Urteil des OLG Köln vom 07.07.1995

OLG Köln (kläger, in dubio pro reo, schmerzensgeld, höhe, tätigkeit, anus praeter, stationäre behandlung, verdienstausfall, unfall, gutachten)

Oberlandesgericht Köln, 19 U 252/94
Datum:
07.07.1995
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
19. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
19 U 252/94
Normen:
STVO §§ 3, 8;
Leitsätze:
Keine Mithaft des Vorfahrtsberechtigten, der die zulässige
Geschwindigkeit eingehalten hat
1. Der Anscheinsbeweis gegen den Wartepflichtigen bei einem
Zusammenstoß mit einem Bevorrechtigten im Kreuzungsbereich kann
durch den Nachweis eines atypischen Verlaufs erschüttert werden. Die
bloße Möglichkeit eines atypischen Verlaufs reicht dafür nicht aus. 2. Zu
den Pflichten eines Wartepflichtigen nach § 8 StVO kann es auch
gehören, beim Einfahren in die bevorrechtigte Straße so zu
beschleunigen, daß er nicht länger als nötig ein Hindernis für den
bevorrechtigten Verkehr bildet. 3. Aus der Festlegung einer zulässigen
Höchstgeschwindigkeit folgt nicht, daß diese Geschwindigkeit stets als
angemessen anzusehen ist, sondern es ist die auch bei günstigsten
Bedingungen zulässige Maximalgeschwindigkeit. Ein Autofahrer kann
jedoch in der Regel darauf vertrauen, daß die zulässige
Höchstgeschwindigkeit für eine bestimmte Strecke so festgesetzt
worden ist, daß die Straße bei den vorausgesetzten günstigen
Bedingungen unter Einhaltung dieser Höchstgeschwindigkeit gefahrlos
befahren werden kann. 4. Ein Vorfahrtsberechtigter ist ohne besondere
Anhaltspunkte dafür, daß sein Vorrecht mißachtet werden könnte, nicht
verpflichtet, seine Geschwindigkeit zu reduzieren, wenn ein
Wartepflichtiger sich einer Kreuzung oder Einmündung nähert oder dort
hält. Er darf darauf vertrauen, daß sein Vorrecht beachtet wird.
Rechtskraft:
rechtskräftig
T a t b e s t a n d Der Kläger macht gegen die Beklagte als Haftpflichtversicherer
Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 24.4.1988 in
K.-B. ereignet hat. Der Kläger befuhr an diesem Tag gegen 12.30 Uhr mit seinem Krad
die bevorrechtigte L ... aus Richtung K.-E. kommend in Richtung K.. Der inzwischen
verstorbene Versicherungsnehmer der Beklagten, B. K., befuhr mit seinem Pkw
Mercedes die I.straße und wollte nach links auf die L ... einbiegen. An der Einmündung
I.straße/ L ... befindet sich das Verkehrszeichen 206 zu § 41 StVO (Halt! Vorfahrt
gewähren ! ). In Höhe der Einmündung kam es zum Zusammenstoß zwischen dem
einbiegenden Pkw und dem von links auf der L ... kommenden Krad. Das Krad prallte
gegen den linken Kotflügel des Pkw. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der L ...
beträgt an dieser Stelle 70 km/h. Die I.straße steigt im Einmündungsbereich in Richtung
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beträgt an dieser Stelle 70 km/h. Die I.straße steigt im Einmündungsbereich in Richtung
auf die L ... leicht an. Die Sichtweite von der Einmündung der I.straße nach links beträgt
mindestens 70, höchstens 94 m. Der Fahrer des Pkw Mercedes hielt sein Fahrzeug
zunächst an der Einmündung an. Als er sodann auf die L ... einfuhr, kam es dort auf der
Richtungsfahrbahn des Klägers zum Zusammenstoß. Das Krad wurde zerstört. Der
Kläger wurde schwer verletzt. Er wurde in die Chirurgische Klinik und Poliklinik der
Universität D. eingeliefert. Dort wurden folgende Unfallverletzungen festgestellt:
Polytrauma, Schädel- Hirn- Trauma I. Grades, Rippenserienfraktur links, Milzruptur,
Mesenterialeinriß, Beckenfraktur mit Sprengung der rechten Ileosakralfuge und
Symphysensprengung, distale Radiusfraktur rechts, Tibiakopffraktur rechts.
Unfallunabhängig bestand beim Kläger ein Morbus Crohn und ein
Wirbelsäulenverschleiß. Mit Rücksicht auf diese Vorerkrankungen bestand seit 1981 ein
Grad der Behinderung von 50%. Dieser wurde nach dem Unfall durch Bescheid vom
5.9.1988 auf 80 % heraufgesetzt. Der Kläger befand sich zunächst vom 24.4. bis
20.7.1988 in stationärer Behandlung. Nachdem es zu massiven abdominellen
Blutungen gekommen war, mußte vorübergehend ein Anus Praeter angelegt werden.
Darm-und Leberriß wurden genäht. Die Milz wurde entfernt. Die Beckenfraktur wurde
durch einen Fixateur externe versorgt, später mit Metall stabilisiert. Wegen der
Tibiakopffraktur erfolgte eine Operation. Die Fraktur des rechten Handgelenkes erfolgte
konservativ durch Ruhigstellung in Gips. Nach der Entlassung aus der stationären
Behandlung fand vom 9.8. bis 6.9.1988 eine Rehabilitationsmaßnahme in Aachen statt.
Vom 21.9. bis 27.9.1988 mußte der Kläger sich wegen einer beim Unfall erlittenen
Hodenprellung erneut in stationäre Behandlung begeben. Im Januar und April 1989
erfolgte die Metallentfernung an Becken und Knie. Weitere Metallteile wurden im Januar
1992 aus dem Becken entfernt. Vom 22.8. bis 19.9.1991 befand der Kläger sich in einer
Kur. Im März 1994 wurde dem Kläger ein Schmerzsimulator implantiert. Der Kläger
wurde im Mai 1991 und im April 1993 im Auftrag der Beklagten durch Sachverständige
untersucht. Wegen des Ergebnisses wird auf die Gutachten des Prof. Dr. med. R. vom
8.5.1991 (Bl. 195 -205 d. A. ) und Prof. Dr. med. G. vom 20.4.1993 ( Bl. 162 - 180 d. A. )
verwiesen. Der Kläger war zur Zeit des Unfalles als Baggerführer im Betrieb seines
Vaters, einer Tief-und Gartenbaufirma, tätig. Er nahm seine Tätigkeit zunächst im Jahre
1989 wieder auf, reduzierte ab 1.12.1990 seine Arbeitszeit auf 5 Stunden täglich und
gab die Tätigkeit schließlich zum 31.5.1992 ganz auf. Nach Umschulung war er ab
15.6.1992 als Lagerverwalter bei einer Fa. K. tätig. Diese Arbeitsstelle kündigte er zum
31.3.1993 und war danach arbeitslos gemeldet. Aushilfsweise wurde er als Meßgehilfe
beschäftigt. Seit März 1994 ist er wieder im Betrieb seines Vaters beschäftigt, jedoch mit
beschränkter Arbeitszeit und eingeschränktem Aufgabenbereich. Ob ein
Zusammenhang zwischen dem Unfall und den beruflichen Veränderungen des Klägers
besteht, ist streitig. Die Beklagte erkennt eine Haftung dem Grunde nach zu 50% an .
Sie hat vorprozessual Zahlungen geleistet, wobei im wesentlichen eine Quote von 75%
zugrunde gelegt wurde. Ferner hat sie vorprozessual 30.000,-- DM Schmerzensgeld
gezahlt. Der Kläger verlangt mit der Klage restlichen Sachschaden, Verdienstausfall,
Ersatz vermehrter Bedürfnisse und ein weiteres Schmerzensgeld. Der Kläger hat
behauptet, der Unfall sei für ihn unabwendbar gewesen. Er sei nicht schneller als mit
der zulässigen Geschwindigkeit von 70 km/h gefahren. Der Pkw-Fahrer sei zu einem
Zeitpunkt losgefahren, als er- der Kläger- schon im Sichtbereich gewesen sei. Als er
bemerkt habe, daß der Pkw losgefahren sei, habe er nicht mehr bremsen könne. Er hat
sich insoweit auf ein vom ihm eingeholtes Gutachten des Dipl.Ing. Z. (Bl. 107 ff. d.A.)
gestützt. Der Kläger hat einen weiteren Sachschaden in Höhe von 8.442,45 DM geltend
gemacht. Wegen der Berechnung im einzelnen wird auf Seiten 6 bis 10 des
erstinstanzlichen Urteils verwiesen. Ferner hat der Kläger Verdienstausfall für den
Zeitraum 1988 bis Ende 1993 in Höhe von 41.917,62 DM verlangt. Zum Verdienstausfall
hat der Kläger behauptet, daß er wegen der Unfallverletzungen und hieraus
resultierender fortbestehender Beschwerden seinen Beruf als Baggerführer habe
aufgegeben müssen. Die Erschütterungen bei der Arbeit mit dem Bagger hätten ihm
Schmerzen bereitet, und auch das mit der Tätigkeit häufig verbundene Heben von
schweren Lasten und andere schwere körperliche Arbeiten seien ihm nicht mehr
möglich gewesen. Auch die Arbeitsstelle als Lagerverwalter sei mit schwerem Heben
und anderer schwerer körperlicher Tätigkeit verbunden gewesen, so daß er diese Stelle
haben aufgeben müssen. Danach habe er sich als Meßgehilfe bis 530,--DM pro Monat
zum Arbeitslosengeld hinzu verdient. Die Differenz zu dem als Baggerführer im Betrieb
des Vaters bezogenen Einkommen hat der Kläger auf der Grundlage der
Einkommensentwicklung seines früheren Kollegen Dicke errechnet und hat hierzu
behauptet, sein Nettoeinkommen habe 90% des Nettoeinkommens des Kollegen
betragen. Ferner hat der Kläger erhöhte Bedürfnisse in Form von Fahrtkosten zur
Arbeitsstelle während seiner Tätigkeit als Lagerverwalter geltend gemacht in Höhe von
175,55 DM monatlich ab Januar 1993. Als Schmerzensgeld hat der Kläger einen Betrag
von mindestens 80.000,-- DM als angemessen erachtet und verlangt. Er hat behauptet,
infolge der Skelettbrüche an Becken, Knie und Handgelenk sei es zu arthrotischen
Veränderungen gekommen. Ferner sei ein Beckenschiefstand von 1,5 cm entstanden.
Er leide an ständigen starken Schmerzen im Beckenbereich und im rechten Bein. Er
könne nicht längere Zeit sitzen, aber auch nicht laufen. Auch die Beweglichkeit des
rechten Handgelenkes sei schmerzhaft eingeschränkt. Mit Verschlimmerungen sei
wegen Fortschreiten der Arthrose in Zukunft zu rechnen. Als Folge der Hodenprellung
seien ziehende Schmerzen verblieben. Er leide seit dem Unfall häufig (etwa 2 X pro
Woche) an Kopfschmerzen und Hirnleistungsstörungen in Form von
Konzentrationsschwäche, leichter Ermüdbarkeit und Gedächtnisstörungen. Mit weiteren
Spätfolgen müsse nach den ärztlichen Gutachten gerechnet werden. Der Kläger hat
beantragt, I. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1. 50.539,99 DM nebst 10 %
Zinsen seit Klagezustellung (29.11.1993), 2. ein Schmerzensgeld, dessen Höhe in das
Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens aber 50.000,-- DM über den bereits
gezahlten Betrag hinaus, 3. monatlich spätestens bis zum 30. eines jeden Monats,
erstmals ab dem 30.01.1993 einen Betrag von 179,55 DM (richtig wohl 179,35 DM) pro
Monat zu zahlen; II. festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger jeden
weiteren materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfallereignis vom
24.04.1988 in K.-B., Einmündungsbereich L .../I.straße/B. Weg zu ersetzen. Die Beklagte
hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die Beklagte hat behauptet, der Kläger sei mit
überhöhter Geschwindigkeit von 87 km/h gefahren. Der Pkw-Fahrerhabe den Kläger
noch nicht erkennen können, als er den Entschluß gefaßt habe, loszufahren. Der Kläger
habe sich zu diesem Zeitpunkt noch in 96 m Entfernung und damit außerhalb des
Sichtbereiches befunden. Die Beklagte hat sich insoweit auf ein im Strafverfahren
gegen ihren Versicherungsnehmer eingeholtes Gutachten des Sachverständigen D.
gestützt. Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, daß der Kläger sich ein Mitverschulden
von mindestens 50% zurechnen lassen müsse. Die Beklagte hat bestritten, daß
weiterhin unfallbedingte Beschwerden des Klägers bestünden und dieser seine
Tätigkeit als Baggerführer wegen der Unfallfolgen habe aufgeben müssen. Sie hat
behauptet, daß der Kläger wegen der Vorerkrankungen diese Tätigkeit ohnehin nicht
auf Dauer hätte ausüben können. Wegen der weiteren Einzelheiten des
erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen
Urteils sowie auf die Akten der StA Köln 410 Js 752/90 und das zu Beweiszwecken
verwertete Gutachten des Sachverständigen D. vom 21.8.1989 Bezug genommen. Das
Landgericht hat durch das angefochtene Urteil eine Haftungsquote von ¼ : ¾ zu Lasten
der Beklagten angenommen und ist hierbei von einer Vorfahrtsverletzung durch den
Pkw-Fahrer ausgegangen. Dem Kläger sei zwar eine Überschreitung von 70 km/h nicht
nachzuweisen, jedoch seien auch 70 km/h zu schnell gewesen, so daß der Kläger mit
hafte. Von dem Sachschaden hat das Landgericht weitere 381,58 DM zugesprochen,
beim Verdienstausfall 18.o65,69 DM , errechnet auf der Grundlage von 80 % des
Nettolohnes des Kollegen D.. Ferner hat das Landgericht dem Kläger 403,53 DM
Fahrtkosten für Januar bis März 1993 sowie ein weiteres Schmerzensgeld von 50.000,--
DM zugesprochen und hat die Ersatzpflicht der Beklagten zu 75% für zukünftige
materielle und immaterielle Schäden, die nach dem 24.6.1994 entstehen, festgestellt.
Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil verwiesen. Gegen diese Urteil haben beide
Parteien form- und fristgerecht Berufung eingelegt und fristgerecht begründet. Der
Kläger verfolgt seinen Anspruch auf Ersatz von 100% des Schadens weiter, verlangt
ferner ein höheres Schmerzensgeld und weiteren Verdienstausfall. Die Beklagte wendet
sich mit ihrer Berufung gegen ein 30.000,-- DM überschreitendes Schmerzensgeld und
die Feststellung der Ersatzpflicht der immateriellen Schäden für die Zeit nach dem
24.6.1994. Im Wege der unselbständigen Anschlußberufung wendet sie sich gegen eine
höhere Haftungsquote als 50%. Der Kläger wiederholt und vertieft sein bisheriges
Vorbringen zum Haftungsgrund. Er berechnet seinen weiteren Sachschaden nunmehr
auf 5. 296,63 DM. Wegen der Berechnung im einzelnen wird auf V. der
Berufungsbegründung verwiesen. Ferner hält der Kläger jetzt ein Schmerzensgeld in
Höhe von mindestens 120.000,-- DM für angemessen. Auch hierzu wiederholt er sein
bisheriges Vorbringen. Verdienstausfall macht er nur noch ab 1.1.1991 geltend und
errechnet seinen Nettoverlust für den Zeitraum bis Dezember 1994 auf 91.743,04 DM.
Wegen der Einzelheiten wird auf Seiten 23 bis 27 der Berufungsbegründung verwiesen.
Eine wesentliche Erhöhung des Ausfalles ergibt sich daraus, daß der Kläger nunmehr
auch entgangene Tantieme verlangt. Er behauptet, aufgrund einer Vereinbarung aus
dem Jahre 1986 zwischen ihm und der Fa. N. hätten ihm jährliche, gewinnabhängige
Tantieme zugestanden. Eine gleichlautende Vereinbarung habe zwischen der Fa. N.
und seinem Kollegen D. bestanden. Der Kläger behauptet, seine jetzige Tätigkeit in der
Firma seines Vaters sei von der Arbeitszeit und vom Aufgabengebiet her eingeschränkt.
Er müsse nur leichtere Arbeiten, ohne größeren körperlichen Einsatz, wie Verwaltungs-
und Überwachungsaufgaben wahrnehmen und werde entsprechend geringer bezahlt.
Der Kläger beantragt, unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils die
Beklagte zu verurteilen, 1. an ihn a) DM 97.566,22 nebst 4 % Zinsen seit
Rechtshängigkeit und b) DM 90.000,00 ( weiteres Schmerzensgeld) nebst 4% Zinsen
seit dem 29.11.1993 zu zahlen, 2. festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet ist, ihm
allen weiteren materiellen und immateriellen Schaden aus dem Unfallereignis vom
24.4.1988 in K.- B., Einmündungsbereich L .../ I.straße zu ersetzen, soweit die
Ansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind, 3. dem Kläger nachzulassen, seine
Sicherheitsleistung durch Bürgschaft einer deutschen Großbank oder öffentlichen
Sparkasse zu erbringen. Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers
zurückzuweisen und unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage
abzuweisen, soweit ein weiteres Schmerzensgeld von noch 50.000.-- DM zugesprochen
worden ist, sowie insoweit, als auch für die Zukunft die Feststellung einer Ersatzpflicht
für immaterielle Schäden für die Zeit nach dem 24.6.1994 ausgesprochen worden ist,
ferner insoweit, als ein Schadensbetrag von mehr als 12.043,80 DM zugesprochen
worden ist (Tenor zur Nr. 1), sowie insoweit, als ein weiterer Betrag von 403,53 DM
zugesprochen worden ist, schließlich insoweit, als die Feststellung ausgesprochen ist,
daß materielle Zukunftsschäden zu mehr als 50 % zu ersetzen sein sollen. Der Kläger
beantragt, die Berufung und Anschlußberufung der Beklagten zurückzuweisen. Auch
die Beklagte wiederholt ihr bisheriges Vorbringen Sie hält das vom Landgericht
zugesprochene Schmerzensgeld für überhöht und meint durch den
Feststellungsausspruch des Landgerichts über die Ersatzpflicht für immaterielle
Schäden, die nach dem 24.6.1994 entstehen, erfasse das zugesprochene
Schmerzensgeld nur die Vergangenheit. Ein Schmerzensgeld solle aber alle
wahrscheinlichen und denkbaren zukünftigen immateriellen Schäden abgelten.
Wegen der Einzelheiten des Berufungsvorbringens wird auf die Schriftsätze der
Parteien nebst den überreichten Unterlagen sowie auf die Akten 410 Js 693/88 StA Köln
und 26 C 140/90 AG Bergisch Gladbach Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e Die beiderseitigen Rechtsmittel sind zulässig. Soweit
einzelne Schadensposten schon zur Entscheidung reif sind, konnte nach § 301 ZPO ein
Teilurteil ergehen. Das betrifft den restlichen Sachschaden, die vermehrten Bedürfnisse,
das Schmerzensgeld und das Festellungsbegehren. Zum Verdienstausfall bedarf es
dagegen noch weiterer Aufklärung. Insoweit wird auf den gleichzeitig ergangangenen
Beschluß Bezug genommen. Soweit bereits entschieden werden kann, hat die Berufung
des Klägers überwiegend Erfolg. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach besteht
zu 100%. Dem Kläger war ein weiterer Sachschaden in Höhe von 3.127,75 DM,
zuzusprechen, während seine Berufung in Höhe von 2.168,88 DM wegen des
Sachschadens keinen Erfolg hat. Das Schmerzensgeld war auf 100.000,-- DM zu
erhöhen, wegen weiterer 20.000,-- DM blieb die Berufung insoweit ohne Erfolg. Wegen
des Anspruchs wegen erhöhter Bedürfnisse (Fahrtkosten) hatte die Berufung Erfolg.
Schließlich war der Feststellungsausspruch der Haftungsquote der Beklagten zu 100%
anzupassen. Die Berufung der Beklagten hat- soweit entscheidungsreif- überwiegend
keinen Erfolg. Nur soweit die Beklagte sich gegen die Begrenzung des
Feststellungsausspruchs beim immateriellen Schaden wendet, hat sie Erfolg. I. Zur
Haftung dem Grunde nach Die Beklagte haftet dem Grunde nach nach §§ 7, 17 StVG
und §§ 823, 847 BGB in Verbindung mit § 3 PflVG zu 100% für die Folgen des Unfalles
vom 24.4. 1988. Der Versicherungsnehmer der Beklagten war als Halter des Pkw
Mercedes am Unfall beteiligt und haftete nach § 7 StVG. Die Beklagte nimmt schon nicht
für sich in Anspruch, die Unabwendbarkeit des Unfalles für ihren Versicherungsnehmer
beweisen zu können (§ 7 Abs. 2 StVG). Es kann dahinstehen, ob der Kläger diesen
Nachweis führen könnte, denn jedenfalls tritt seine Haftung für die Betriebsgefahr des
Krades bei der Abwägung nach § 17 StVG zurück. Der Unfall hat sich im
Einmündungsbereich der I.straße auf die L ... ereignet, als der wartepflichtige Pkw-
Fahrer auf die bevorrechtigte Straße nach links einbiegen wollte. Kommt es hierbei zum
Zusammenstoß mit dem auf der bevorrechtigten Straße sich nähernden
Verkehrsteilnehmer, so spricht ein Anscheinsbeweis gegen den Wartepflichtigen ( vgl.
Jagusch- Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 33. Aufl., § 8 StVO Rn. 69 m. w. N. ). Diesen
Anscheinsbeweis kann der Wartepflichtige erschüttern, indem er Tatsachen darlegt und
beweist, aus denen sich die Möglichkeit eines atypischen Verlaufs ergibt. Das kann
etwa der Fall sein, wenn er nachweist, daß er den Berechtigten trotz größtmöglicher
Sorgfalt nicht rechtzeitig erkennen konnte. Dabei reicht die bloße Möglichkeit nicht aus,
sondern der Wartepflichtige muß diese Voraussetzungen beweisen, um den
Anscheinsbeweis zu erschüttern ( Jagusch - Hentschel, a.a.O.; OLG Köln, VersR 1992,
977). Die Beklagte stützt ihre Behauptungen auf das im Strafverfahren erstattete
Gutachten des Sachverständigen D. , mit dessen Verwertung zur Beweiszwecken die
Parteien sich ausdrücklich einverstanden erklärt haben. Mit diesem Gutachten ist der
Beweis, daß der Kläger tatsächlich nicht rechtzeitig erkennbar war und daß er über 7o
km/h gefahren ist, nicht zu führen. Der Sachverständige hat ausgeführt, daß bei einer
Sichtweite nach links von ca. 70 m und einer Geschwindigkeit des Klägers von 87 km/h
der Kläger 4 Sekunden vor dem Zusammenstoß noch außerhalb des Sichtbereichs des
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Autofahrers gewesen sei. Diese Werte können jedoch nicht zugunsten der Beklagten
als bewiesen und angemessen zugrunde gelegt werden. Das betrifft zum einen die vom
Sachverständigen angenommene Zeitdauer von 4 Sekunden zwischen der
Vergewisserung nach links und dem Zusammenstoß. Der Sachverständige hat für die
Anfahrstrecke von 2,5 m von der Haltelinie bis zur Kollisionsstelle 2 bis 2,5 Sekunden
angesetzt. Dabei ist er von einer Anfahrbeschleunigung von 0,8 bis 1,2 m/s²
ausgegangen, während er die normale Anfahrgeschwindigkeit mit 1 bis 1,5 m/s² angibt.
Zu der niedrigeren Anfahrgeschwindigkeit ist der Sachverständige aufgrund der
Beobachtung des Anfahrverhaltens von Verkehrsteilnehmern an dieser Stelle
gekommen. Ein sorgfältiger Kraftfahrer wird aber an einer Stelle, an der die Sicht auf die
bevorrechtigte Straße auf eine bestimmte Strecke begrenzt ist, sein Fahrzeug so
beschleunigen, daß er nicht länger als nötig ein Hindernis für den bevorrechtigten
Verkehr bildet. Das gehört zur Pflicht nach § 8 StVO, den bevorrechtigten Verkehr nicht
mehr als nötig zu behindern und zu gefährden (vgl. auch BGH NVZ 1994, 184, 185). Mit
dieser Pflicht läßt es sich nicht vereinbaren, an dieser Stelle eine unterdurchschnittliche
Anfahrgeschwindigkeit zu wählen. Wenn auch andere Autofahrer sich hier falsch
verhalten haben, ändert das nichts. Ferner hat der Sachverständige angenommen, daß
der Pkw-Fahrer 1 bis 1,5 Sekunden benötigt habe, um sich in beide Richtungen zu
vergewissern und dann den Entschluß zu fassen, loszufahren. Auch hier hat er nach
dem im Strafverfahren geltenden Grundsatz , in dubio pro reo" die jeweils günstigsten
Werte zugunsten des Pkw-Fahrers zugrunde gelegt. Dieser Maßstab gilt im Zivilrecht
nicht. Zudem ist der Senat der Auffassung, daß der Pkw-Fahrer hier wegen der
besonderen Unübersichtlichkeit der Stelle vor dem Losfahren erneut nach links hätte
blicken müssen, ob die ihm am nächsten liegende Fahrbahn noch frei war. Er hätte
dann seinen Entschluß, loszufahren, zurückstellen müssen, wenn sich inzwischen der
Kläger näherte.