Urteil des OLG Köln vom 17.08.2001
OLG Köln: zulässigkeit der auslieferung, bewährung, auslieferungshaft, aussetzung, landesgrenze, strafvollstreckung, untersuchungshaft, sprengstoff, stadt, kulturgut
Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Schlagworte:
Normen:
Leitsätze:
Tenor:
Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, Ausl 645/01
17.08.2001
Oberlandesgericht Köln
2. Strafsenat
Beschluss
Ausl 645/01
Auslieferung; Bulgarien; Abwesenheitsurteil
IRG § 73
Wenn der völkerrechtlich zu beachtende Mindesstandard der
Verteidigungsrechte eines Verfolgten gewahrt wurde, ist seine
Auslieferung trotz der Verurteilung in Abwesenheit zulässig.
1.
Unter Zurückweisung des Antrags, den Auslieferungshaftbefehl vom 21.
Juni 2001 aufzuheben, wird die Fortdauer der Auslieferungshaft gegen
den bulgarischen Staatsangehörigen J angeordnet.
2.
Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung wird
zurückgestellt.
3.
Die bulgarischen Behörden werden ersucht, möglichst binnen 2 Monaten
a) eine Ausfertigung des Urteils des 3. Strafkollegiums des
Bezirksgerichts Sofia vom 28. Januar 1985 - 7936/84 - zu übersenden;
b) unter Beifügung der hierfür maßgeblichen Vorschriften des
bulgarischen Straf- und Strafverfahrensrechts sowie des Art.86 des
bulgarischen Strafgesetzbuches (Rehabilitierungsfrist) darzulegen,
dass nach bulgarischem Recht weder bezüglich des Urteils des
Bezirksgerichts Pleven vom 3. Dezember 1996 in Verbindung mit dem
Berufungsurteil des Kreisgerichts Pleven vom 13. Januar 1997 -
Strafsache Nr.258/92 -
noch bezüglich des Urteils des 3. Strafkollegiums des Bezirksgerichts
Sofia vom 28. Januar 1985 - 7936/84 in Verbindung mit dem die
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Aussetzung des Strafrestes widerrufenden Beschluss vom 21. März 2001
Vollstreckungsverjährung eingetreten ist und der Widerruf der
Strafaussetzung nach bulgarischem Recht im März 2001 noch zulässig
war.
4.
Die bulgarischen Behörden werden um Mitteilung gebeten, ob das
bulgarische Strafverfahrensrecht ein Rechtsmittel für den in Abwesenheit
verurteilten Angeklagten nach Kenntniserlangung von der Verurteilung
vorsieht .
5.
Die bulgarischen Behörden erhalten vorsorglich Gelegenheit, zu den
Behauptungen des Verfolgten Stellung zu nehmen,
- den bulgarischen Behörden sei im Zeitpunkt des Widerrufs der
Strafaussetzung durch Beschluss vom 21. März 2001 sein Aufenthaltsort
und seine Anschrift in Deutschland aufgrund des bei der Stadt Pleven
beantragten, durch die Stadt am 29. März 1995 ausgestellten und an
seine damalige Wohnanschrift in I (Bundesrepublik Deutschland)
übersandten Ehefähigkeitszeugnisses bekannt gewesen, so dass er zur
Frage des Widerrufs hätte angehört werden können,
- die mitgeteilten Zeiten der Verbüßung von Straf- und Untersuchungshaft
seien unzutreffend, er habe "wegen des Sprengstoffvorwurfs nie eine
Untersuchungshaft verbüßt" und sei in der Zeit vom 7. April 1983 bis zum
30. Juni 1991 durchgängig bei dem Rüstungsbetrieb "U AG" angestellt
gewesen, er habe während dieser Zeit keine Strafhaft verbüßt.
Gründe:
I.
Der Senat hat mit Beschluss vom 21. Juni 2001 gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft
angeordnet. Dem Auslieferungshaftbefehl liegt ein am 25. Mai 2001 bei dem
Bundesministerium der Justiz eingegangenes Ersuchen des Ministeriums für Justiz der
Republik Bulgarien um die Auslieferung des bulgarischen Staatsangehörigen J zum Zweck
der Strafvollstreckung in zwei Verfahren zugrunde.
Zu vollstrecken sind ausweislich der dem Ersuchen beigefügten Unterlagen
der Rest einer Freiheitsstrafe von ursprünglich 12 Jahren aus dem Urteil des 3.
Strafkollegiums des Bezirksgerichts Sofia vom 28. Januar 1985 - 7936/84, zu der der
Verfolgte wegen "Diebstahls in hohem Maße" (gemeint wohl: "im schweren Fall", Art. 195
Abs.2 des bulgarischen Strafgesetzbuches) und der Verbringung von Kulturgut über die
Landesgrenze (Art.278 bulg. StGB) verurteilt worden ist. Die Aussetzung des Strafrestes
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zur Bewährung ist durch Beschluss des Bezirksgerichts Pleven vom 21. März 2001,
rechtskräftig seit 5. April 2001, widerrufen worden. Der zu vollstreckende Strafrest beträgt
ein Jahr acht Monate 23 Tage;
eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren aus dem Urteil des Bezirksgerichts Pleven vom 3.
Dezember 1996 in Verbindung mit dem Berufungsurteil des Kreisgerichts Pleven vom 13.
Januar 1997 - Strafsache Nr.258/92 - wegen unerlaubten Besitzes von Sprengstoff und
Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion (Art.330, 333, 339 bulg. StGB).
II.
Der Antrag des Beistandes des Verfolgten vom 25. Juli 2001, den Auslieferungshaftbefehl
aufzuheben und die Unzulässigkeit der Auslieferung festzustellen, ist nicht begründet.
1.
Die Auslieferung zur Vollstreckung der genannten Urteile aufgrund des vorliegenden
Auslieferungsersuchens ist, wie der Senat im Beschluss vom 21. Juni 2001 festgestellt hat,
grundsätzlich gemäß § 3 Abs.3 IRG zulässig, weil wegen der Taten die Auslieferung zur
Verfolgung zulässig wäre und die zu vollstreckende freiheitsentziehende Sanktion jeweils
mindestens vier Monate beträgt.
Die Auslieferung zur Verfolgung wäre zulässig, weil die Taten bei sinngemäßer Umstellung
auch nach deutschem Recht strafbar wären (§§ 242, 243 StGB, § 16 des Gesetzes zum
Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung vom 8. Juli 1999; § 40 Abs.1 Nr.3
SprengstoffG, § 308 StGB) und Hinderungsgründe, die der Auslieferung gemäß den
Artikeln 3-10 des europäischen Auslieferungsabkommens entgegenstehen könnten, nicht
vorliegen.
2.
Die hiergegen gerichteten Einwendungen des Verfolgten geben zwar Anlass, die
bulgarischen Behörden zu einzelnen Umständen um Aufklärung zu bitten, sie rechtfertigen
jedoch nicht die Aufhebung des Auslieferungshaftbefehls:
a)
Unerheblich ist zunächst, dass der Verfolgte die ihm zur Last gelegten Taten bestreitet.
Denn es liegen bezüglich beider Taten vollstreckbare Erkenntnisse des ersuchenden
Staates vor. Gemäß § 10 Abs.2 IRG findet eine Prüfung des Tatverdachts nur
ausnahmsweise im Auslieferungsverfahren zum Zwecke der Strafverfolgung, nicht in jenem
zur Strafvollstreckung statt. Unabhängig davon reicht das schlichte Bestreiten des Vorwurfs
angesichts der detaillierten Darstellung des Tatvorwurfs im Urteil des Kreisgerichts Pleven
vom 3.12.1996 nicht aus. Was die Vorwürfe betrifft, die dem Urteil des Bezirksgerichts Sofia
vom 28. Januar 1985 zugrund liegen, bedarf es unabhängig vom Bestreiten des Verfolgten
der - durch den Senat mit diesem Beschluss angeforderten - Vorlage des Urteils im vollen
Wortlaut.
b)
Soweit der Verfolgte zugleich bestreitet, überhaupt verurteilt worden zu sein, steht dem,
was die Verurteilung wegen des Vorwurfs des wegen unerlaubten Besitzes von Sprengstoff
und Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion betrifft, entgegen, dass mit dem
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Auslieferungsersuchen das Urteil des Bezirksgerichts Pleven vom 3. De zember 1996 und
das Berufungsurteil des Kreisgerichts Pleven vom 13. Januar 1997 - Strafsache Nr.258/92 -
vorgelegt worden sind.
Die Tatsache, dass diese Urteile in Abwesenheit des Verfolgten ergangen sind, steht der
Auslieferung nach der derzeitigen Sachlage nicht entgegen. Denn den Urteil ist zu
entnehmen, dass der Verfolgte die zugrunde liegenden Vorwürfe im Ermittlungsverfahren
vollständig eingeräumt, er sich dem Verfahren sodann durch Flucht entzogen haben soll
und er in beiden Rechtszügen durch einen Pflichtverteidiger vertreten worden ist, der im
Berufungsrechtszug - und zwar nicht zuletzt im Hinblick auf das Geständnis des
Angeklagten - eine Herabsetzung der Strafe von drei auf zwei Jahre Freiheitsstrafe erreicht
hat. Er hatte danach Kenntnis vom Verfahren, er hat sich ihm durch Flucht entzogen, die
Mindestrechte im Verfahren sind durch die Beiordnung eines Pflichtverteidigers
gewährleistet gewesen. Unter diesen Umständen ist der nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG NJW 1991, 1411 = NStZ 1991, 294; BVerfGE
59,280 [282 ff.] = NJW 1982,1214 ; BVerfGE 63, 332 [337] = NJW 1983, 1726, BVerfGE 75,
1 [19]) wie der Oberlandesgerichte (vgl. die Sentsentscheidungen vom 13. Mai 1997 - 2
Ausl94/92-14/96 und vom 6. März 2001, 2Ausl 186/00-10, jeweils m.w.N.) völkerrechtlich
zu beachtende Mindesstandard der Verteidigungsrechte eines Verfolgten gewahrt und
seine Auslieferung trotz der Verurteilung in Abwesenheit zulässig.
Der Senat hat keinen Anlass, die dieses Verfahren betreffenden Angaben und die dazu
überreichten Urkunden in Zweifel zu ziehen und die bulgarischen Behörden insoweit zur
weiteren Aufklärung aufzufordern.
Was die Vorwürfe des "Diebstahls in hohem Maße" (gemeint wohl: "im schweren Fall", Art.
195 Abs.2 des bulgarischen Strafgesetzbuches) und der Verbringung von Kulturgut über
die Landesgrenze (Art.278 bulg. StGB) betrifft, wegen derer der Verfolgte durch Urteil des 3.
Strafkollegiums des Bezirksgerichts Sofia vom 28. Januar 1985 - 7936/84 - verurteilt
worden ist, ergibt sich die Existenz eines solchen Urteils ohne weiteres aus den
vorgelegten Beschlüssen über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung und des
Widerrufs dieser Strafaussetzung durch den Beschluss des Bezirksgerichts Pleven vom 21.
März 2001, rechtskräftig seit 5. April 2001.
Gleichwohl ersucht der Senat die bulgarischen Behörden um die Übersendung des -
bislang nicht vorgelegten - Urteils mit dem vollständigen Wortlaut.
Soweit der Verfolgte durch seinen Beistand auch in Zweifel ziehen lässt, dass der zu
vollstreckende Strafrest ein Jahr acht Monate 23 Tage beträgt und meint, hierbei handele
es sich um die Dauer der Bewährungszeit, übersieht er, dass nach Art. 70 Abs.6 des
bulgarischen StGB die Dauer der Bewährung der Dauer des ausgesetzten Strafteils
entspricht.
c)
Die Behauptung des Verfolgten, die Angaben der bulgarischen Behörden zu Haftzeiten
könnten schon deshalb nicht zutreffen, weil er im maßgeblichen Zeitraum ununterbrochen
bei der Fa. "U AG" beschäftigt gewesen sei, ist grundsätzlich unerheblich. Von Bedeutung
für das Auslieferungsverfahren könnte allenfalls die Behauptung sein, der Verfolgte habe
mehr als von dem ersuchten Staat angegeben verbüßt.
Soweit hiermit indirekt die Angaben der bulgarischen Behörden insgesamt in Zweifel
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gezogen werden sollen, ist dem Vortrag entgegenzuhalten, dass die übersandte
Strafzeitbescheinigung (deren es nicht bedurft hätte) im Original den Fingerabdruck und die
Unterschrift des Verfolgten und damaligen Gefangenen enthält. Dieser Umstand, der ganz
erheblich für die Richtigkeit der Bescheinigung spricht, wird durch den Verfolgten nicht
erklärt. Was die Frage der Strafzeiten betrifft, gibt der Senat den bulgarischen Behörden
deshalb lediglich aus Gründen äußerster Vorsorge Gelegenheit zur Stellungnahme.
d)
Die den bulgarischen Behörden unterstellten politischen Motive für die Verfolgung des
Beschwerdeführers finden in den vorgelegten Unterlagen keine Bestätigung. Sie könnten
ohnehin für sich nicht zur Unzulässigkeit der Auslieferung führen, sondern nur dann, wenn
die Auslieferung des Verfolgten gegen bulgarisches Recht oder völkerrechtliche
Grundsätze verstoßen würde. Weder für das eine noch für das andere bestehen derzeit -
unbeschadet der Ausführungen unter e) - durchgreifende Anhaltspunkte.
e)
In rechtlicher Hinsicht bedeutungsvoll ist die - nicht näher begründete - Behauptung des
Verfolgten, einer Vollstreckung der gegen ihn erkannten Freiheitsstrafe bzw.
Restfreiheitsstrafe stünde nach bulgarischem Recht die Vollstreckungsverjährung
entgegen. Dem hat der Senat - zunächst durch eine entsprechende Anfrage an die
bulgarischen Behörden - nachzugehen.
Zugleich bedarf es auch einer ergänzenden Stellungnahme des ersuchenden Staates zur
Zulässigkeit des Widerrufs einer Strafaussetzung zur Bewährung mehrere Jahre nach
Ablauf der Bewährungszeit, die nach deutschem Recht (wohl) nicht möglich wäre.
3.
Die aufgezeigten Umstände führen zwar gegenwärtig nicht zur Unzulässigkeit der
Auslieferung und damit zur Aufhebung des Haftbefehls. Sie stehen aber einer
abschließenden Entscheidung über die Zulässigkeit derzeit entgegen.
III.
Die Fortdauer der Auslieferungshaft ist geboten. Bei dem Verfolgten besteht - aus den
Gründen der Entscheidung vom 21. Juni 2001 - nach wie vor Fluchtgefahr. Die Bedenken
gegen die Zuverlässigkeit des Verfolgten und die Zweifel an seiner Bereitschaft, sich dem
Verfahren zu stellen, werden durch die jetzt vorliegenden strafrechtliche Erkenntnisse über
das Verhalten des Verfolgten in der Bundesrepublik Deutschland - er ist seit 1996 mehrfach
bestraft worden - noch verstärkt.