Urteil des OLG Köln vom 20.07.1999

OLG Köln: vollstreckung der strafe, öffentliche sicherheit, aussetzung, gefahr, energie, anhörung, bewährung, mittäter, ermessen, ausnahme

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
1
2
3
4
5
6
7
Aktenzeichen:
Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 384-385/99
20.07.1999
Oberlandesgericht Köln
2. Strafsenat
Beschluss
2 Ws 384-385/99
Die sofortige Beschwerde wird verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der dem
Verurteilten hierin entstandenen notwendigen Auslagen trägt die
Staatskasse.
G r ü n d e :
I.
Der Beschwerdeführer ist durch die Urteile des Landgerichts Düsseldorf vom 27.1.1982
und des Landgerichts München I vom 7.6.1982 jeweils wegen gemeinschaftlichen Raubes
zu Freiheitsstrafen acht Jahren bzw. acht Jahren und sechs Monaten verurteilt worden.
Zugrunde lagen Überfälle auf die Filiale der Stadtsparkasse in München, R.straße, am
27.6.1980 und die Filiale der Stadtsparkasse S. in Leverkusen am 20.11.1980. Mittäter
waren in beiden Fällen u.a. Freunde des Verurteilten aus L., R. N. und A. S.. B. hatte bei
dem Überfall auf die Stadtsparkassenfiliale in München die Aufgabe übernommen, für eine
reibungslose Flucht nach vollbrachter Tat zu sorgen und das Fluchtfahrzeug gesteuert. In
Leverkusen lag sein Tatbeitrag darin, die Türen und den Schalterraum im Auge zu
behalten, den Ein- und Ausgangsbereich abzusichern und die Kunden und Angestellten im
Schalterraum mit vorgehaltener Schußwaffe in Schach zu halten.
Mit Beschluß vom 17. September 1984 hat das Landgericht München I aus beiden
Verurteilungen eine Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren gebildet und dabei - neben
generalpräventiven Gesichtspunkten - berücksichtigt, daß einerseits die schnelle Tatfolge
für eine erhebliche kriminelle Energie B.s sprach, andererseits sein Tatbeitrag im
Verhältnis zu denen der Mittäter von geringerem Gewicht war.
Der Verurteilte verbüßte zwischen dem 7.8.1982 und dem 11.9.1989 unter Anrechnung der
seit dem 20.11.1980 vollzogenen Untersuchungshaft etwas mehr als Zweidrittel der Strafe
(Zweidrittelzeitpunkt war der 19.7.1989). Zu diesem Zeitpunkt wurde von der weiteren
Vollstreckung der Strafe gemäß § 456 a StPO abgesehen und der Verurteilte ausgewiesen.
2.
Als B. am 13.1.1999 in die Bundesrepublik Deutschland einreiste, um eine in Karlsruhe
lebende Nichte zu besuchen, wurde er aufgrund des gegen ihn seit 1989 bestehenden
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
Haftbefehls festgenommen und zur weiteren Strafvollstreckung gemäß § 456 a Abs. 2 S. 1
StPO in die Justizvollzugsanstalt Rheinbach eingeliefert.
Der Verurteilte hat mit anwaltlichem Schreiben vom 20.1.1999 die Aussetzung des
Strafrestes gemäß § 57 StGB unter Verzicht auf eine mündliche Anhörung beantragt.
Mit dem angefochtenen Beschluß vom 27.5.1999 hat die Strafvollstreckungskammer des
Landgerichts Bonn nach Anhörung der Staatsanwaltschaft und nach Einholung einer
Stellungnahme des Leiters der JVA Rheinbach die Vollstreckung des Strafrestes aus dem
Gesamtstrafenbeschluß des Landgerichts München I vom 17.9.1984 auf die Dauer von drei
Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Von der Einholung eines Sachverständigengutachtens
zur Frage der Gefährlichkeit des Gefangenen gemäß § 454 Abs. 2 StPO hat die
Strafvollstreckungskammer mit der Begründung abgesehen, nach ihrer Überzeugung
bestehe "keine Gefahr mehr, daß die durch die Taten zutagegetretene Gefährlichkeit des
Verurteilten fortbesteht".
3.
Gegen die ihr zunächst per Telefax bekanntgemachte Entscheidung vom 27.5.1999 hat die
Staatsanwaltschaft München I unter dem 1.6.1999 sofortige Beschwerde eingelegt.
Sie meint, entgegen der Auffassung der Strafvollstreckungskammer sei die Einholung
eines kriminalpsychologischen Prognosegutachtens angesichts der in den Raubüberfällen
zutage tretenden kriminellen Energie des Verurteilten zwingend erforderlich gewesen. Sie
verweist zur Begründung ergänzend darauf, daß der Verurteilte mit der Einreise in das
Bundesgebiet am 13.1.1999 entgegen der unbefristeten Ausweisungsverfügung des
Rhein-Sieg-Kreises vom 3.10.1984 erneut eine Straftat begangen habe. Diese Tat, wegen
der die Staatsanwaltschaft Bonn ein Ermittlungsverfahren (10 Js 310/99) eingeleitet hat,
stehe einer günstigen Prognose entgegen.
Die Generalstaatsanwaltschaft in Köln ist der sofortigen Beschwerde der
Staatsanwaltschaft München beigetreten.
Für den Verurteilten hat dessen Verteidiger Rechtsanwalt T. unter Berufung auf den der
Aussetzung zugrunde liegenden Antrag des Verteidigers Rechtsanwalt H. auf den
Lebenswandel des Verurteilten in den vergangenen 20 Jahren hingewiesen, der durch
eine straffreie und sozial orientierte Lebensführung gekennzeichnet sei. Mit der
Gegenerklärung hat der Verteidiger eine Bescheinigung des Bezirksgerichts L. vorgelegt,
aus der sich ergibt, daß keine Erkenntnisse über Straftaten des Verurteilten seit seiner
Wiedereinreise nach Italien am 11.9.1989 vorliegen.
II.
Die gemäß § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte, form- und fristgerecht (§ 311 Abs. 2 StPO)
eingelegte sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist unbegründet.
1.
Die formellen Voraussetzungen für eine Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 StGB sind
erfüllt, weil zwei Drittel der Strafe verbüßt sind (§ 57 Abs. 1 Nr. 1 StGB) und die Probe, ob
sich der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs straffrei führen wird, unter Berücksichtigung
des Sicherungsinteresses der Allgemeinheit und mit Rücksicht auf das Gewicht des bei
einem Rückfall bedrohten Rechtsguts (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 StGB in der seit dem
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
27. Januar 1998 geltenden Fassung [Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und
anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998, BGBl. I S. 160]) verantwortet werden
kann.
Die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland steht einer günstigen Legalpognose nicht
entgegen. Sie erfolgte, wie der Verurteilte nachvollziehbar geltend gemacht hat, in der
irrigen Annahme, er könne bereits seit 1995 unproblematisch wieder einreisen. Für ein
fehlendes Unrechtsbewußtsein spricht in der Tat die Einreise über die Schweiz, deren
Grenzkontrollen auch nach der Vorstellung des Verurteilten schärfer sind, als die etwa
Österreichs. Unabhängig hiervon läßt sich im übrigen angesichts der veränderten
Lebensverhältnisse des Verurteilten, auf die noch näher einzuhgehen sein wird, aus der
Einreise schlechterdings keine ungünstige Prognose in Bezug auf ein den abgeurteilten
Taten vergleichbar schweres Delikt ableiten.
2.
Von der Einholung eines Sachverständigengutachtens gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2
StPO n.F. konnte abgesehen werden, weil alle in diesem besonders gelagerten Fall für die
Prognoseentscheidung gemäß § 57 Abs.1 StGB heranzuziehenden Umstände zweifelsfrei
die Beurteilung zulassen, daß von dem Verurteilten praktisch keine Gefahr für die
öffentliche Sicherheit mehr ausgeht.
a) Nach der am 31.1.1998 in Kraft getretenen Änderung des § 454 StPO durch das Gesetz
zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar
1998 (BGBl. I S. 160 ff.) hat das Gericht das Gutachten eines Sachverständigen über den
Verurteilten einzuholen, wenn es erwägt, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen
Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen eines Verbrechens gemäß § 57 StGB zur
Bewährung auszusetzen und nicht auszuschließen ist, daß Gründe der öffentlichen
Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung des Verurteilten entgegenstehen.
Die Vorschrift greift ein, weil der Gefangene B. wegen zweier Verbrechen des
gemeinschaftlichen schweren Raubes den Rest einer Freiheitsstrafe von ursprünglich 13
Jahren verbüßt.
b) Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft konnte die Strafvollstreckungskammer
gleichwohl von der danach grundsätzlich gebotenen Einholung des Gutachtens absehen:
aa) Mit dem Gebot, ein Gutachten einzuholen, hat der Gesetzgeber dem Gericht "eine
möglichst breite und sichere Entscheidungsgrundlage" verschaffen und damit "die Gewähr
bieten" wollen, "daß zukünftig Verurteilte nur dann entlassen werden, wenn ein
Rückfallrisiko nach menschlichem Ermessen weitestgehend ausgeschlossen werden
kann" (BT-Dr 13/8586 zu Art. 5 - Änderung der StPO - Nr.2 - § 454 StPO), wenn also von
dem Verurteilten praktisch keine Gefahr mehr ausgeht.
Danach wird ein Absehen von der Einholung eines Gutachtens in den Fällen, in denen die
Vorschrift eingreift, die Ausnahme sein (vgl die in der Entscheidung des OLG Frankfurt a.M.
[NStZ 1998, 639 f.] angeführten Beispiele).
bb) Eine solche Ausnahme liegt indes aufgrund der Besonderheiten des Falles auch hier
vor:
Der Senat verkennt nicht, daß die Taten von erheblichem Gewicht waren und im Zeitpunkt
ihrer Begehung auf eine erhebliche kriminelle Energie schließen ließen. In der Rückschau
29
30
31
32
33
34
erweisen sich diese Taten jedoch als Einzelfälle, deren Wiederholung nach menschlichem
Ermessen zweifelsfrei ausgeschlossen erscheint. Im Zeitpunkt der Taten war der 24 Jahre
alte ledige Verurteilte ausweislich der gegen ihn ergangenen Urteile weder in Italien noch
in Deutschland vorbestraft. Die Taten liegen inzwischen fast 19 Jahre zurück. Ausweislich
der von seinen Verteidigern vorgelegten Bescheinigung der Staatsanwaltschaft bei dem
Gericht in L. vom 20.1.1999 liegen aus der Zeit nach seiner Rückkehr nach Italien keine
Erkentnisse über eine Straffälligkeit in Italien vor. Damit handelt es sich bei den 1982
abgeurteilten Taten um die einzigen Straftaten des damals noch jungen Verurteilten.
Inzwischen haben sich seine Lebensverhältnisse entscheidend verändert. B. hat 1991
geheiratet, aus der Ehe sind zwei Kinder im Alter von jetzt 9 und 2 Jahren hervorgegangen;
der Verurteilte hat Arbeit im Unternehmen seines Bruders. Er hat mit jetzt 44 Jahren ein
Alter erreicht, in dem nach den - durch Erhebungen bestätigten -Erfahrungen des Senats
ein Abnehmen der kriminellen Auffälligkeit auch ohne diese günstigen Begleitumstände zu
beobachten ist. Bei dem Verurteilten kommt nach den auch von der Staatsanwaltschaft
nicht in Zweifel gezogenen Angaben in der Antragsschrift vom 20.1.1999 eine 55-
prozentige Minderung der Erwerbsfähigkeit infolge von Magengeschwüren hinzu.
Es erscheint schon zweifelhaft, ob von der Einholung eines Gutachtens die vom
Gesetzgeber erstrebte Erweiterung der Entscheidungsgrundlage erwartet werden könnte:
Einem Gutachter stünden keine anderen Informationen über die Lebensführung des
Gefangenen zur Verfügung als dem Gericht. Um weitergehende sachverständige
Feststellungen treffen zu können, bedürfte es möglicherweise der sehr aufwendigen
Einschaltung eines italienischen oder eines der italienischen Sprache hervorragend
mächtigen Gutachters, weil sich Erkenntnisse über die menschliche Psyche ganz
entscheidend über die Sprache vermitteln, der Verurteilte aber nur geringe Kenntnisse der
deutschen Sprache hat. Der damit verbundene Aufwand stünde in keinem Verhältnis zu
den zu erwartenden Erkenntnissen aus einem solchen Gutachten.
Unabhängig von der Frage aber, welche Erkentnisse von der Einholung eines
Sachverständigengutachtens überhaupt zu erwarten sind, lassen die gesamten Umstände
eine erneute Straffälligkeit des Gefangenen als so fernliegend erscheinen, daß die
Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage einer fortbestehenden
Gefährlichkeit eine bloße Förmelei darstellen würde.
Schließlich ist zu bedenken: Selbst wenn ein Gutachter sich nicht zu der Feststellung
entschließen könnte, daß "bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr besteht, daß dessen
durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht", wäre das Gericht nicht der
Prüfung enthoben, ob es in Anbetracht der aufgezeigten Umstände nicht trotzdem eine
Aussetzung des Strafrestes verantworten kann. Denn die Einführung der Einholung eines
Gutachtens gemäß § 454 Abs. 2 StPO führt nicht zu einer Einschränkung der
Voraussetzungen für die Aussetzung des Strafrestes nach § 57 StGB. Auch bei einer auf
der Grundlage eines Gutachtens getroffenen Aussetzungsentscheidung kann ein
vertretbares Restrisiko eingegegangen werden (BVerfG NStZ 1998, 373). Jedenfalls dieses
etwa verbleibende Restrisiko ist nach den Umständen des vorliegenden Falles, die
eindeutig für eine künftige straffreie Führung sprechen, vertretbar.
Der sofortigen Beschwerde der Staatsanwaltschaft bleibt daher der Erfolg in der Sache
verwehrt.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 StPO.