Urteil des OLG Köln vom 06.03.2002
OLG Köln: geburt, schmerzensgeld, anschlussberufung, behinderung, behandlungsfehler, objektivität, vollstreckung, sicherheitsleistung, befund, gutachter
Oberlandesgericht Köln, 5 U 178/01
Datum:
06.03.2002
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 U 178/01
Vorinstanz:
Landgericht Aachen, 11 O 441/98
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das am 1. August 2001 verkündete
Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Aachen - 11 O 441/98 -
teilweise abgeändert und, soweit es den Antrag auf Zahlung eines
Schmerzensgeldes betrifft, wie folgt neu gefasst: Die Beklagte wird
verurteilt, an den Kläger 50.000,- EUR nebst 4% Zinsen seit dem 13.
Januar 1999 zu zahlen. Die Anschlussberufung der Beklagten gegen
das vorgenannte Urteil wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat die
Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe
von 70.000,- EUR abwenden, wenn der Kläger nicht vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wurde am 9. Dezember 1994 in dem von der Beklagten betriebenen St. A.-H.
in E. als erstes Kind seiner Mutter mit einem Gewicht von 5.580 g geboren. Seine Mutter
war bei der Geburt 27 Jahre alt, 1.80 m groß und wog ca. 130 kg.
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Am 5. Dezember 1994 wurden nach der Einlieferung der Mutter Ultraschallaufnahmen
gefertigt. Ein Vermerk über eine Gewichtsschätzung findet sich in den
Krankenunterlagen nicht. Während des Geburtsvorgangs trat eine Schulterdystokie ein.
Bei der weiteren Entwicklung des Klägers wurde der rechte Arm verletzt; außerdem
wickelte sich die Nabelschnur um seinen Hals. Nach der Geburt erholte sich der Kläger
unter Sauerstoffgabe schnell. Es wurde eine Plexuslähmung des rechten Armes
festgestellt, die zu einer vollständigen Funktionsuntüchtigkeit des Armes geführt hat.
Ferner leidet der Kläger unter einer Fallhand, die ihm ein Greifen unmöglich macht. Er
hat sich bereits mehreren Operationen unterziehen müssen, weitere stehen bevor.
Darüber hinaus leidet der Kläger unter behandlungsbedürftigen Koordinationsstörungen
und er ist motorisch und psychosozial auffällig.
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Der Kläger hat behauptet, seine Entbindung habe schon mit Rücksicht darauf, dass
zwischen dem Becken seiner Mutter und seinem Kopf ein Missverhältnis bestanden
habe, und wegen seiner Größe und seines Gewichts durch einen Kaiserschnitt erfolgen
müssen. Seine Mutter sei vor der Entbindung nicht mehr sorgfältig untersucht worden;
die erhobenen Ultraschalluntersuchung seien fehlerhaft interpretiert worden. Jedenfalls
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habe seine Mutter - was unstreitig nicht geschehen ist - über eine Schnittentbindung als
Alternative zur vaginalen Geburt aufgeklärt werden müssen. Der Kläger hat ein
Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 90.000,- DM als angemessen angesehen.
Der Kläger hat beantragt,
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1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes
Schmerzensgeld nebst 5,5% Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
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2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm allen künftigen immateriellen
Schaden sowie allen materiellen Schaden zu ersetzen, der ihm entstanden ist und
noch entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger oder
sonstige Dritte übergegangen ist oder übergehen wird.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat Behandlungsfehler in Abrede gestellt, insbesondere habe keine
Primärindikation für eine Kaiserschnittentbindung vorgelegen.
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Das Landgericht hat die Beklagte nach Einholung von Sachverständigengutachten mit
Urteil vom 1. August 2001 zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 50.000,-
DM verurteilt und die begehrte Feststellung ausgesprochen. Dagegen richten sich die
form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, mit der er ein weiteres
Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 40.000,- DM verlangt, sowie die
unselbständige Anschlussberufung der Beklagten mit dem Ziel der vollständigen
Klageabweisung.
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Der Kläger wendet zum einen ein, dass selbst unter Berücksichtigung der vom
Landgericht festgestellten, auf den angenommenen Behandlungsfehler
zurückzuführenden Gesundheitsschäden (Lähmung des rechten Armes, Fallhand) ein
Schmerzensgeld von lediglich 50.000,- DM zu niedrig angesetzt sei. Darüber hinaus
kritisiert der Kläger die Feststellungen des Sachverständigen Prof. v. L.. Es bestünden
Zweifel an seiner Objektivität. Seine Ausführungen seien nicht überzeugend begründet
und von Kollegenschutz geprägt.
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Die Beklagte hält die Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. F. für
unzureichend. Auch wenn vor der Geburt auswertbare Ultraschalluntersuchungen
durchgeführt worden wären, hätte die Makrosomie nicht mit Sicherheit erkannt werden
können, da es erhebliche Schätzungenauigkeiten gebe. Selbst wenn die Makrosomie
erkannt worden wäre, hätte es keine Indikation zur primären sectio gegeben. Zumindest
habe das bei einer sectio höhere Risiko für die Schwangere (hier vor allem wegen der
Adipositas der Mutter des Klägers) abgewogen werden müssen gegenüber dem Risiko
einer Schulterdystokie beim Kind.
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Wegen aller weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf Tatbestand und
Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils sowie auf die Schriftsätze der Parteien
nebst Anlagen Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung des Klägers hat in der Sache vollen Erfolg, während die
Anschlussberufung der Beklagten unbegründet ist.
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Das Landgericht hat der Klage dem Grunde nach zu Recht und mit zutreffenden
Erwägungen, die sich der Senat zu eigen macht und auf die zur Vermeidung von
Wiederholungen Bezug genommen wird (§ 543 Abs. 1 ZPO), stattgegeben. Das
Berufungsvorbringen der Parteien gibt lediglich Anlass zur folgenden ergänzenden
Bemerkungen:
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Den maßgeblichen Behandlungsfehler hat der Sachverständige Prof. F. mit auch den
Senat überzeugenden Erwägungen darin gesehen, dass die Behandler es unterlassen
haben, vor der Geburt das Geburtsgewicht zu schätzen. Zwar seien
Ultraschalluntersuchungen durchgeführt worden, diese seien jedoch als
Schätzgrundlage unzureichend gewesen. Zu der Erhebung dieser Befunde wären die
behandelnden Ärzte indes schon aufgrund der bei der Mutter des Klägers vorliegenden
Risikofaktoren verpflichtet gewesen. Hätten sie kurz vor der Geburt
Ultraschalluntersuchungen, die zur Bestimmung des Geburtsgewichts geeignet
gewesen wären, durchgeführt, hätte sich mit Wahrscheinlichkeit angesichts des
tatsächlichen Geburtsgewichts und einer nach den Feststellungen des
Sachverständigen anzunehmenden Schätzfehlerquote von 20% ein Geburtsgewicht von
wenigstens 4.500 g ergeben. Warum die Makrosomie nach Ansicht der Beklagten
gleichwohl nicht sicher erkannt worden wäre, legt sie nicht hinreichend substantiiert dar.
Auch soweit sie auf ein in anderer Sache erstelltes Gutachten von Prof. Dr. W. Bezug
nimmt, bleibt festzuhalten, dass Prof. Dr. W. dort - insoweit durchaus in
Übereinstimmung mit Prof. Dr. F. - ausgeführt hat, bei dem in diesem Fall gegebenen
Geburtsgewicht von 5.230 g hätte eine Ultraschalluntersuchung vor der Geburt ein
Schätzgewicht von über 4.000 g ergeben (GA 169). Damit liegt eine Verletzung der
Befunderhebungspflicht vor (vgl. BGH, NJW 1999, 3408). Wäre der Befund
ordnungsgemäß erhoben und ein entsprechendes Gewicht des Klägers von etwa 4.500
g festgestellt worden, wären die die Mutter des Klägers behandelnden Ärzte jedenfalls
gehalten gewesen, mit ihr in einem Aufklärungsgespräch die Alternative einer
Schnittentbindung zu erörtern. Dies hat der Sachverständige Prof. Dr. F. klipp und klar
festgestellt; und dies entspricht in vergleichbaren Fallkonstellationen auch feststehender
Rechtsprechung. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muss über die
Möglichkeit einer Kaiserschnittentbindung aufgeklärt werden, wenn im Falle vaginaler
Geburt für das Kind ernsthafte Gefahren drohen (BGHZ 106, 153, 157 f.; BGH, NJW
1993, 2372, 2373; Frahm/Nixdorf, Arzthaftungsrecht, 2. Aufl., Rdn. 177). Solche
Gefahren für das Kind hat der Sachverständige Prof. Dr. F. mit Rücksicht auf das - bei
zutreffender Befunderhebung - zu erwartende Geburtsgewicht des Klägers von deutlich
über 4.000 g mit nachvollziehbaren und überzeugenden Erwägungen angenommen.
Durch das sehr hohe Geburtsgewicht war das Risiko einer Schulterdystokie signifikant
erhöht. Eine Schulterdystokie birgt erhebliche gesundheitliche Gefahren - vor allem die
Gefahr einer auch hier eingetretenen Plexusparese - für das Kind, so dass die
Alternative einer Schnittentbindung mit der Kindsmutter besprochen werden muss.
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Gegen diese Feststellungen führt die Beklagte in ihrer Anschlussberufung nichts
Erhebliches auf. Vor allem kann sie sich insoweit nicht auf die vorgelegten, in anderen
Sachen ergangenen Gutachten stützen, weil die Gutachter sich zur Frage, ob eine
Kaiserschnittentbindung mit der Mutter als Alternative zur vaginalen Entbindung im
Rahmen eines Aufklärungsgespräches erörtert werden muss, überhaupt nicht äußern.
Das vom Landgericht ausgeurteilte Schmerzensgeld von 50.000,- DM ist unter
Berücksichtigung der erwiesenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers
aufgrund der eingetretenen Plexusparese deutlich zu gering. Die Höhe des
Schmerzensgeldes richtet sich bei Armschäden als Folge einer Schulterdystokie in
erster Linie nach dem Grad der Behinderung; die Spannbreite liegt zwischen 20.000,-
DM und 100.000,- DM. Der Kläger hat die schwerste denkbare Behinderung erlitten,
nämlich eine vollständige Lähmung des rechten Armes sowie die Greifunfähigkeit der
Hand; nach derzeitigem Stand der Wissenschaft sind dies dauerhaft verbleibende
Folgen. Allein schon aufgrund dieser starken Behinderung des Klägers und den daraus
folgenden Beeinträchtigungen in der Lebensführung hält der Senat ein Schmerzensgeld
von 50.000,- EUR für gerechtfertigt und angemessen (vgl. auch OLG Hamm, VersR
1997, 1403).
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Eine weitere Sachaufklärung hält der Senat nicht für angezeigt. Soweit der Kläger
geltend macht, auch Koordinationsstörungen und eine motorische und psychosoziale
Auffälligkeit seien Folgen der Komplikationen während der Geburt, nämlich einer
aufgetretenen Asphyxie, hat der Sachverständige Prof. v. L. einen solchen
Zusammenhang überzeugend verneint. Die vom Kläger in den Raum gestellte Kritik am
Sachverständigen Prof. v. L., die über allgemein gehaltene Mutmaßungen über dessen
angeblich mangelnde Objektivität nicht hinausgeht, teilt der Senat nicht. Substantiierte
Einwände gegen die Begutachtung in der Sache erhebt der Kläger nicht, so dass der
Senat keinen begründeten Anlass zu weiteren Beweiserhebungen sieht.
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Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711
ZPO. Dass eine Sicherheitsleistung auch durch eine Bürgschaft erbracht werden kann,
bedarf keines gesonderten Ausspruchs mehr (§ 108 Abs. 1 Satz 2 ZPO n.F.)
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Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO n.F.
liegen nicht vor.
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Berufungsstreitwert und Wert der Beschwer der Beklagten:
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60.000,- EUR (davon 10.000,- EUR für den Feststellungsantrag)
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