Urteil des OLG Köln vom 15.01.2003

OLG Köln: dokumentation, pflegepersonal, behandlungsfehler, klinik, gefahr, zustand, anhörung, patient, erblasser, senkung

Oberlandesgericht Köln, 5 U 53/00
Datum:
15.01.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 U 53/00
Vorinstanz:
Landgericht Aachen, 11 O 362/95
Tenor:
Die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil der 11. Zivilkammer des
Landgerichts Aachen vom 21.02.2000 - 11 O 362/95 - wird
zurückgewiesen.
Die Klägerinnen haben die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
1
Die zulässige Berufung der Klägerinnen bleibt in der Sache ohne Erfolg.
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Das Landgericht hat mit in allen Punkten zutreffender Begründung Ansprüche der
Klägerinnen gegenüber den Beklagten wegen vermeintlicher Behandlungsfehler in
Bezug auf den Erblasser, Herrn F. S., zurecht verneint. Der Senat nimmt zur
Vermeidung von Wiederholungen in vollem Umfang auf die landgerichtlichen
Ausführungen Bezug und macht sich diese zu eigen.
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Die in zweiter Instanz durchgeführte Beweisaufnahme durch Einholung schriftlicher und
mündlicher gutachterlicher Stellungnahmen des Sachverständigen Prof. Dr. F. bietet
keine Veranlassung zu einer abweichenden Entscheidung, sondern bestätigt vielmehr
die Ergebnisse der vor dem Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme.
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Der Sachverständige Prof. Dr. F. hat sowohl in seinen schriftlichen Gutachten vom
23.11.2001 und 07.08.2002 als auch anlässlich seiner mündlichen Anhörung vor dem
Senat vom 02.12.2002 eingehend und mit überzeugender Begründung nachvollziehbar
dargelegt, dass weder in dem Zeitraum bis zur Gabe des Beruhigungsmittels Atosil
gegen 22:00 Uhr am 15.10.1993 noch in der Zeit hiernach den behandelnden
Stationsärzten und auch dem Pflegepersonal der Beklagten kein Vorwurf von
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Behandlungsfehlern zu machen ist. Im einzelnen hat er hierzu aufgeführt, bei dem
Patienten Herrn S. habe es sich um einen älteren Patienten mit "wellenförmiger
Veränderung der Bewusstseinslage" gehandelt. Solche Menschen reagierten in
unterschiedlichen Situationen unterschiedlich, und man suche in Kliniken von der Art
der Klinik der Klägerin - auch entsprechend seiner eigenen klinischen Erfahrung als
Leiter einer Klinik mit 170 Betten, in der er ebenfalls regelmäßig Patienten vom Zustand
des Herrn S. versorge - die Patienten solange wir möglich in der normalen Station zu
halten und entschließe sich nur in Extremfällen zu einer Verlegung solcher Patienten in
eine geschlossene Abteilung. Hierbei müsse sich der behandelnde Arzt wie auch das
Pflegepersonal auf den klinischen Eindruck verlassen. Zwar sei nicht zu verkennen,
dass Herr S. sich in den Tagen nach seiner stationären Aufnahme durchaus auffällig
verhalten habe, dies jedoch in Einklang mit seinem akuten Krankheitsbild, wobei er
immer trotz seiner zum Teil auffälligen Verhaltensweisen in den klinischen Alltag habe
integriert werden können. Die Verlegung in eine geschlossene Abteilung und auch der
Versuch der körperlichen Fixierung solcher Patienten sei nur in Extremsituationen
veranlasst, weil diese Maßnahmen im Prinzip geeignet seien, die Alterationen solcher
Patienten noch zu verstärken; im übrigen seien Maßnahmen mit freiheitsberaubendem
Charakter, wie Fixierung im Bett und dergleichen, ohnehin gerichtlich
zustimmungspflichtig. Da Herr S. kein Extremverhalten an den Tag gelegt habe, dies
weder vor noch nach der Gabe von Atosil, habe man vor dem Hintergrund des
jeweiligen akuten klinischen Eindrucks, so wie er sich aus der Dokumentation darstelle,
bis auf weiteres darauf vertrauen dürfen, ihn trotz seiner Auffälligkeiten in den
Klinikalltag integrieren zu können, dies um so mehr, als er zuvor in keiner Weise
selbstschädigende oder fremdgefährdende Aktionsmechanismen an den Tag gelegt
habe. Der Umstand, dass er in den Gängen der Klinik herumgeirrt und zum Teil auch in
anderen Abteilungen angetroffen worden sei, habe für sich alleine genommen noch
keine Veranlassung gegeben, Herrn S. zu sistieren. Auch die Gabe von Atosil sei in
Dosis und Anwendung nicht zu beanstanden. Nach dieser Gabe von Atosil in der
gewählten Dosierung habe man an sich davon ausgehen können, dass innerhalb einer
halben Stunde ein Wirkungseintritt erfolge, Angstzustände oder Unruhezustände bei
Patienten ließen in solchen Fällen nach diesem Zeitraum zumeist nach. Insgesamt sei
demzufolge sowohl die grundsätzliche Aufnahme des Patienten in einer Normalstation
nicht zu beanstanden, und bis zur Gabe von Atosil seien auch keine nennenswerten
Auffälligkeiten eingetreten, die den Behandlern Veranlassung hätten geben müssen,
besondere Maßnahmen zum Schutze des Patienten zu treffen. Auch nach der Gabe von
Atosil habe sich die Behandlung des Herrn S. im standardgemäßen Rahmen bewegt.
So sei es nicht zu beanstanden, dass das Pflegepersonal die Türe zu seinem Zimmer
offen gelassen habe; ebenso gut hätte man den Patienten auf den Flur legen können.
Dem Umstand, dass Herr S. auf einmal doch wieder im Türrahmen gestanden habe,
habe man durch verbale beruhigende Einflussnahme entsprechen können; die Situation
sei jedenfalls nicht so ungewöhnlich gewesen, als dass man von der normalen
Klinikroutine hätte abweichen müssen. Insbesondere wäre es nach der gegebenen
Situation nicht angemessen gewesen, den Patienten im Bett oder anderweitig zu
fixieren. Auch vor dem Hintergrund der vorausgegangenen Geschehnisse (Einkoten,
Herumirren, Beschmutzen der Personalgarderobe) könne er vorliegend kein Verhalten
des Patienten feststellen, das von der Norm des klinischen Alltags in vergleichbaren
Fällen so stark abgewichen sei, dass man weiterführende Maßnahmen hätte treffen
müssen wie z. B. eine Erhöhung der Medikation oder ein Herbeirufen des
diensthabenden Arztes oder gar die Verlegung in eine geschlossene Abteilung, wobei
letzteres ohnehin eine kaum vertretbare zusätzliche Belastung für den Patienten
darstelle. Auch vorher sei Herr S. bereits herumgeirrt, habe jedoch immer wieder in
seine Abteilung und in sein Zimmer zurückgebracht werden können, so dass sich seine
Verhaltensmechanismen nach der Gabe von Atosil nicht von denen im
vorausgegangenen Zeitraum in einer derart nennenswerten Weise unterschieden
hätten, dass man weitere Vorsorgemaßnahmen hätten treffen müssen. Bei Herrn S. sei
vielmehr dem Personal bekannt gewesen, dies aufgrund seiner Krankheitsgeschichte
und seines vorausgegangenen Verhaltens, dass dieser einem erhöhten Risiko für
vorübergehende oder länger dauernde Verwirrtheitszustände ausgesetzt war; dies sei
aber Teil der klinischen Routine und des klinischen Alltages. Man werde im Rahmen
dieses klinischen Alltages erst und nur dann "hellhörig", wenn sich am Zustand des
Patienten etwas ändere. Bis dahin versuche man, solange wie möglich den Patienten
auf der Normalstation zu halten; nur wenn der Patient sich oder aber andere gefährde
oder für eine dahingehende Gefahr Anhaltspunkte bestünden nach dem klinischen
Eindruck, müsse man weiterführende Maßnahmen treffen. Eine solche
Ausnahmesituation habe im Falle des Herrn S. nicht vorgelegen, dies weder vor noch
nach der Gabe des Beruhigungsmittels Atosil; in diesem Zusammenhang hat der
Sachverständige ausdrücklich und mit weiterer überzeugender Begründung darauf
hingewiesen, dass im Falle des Patienten S. der letztendlich fatale und den Patienten
schädigende Verlauf für die behandelnden Ärzte und das Pflegepersonal nicht
vorhersehbar gewesen sei und damit auch nicht durch weitere Maßnahmen habe
vermieden werden können bzw. müssen. Im Hinblick auf seitens der Klägerinnen
gerügte Lücken der Dokumentation hat der Sachverständige in diesem Zusammenhang
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass im Rahmen der Dokumentation die Fieberkurve
zwar fehle, die Dokumentation im übrigen jedoch keine groben Lücken aufweise, die
geeignet wären, die Dokumentation wertlos erscheinen zu lassen. Insbesondere lasse
die ansonsten sorgfältige Dokumentation nicht den Schluss zu, dass bei Herrn S. etwas
"schief gegangen sei". Er finde auch keine Hinweise auf grobe Brüche oder eine
grobfahrlässige Falschführung der Dokumentation.
Auch die von den Klägerinnen für erforderlich erachtete Gabe von Neuroleptika zur
Senkung des hohen Blutdrucks bei Herrn S. hat der Sachverständige in dessen Fall
nicht zwingend für erforderlich gehalten; er hat in diesem Zusammenhang darauf
hingewiesen, man hätte den hohen Blutdruck zwar durch Neuroleptika senken können;
ein dahingehendes Erfordernis müsse aber nach dem gesamten klinischen Eindruck
beurteilt werden und habe nach der Dokumentation vorliegend gerade nicht bestanden.
Im übrigen seien gerade bei älteren Patienten Neuroleptika durchaus riskant und
geeignet, diese älteren Patienten zu gefährden, z. B. durch die erhöhte Gefahr, unter der
Wirkung solcher Neuroleptika gangunsicher zu werden und evtl. mit fatalen Folgen zu
stürzen.
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Vor dem Hintergrund dieser gesamten, insbesondere anlässlich seiner mündlichen
Anhörung sehr eingehend dargelegten und begründeten Ausführungen des
Sachverständigen erscheint dessen bereits in den schriftlichen Gutachten getroffene
Feststellung, den Ärzten und dem Pflegepersonal seien keine Behandlungsfehler
anzulasten, ohne weiteres nachvollziehbar und überzeugend, dies um so mehr, als der
Sachverständige sich, dies auch entsprechend seinen eigenen ausdrücklichen
Hinweisen in seinem schriftlichen Gutachten vom 23.11.2001, mit dieser Feststellung in
Einklang mit den Ausführungen des erstinstanzlichen Sachverständigen Prof. Dr. S.
befindet. Der Senat schließt sich diesen Feststellungen in vollem Umfang an mit der
Folge, dass den Beklagten keine zu einer Haftung führenden Behandlungsfehler
vorzuwerfen sind.
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Die Berufung der Klägerinnen war deshalb mit der Kostenfolge des § 97 ZPO
zurückzuweisen.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Ziffer 10, 713
ZPO.
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Berufungsstreitwert und Wert der Beschwer der Klägerinnen: 15.436,64 EUR
(=30.191,44 DM).
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Es besteht kein Anlass, die Revision zu zulassen ( § 543 II ZPO).
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