Urteil des OLG Köln vom 18.03.2003
OLG Köln: zulässigkeit der auslieferung, rechtshilfe in strafsachen, rechtliches gehör, mindeststandard, staat, strafvollstreckung, versuch, flucht, strafurteil, auslieferungshaft
Oberlandesgericht Köln, 2 Ausl 253/02
Datum:
18.03.2003
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ausl 253/02
Tenor:
Die Auslieferung des türkischen Staatsangehörigen H zur
Strafvollstreckung wegen der gegen ihn durch Urteil des Landgerichts
Mailand vom 14. Juli 1998 in Verbindung mit dem Urteil des
Oberlandesgerichts Mailand vom 10. Mai 1999 erkannten Freiheits-
strafe ist unzulässig.
G r ü n d e :
1
I.
2
Das Justizministerium der Republik Italien ersucht um die Auslieferung des türkischen
Staatsangehörigen H zur Vollstreckung des gegen den Verfolgten ergangenen Urteils
erster Instanz des Strafgerichts Mailand vom 14. Juli 1998. Durch dieses Urteil ist der
Verfolgte wegen des Vorwurfs, zwischen Dezember 1994 und dem 29. Juli 1995 mit
Betäubungsmitteln (29,5 kg Heroin) Handel getrieben und versucht zu haben, mit
weiteren Betäubungsmitteln (111 kg Heroin) Handel zu treiben, in Abwesenheit zu einer
Freiheitsstrafe von 19 Jahren verurteilt worden. Die von dem ihm beigeordneten
Pflichtverteidiger eingelegte Berufung, über die ebenfalls in seiner Abwesenheit
verhandelt wurde, ist durch Urteil des Oberlandesgerichts Mailand vom 10. Mai 1999 als
unzulässig verworfen worden, weil sie "ohne die erforderliche Sondervollmacht
eingelegt" worden war.
3
Mit Beschluss vom 22. Oktober 2002 hat der Senat gegen den Verfolgten die vorläufige
Auslieferungshaft angeordnet. Bereits in diesem Beschluss hat der Senat darauf
hingewiesen, dass die Zulässigkeit der Auslieferung zur Vollstreckung des
Abwesenheitsurteils von der Darlegung abhängen werde, dass in dem Verfahren die
Mindestverteidigungsrechte eines Beschuldigten gewahrt bzw. sich der Beschuldigte in
Kenntnis des gegen ihn geführten förmlichen Verfahrens seiner Verteidigungsrechte
durch Flucht selbst schuldhaft begeben habe. Auf die Erforderlichkeit und Dringlichkeit
dieser Darlegung ist erneut im Beschluss vom 12. November 2002 ausdrücklich
hingewiesen worden. Nachdem bis zum 24. Januar 2003 eine entsprechende
Darlegung der italienischen Behörden nicht eingegangen war, hat der Senat die
Auslieferungshaft - einem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft entsprechend -
aufgehoben.
4
Mit Schreiben vom 7. Februar 2003 haben die italienischen Behörden kommentarlos
Aktenauszüge übermittelt, aus denen sich ergibt, dass die Hauptverhandlung gegen den
Verfolgten seit dem 26. September 1997 immer wieder vertagt worden ist, nachdem
jeweils festgestellt worden war, dass der Verfolgte immer noch abwesend war. Aus den
übersandten Unterlagen ergibt sich u.a., dass den italienischen Behörden im Juli 1997
bekannt war, dass der Verfolgte am 13. Februar 1997 von einem deutschen Amtsgericht
zu Freiheitsstrafe verurteilt worden war und seine Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt
S verbüßte. Dass dies zum Anlass genommen worden wäre, den Verfolgten unter der
nun bekannten Anschrift von dem gegen ihn in Italien geführten Verfahren zu
unterrichten, lässt sich den vorgelegten Unterlagen nicht entnehmen.
5
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Auslieferung des Verfolgten zur
Strafvollstreckung wegen der gegen ihn durch Urteil des Landgerichts Mailand vom 14.
Juli 1998 in Verbindung mit dem Urteil des Oberlandesgerichts Mailand vom 10. Mai
1999 erkannten Freiheitsstrafe von 19 Jahren für unzulässig zu erklären.
6
II.
7
Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, die Auslieferung für unzulässig zu erklären,
ist zu entsprechen. Der Verfolgte ist in Italien in seiner Abwesenheit zu Freiheitsstrafe
verurteilt worden. Die Zulässigkeit der Auslieferung setzt in diesen Fällen voraus, dass
der Verfolgte im Verfahren seine Rechte wirksam wahrnehmen konnte, wenn er sich
dem Verfahren nicht bewusst entzogen und sich dadurch seiner Verteidigungsrechte
begeben hat, oder dass ihm die Möglichkeit eingeräumt ist, seine Rechte in einem
Wiederaufnahmeverfahren wirksam zu vertreten (dazu unten 1)). Von beidem kann nach
dem dem Senat unterbreiteten Sachverhalt nicht ausgegangen werden (dazu unten 2)).
8
1.
9
Zwar begründet allein der Umstand, dass gegen den Verfolgten ein Abwesenheitsurteil
ergangen ist, für sich noch kein Auslieferungshindernis.
10
Grundsätzlich haben die deutschen Gerichte im Verfahren über die Zulässigkeit der
Auslieferung zur Strafvollstreckung davon auszugehen, dass das in dem ersuchenden
Staat gegen die jeweiligen Verfolgten ergangene Strafurteil auf rechtmäßige Weise
zustande gekommen ist. Denn die Bundesrepublik Deutschland ist mit zahlreichen
Staaten durch bilaterale und multilaterale Auslieferungsverträge verbunden und deshalb
grundsätzlich verpflichtet, einem Auslieferungsverlangen Folge zu leisten. Diese
völkerrechtliche Pflicht würde verletzt, wenn eine Auslieferung stets dann verweigert
würde, wenn das Verfahren im ersuchenden Staat nicht dem rechtstaatlichen oder auch
verfassungsrechtlichen Standard der Bundesrepublik Deutschland genügen würde.
11
Nur wenn die der Auslieferung zugrunde liegenden Akte mit dem nach Art.25 GG in der
Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit
den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung
nicht vereinbar sind, dieser völkerrechtliche Mindeststandard im ersuchenden Staat also
unterschritten worden ist, hindert das Völkerrecht eine Versagung der Auslieferung nicht
(SenatsE v. 6. März 2001 - 2 Ausl 186/00 - 10 - m.w.Nachw.).
12
Anlass zu einer Prüfung des Verfahrensgangs auf diesen Mindeststandard besteht,
wenn ein ausländisches Strafurteil, zu dessen Vollstreckung ausgeliefert werden soll, in
13
Abwesenheit des Verfolgten ergangen ist (vgl. BVerfG NJW 1991,1411 = NStZ 1991,
294; BVerfGE 59, 280[282ff.] = NJW 1982,1214; BVerfGE 63, 332[337] m.w.N. = NJW
1983,1726).
Nach deutschem Verfassungsrecht gehört es zu den elementaren Anforderungen des
Rechtsstaates, die insbesondere im Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vor
Gericht (Art.103 Abs.1 GG) Ausprägung gefunden haben, dass niemand zum bloßen
Gegenstand eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden darf und
dadurch zugleich in seiner Menschenwürde (Art.1 Abs.1 GG) verletzt würde (vgl. BVerfG
NJW 1991, 1411 m.w.N.). Daraus ergibt sich insbesondere für das Strafverfahren das
zwingende Gebot, dass der Beschuldigte im Rahmen der von der Verfahrensordnung
aufgestellten Regeln die Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können
muss, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen
Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen, deren umfassende und
erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen
(BVerfG a.a.O; vgl. ferner BVerfGE 41, 246 [249] = NJW 1976, 413; BVerfGE 46,202
[210] = NJW 1978, 151; BVerfGE 54, 100 [116] = NJW 1980, 1943, BVerfG NJW 1983,
1726 [1727]; OLG Hamm StV 1997, 364 [365] und 365 [366]; OLG Düsseldorf NJW
1987,2172; OLG Zweibrücken MDR 1986, 874; OLG Karlsruhe NStZ 1983, 225; zum
Verhältnis zu Art.6 III c MRK vgl. OLG Köln, 1.Strafsenat, NStZ-RR 1999,112).
14
Der wesentliche Kern dieser Rechtsgewährleistungen gehört von Verfassungs wegen
zum unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung, wie auch zum
völkerrechtlichen Mindeststandard, der über Art. 25 GG einen Bestandteil des in der
Bundesrepublik Deutschland geltenden innerstaatlichen Rechts bildet (BVerfG NJW
1991, 1411 m.w.N.).
15
Eine Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des
Verfolgten ergangenen Strafurteils ist bei Anlegung dieser Maßstäbe danach
unzulässig, wenn der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des
Abschlusses des betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war, noch
ihm eine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser
Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen
(BVerfG - 2 BvR 369/88 v. 10.6.1988, abgedruckt in Eser/ Lagodny/ Wilkitzki, Die
Rechtshilfe in Strafsachen, Nr.U 167; BVerfGE 63,332 [338] = NJW 1983,1726).
16
2)
17
Nach dem Gang des Verfahrens gegen den Verfolgten, wie er dem Senat unterbreitet
worden ist, sind die sich aus diesen Grundsätzen ergebenden Mindestanforderungen
nicht gewahrt. Denn die Einlassung des Verfolgten, er habe von der Durchführung des
Verfahrens keine Kenntnis gehabt und sich gegen die Vorwürfe deshalb nicht
verteidigen können, wird durch die vorgelegten Unterlagen indiziell eher bestätigt als
widerlegt.
18
Den Unterlagen lässt sich nicht entnehmen, dass sich der Verfolgte in jenem Verfahren
etwa in Untersuchungshaft befunden und sich ihm durch Flucht entzogen hätte. Ihnen ist
ferner nicht zu entnehmen, dass ein Versuch gemacht worden wäre, des Verfolgten
habhaft zu werden, nachdem bekannt geworden war, dass er in Deutschland verurteilt
worden war. Dabei verfügten die italienischen Behörden über genaue Kenntnisse
dieses Verfahrens: Ihnen waren der Tatvorwurf, das Gericht und die
19
Justizvollzugsanstalt bekannt, in der die Strafe vollzogen wurde. Ihnen war sogar der
Zeitpunkt der frühestmöglichen Entlassung des Verfolgten aus deutscher Strafhaft
bekannt. Trotzdem ist kein Versuch ersichtlich, den Verfolgten für das in Italien geführte
Verfahren zu laden oder - was sich zu diesem Zeitpunkt geradezu aufgedrängt hätte -
um dessen Auslieferung zu ersuchen. Vor allem aber gibt es keinen Hinweis oder Beleg
dafür, daß der Verfolgte über das italienische Abwesenheitsverfahren informiert wurde,
damit er ihm sich selbst stellen oder sich durch einen Anwalt verteidigen lassen konnte.
Der Senat hat die italienischen Behörden mehrfach darauf hingewiesen, dass die
Zulässigkeit der Auslieferung von einer Klärung der Umstände des in Italien geführten
Verfahrens abhängen würde und ausreichend Gelegenheit gegeben, die erforderliche
Klärung herbeizuführen. Mit der Generalstaatsanwaltschaft ist der Senat darin einig,
dass (auch) die zuletzt vorgelegten Unterlagen diesen Anforderungen nicht genügen.
20
Da auch keine Erklärung der italienischen Behörden darüber erfolgt ist, dass der
Verfolgte seine Rechte in einem Nachverfahren wirksam wird wahrnehmen können,
kann eine Auslieferung nach den von den deutschen Gerichten zu beachtenden
Grundsätzen über die Mindestrechte eines Beschuldigten nicht erfolgen.
21