr. 21 m.w.N.). Dabei geht die Tendenz in der Rechtsprechung dahin, dies bei
einer Straferwartung ab einem Jahr Freiheitsstrafe oder Jugendstrafe zumindest dann
anzunehmen, wenn die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wird (BayObLG, a.a.O.
OLG Düsseldorf, VRS 88, 42; SenE a.a.O.; KK-Laufhütte a.a.O. m.w.N.).
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Vorliegend ist der Angeklagte durch das angefochtene Urteil zwar nur zu einer
Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden. Es kommt aber hinzu, daß er
aufgrund dieses Urteils mit dem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung
hinsichtlich einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat sowie hinsichtlich
von Reststrafen aus Verurteilungen zu zehn Monaten Freiheitsstrafe und zwei Jahren
Jugendstrafe rechnen muß. Derartig schwerwiegende Nachteile durch Widerruf
ausgesetzter (Rest) Strafen sind bei der Beurteilung der Schwere der Tat zu
berücksichtigen und gebieten die Beiordnung eines Pflichtverteidigers (vgl. BayObLG
a.a.O.; Senat StV 1993, 402; KK Laufhütte a.a.O. m.w.N.).
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Die Strafkammer hätte daher die Berufungshauptverhandlung nicht ohne Verteidiger
durchführen dürfen. Dies hat das Landgericht nicht berücksichtigt. Die Durchführung der
Hauptverhandlung ohne Mitwirkung eines Verteidigers im Falle der notwendigen
Verteidigung stellt einen absoluten Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO dar, der zur
Aufhebung des angefochtenen Urteils führt.
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Nach Aufhebung des Urteils wegen des dargelegten Verfahrensverstoßes muß die
Sache vom Berufungsgericht in vollem Umfang, also auch zum Schuldspruch, neu
verhandelt und entschieden werden.
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Der Angeklagte hat zwar in der Hauptverhandlung die Berufung auf das Strafmaß
beschränkt. Da die gebotene Pflichtverteidigerstellung unterblieben ist, kann jedoch
unter den gegebenen Umständen der erklärten Rechtsmittelbeschränkung Wirksamkeit
nicht beigemessen werden (vgl. OLG Hamm, NJW 1973, 381). Die nachträgliche
Beschränkung der Berufung - wie sie vorliegend vom Angeklagten erklärt wurde -
enthält eine Teilrücknahme des Rechtsmittels (vgl. Löwe-Rosenberg-Gollwitzer, StPO,
24. Aufl., § 318 Rdnr. 10; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 42. Aufl., § 302 Rdnr. 2). Die
Beschränkung ist an die Voraussetzungen des § 302 StPO (Zurücknahme und Verzicht)
und § 303 StPO (Zustimmung des Gegners) gebunden. Bei der Prüfung, ob eine
wirksame Beschränkung vorliegt, sind wegen der Unwiderruflichkeit der Erklärung
dieselben strengen Anforderungen zu stellen wie beim Rechtsmittelverzicht (Löwe-
Rosenberg-Gollwitzer, a.a.O. Rdnr. 14).
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Für den Rechtsmittelverzicht ist in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, daß die
Rechtsmittelverzichtserklärung eines Angeklagten, der in der Hauptverhandlung den
Beistand eines Verteidigers entbehren mußte, obwohl ein Fall der notwendigen
Verteidigung vorlag, unwirksam ist (OLG Düsseldorf VRS 84, 297 und VRS 88, 42 =
NstZ 1995, 147 m.w.N.; OLG Frankfurt NStZ 1993, 507; Kleinknecht/Meyer-Goßner,
a.a.O., § 302 Rdnr. 25 m.w.N.; vgl. auch den ähnlich gelagerten Fall BGH St 19, 101).
Die Begründung für die Annahme der Unwirksamkeit - daß nämlich dem Angeklagten
wegen des fehlenden Beistandes eines Pflichtverteidigers die Möglichkeit genommen
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wird, Tragweite und Bedeutung einer solchen Prozeßhandlung (des Verzichts) zu
erörtern, gilt in gleicher Weise auch für die Prozeßhandlung der
Rechtsmittelbeschränkung, die, wie dargelegt, eine Teilrücknahme im Sinne des § 302
StPO darstellt. So konnte sich im vorliegenden Fall der Angeklagte - der den Tatvorwurf
zunächst bestritten hatte (ausweislich der Urteilsgründe hat das Landgericht in der
Berufungsbeschränkung de facto ein Einräumen des Fehlverhaltens gesehen) - nicht
mit einem Verteidiger über die Tragweite der von ihm abgegebenen
Beschränkungserklärung beraten, die gerade auch im Hinblick auf die drohenden
Bewährungswiderrufe von erheblicher Bedeutung war. Die fehlende
Pflichtverteidigerbestellung hat damit auch Auswirkungen auf diese in der
Hauptverhandlung abgegebene Erklärung; der erfolgreich gerügte Verfahrensmangel
erfaßt die von Amts wegen (KK-Ruß, StPO, 3. Aufl., § 318 Rdnr. 11 m.w.N.) auf ihre
Wirksamkeit zu überprüfende Rechtsmittelbeschränkung durch den Angeklagten und
führt dazu, daß ihr eine Rechtswirkung nicht zukommt (vgl. OLG Hamm, NJW 1973, 381
(382); anders für die Rechtsmittelbeschränkung außerhalb der Hauptverhandlung OLG
Hamm, JZ 1957, 759 m. zust. Anm. Eb. Schmidt).
Das Berufungsgericht wird daher auch zum Schuldspruch neu zu entscheiden haben.
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Für die neue Hauptverhandlung wird auf folgendes hingewiesen:
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Will der Tatrichter Vorbelastungen zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigen, sind
neben den Angaben über die Zeitpunkte der Verurteilungen sowie über die Art und
Höhe der Strafen (vgl. Senat VRS 74, 210, 212) in der Regel die den einzelnen
Vorverurteilungen zugrundeliegenden Sachverhalte zwar knapp, aber doch so deutlich
mitzuteilen, daß nachprüfbar ist, ob die Vorstrafen im Hinblick auf ihre Bedeutung und
Schwere für die Strafzumessung richtig bewertet worden sind (vgl. SenE vom 24.
September 1996 - Ss 483/96 -; ständige Senatsrechtsprechung).
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