Urteil des OLG Köln vom 24.04.2002

OLG Köln: behandlungsfehler, geburt, form, beweiserleichterung, universität, ermessen, gefahr, rechtshängigkeit, meinung, kausalität

Oberlandesgericht Köln, 5 U 69/98
Datum:
24.04.2002
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 U 69/98
Vorinstanz:
Landgericht Bonn, 18 0 225/93
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 18. Zivilkammer des
Landgerichts Bonn vom 12.02.1998 - 18 0 225/93 LG Bonn - wird
zurückgewiesen. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens
zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Klägerin bleibt
vorbehalten, die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe
von 14.000,00 EUR abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d
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Die im Jahr 1985 geborene Klägerin begehrt von der Beklagten Schadensersatz wegen
behaupteter ärztlicher Behandlungsfehler anlässlich ihrer Geburt am 1.02.1985.
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Die damals 31jährige Mutter der Klägerin wurde mit dieser erstmals schwanger. Der
zum damaligen Zeitpunkt 48jährige Vater der Klägerin hatte aus einer früheren Ehe
bereits weitere leibliche Kinder.
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Anlässlich eines Aufenthaltes der Mutter der Klägerin im Sommer 1984 in I. wurden dort
von Juli bis Oktober Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen durchgeführt. Im Anschluss
daran wurde die Mutter der Klägerin durch ihre Hausärztin Frau Dr. S. behandelt. Ab
15.01.1985 wurde sie ambulant durch die geburtshilfliche Abteilung der Beklagten
betreut. Am 31.01.1985 erfolgte die stationäre Aufnahme der Mutter der Klägerin um
10.30 Uhr mit Vorwehen seit der voraufgegangenen Nacht. Die Aufnahmeuntersuchung
ergab einen noch unreifen geburtshilflichen Befund. Bis zur Mittagszeit des 1.02.1985
wurden mehrere Cardiotokogramme geschrieben. Auf die diesbezüglichen
Aufzeichnungen sowie die weiteren Behandlungsunterlagen wird Bezug genommen.
Sie ergeben sich ferner aus der Tatbestandsschilderung im angefochtenen
landgerichtlichen Urteil, auf den der Senat verweist. Im Ergebnis wurde um 23.10 Uhr
eine Zangengeburt unter Einsatz einer sogenannten Kjelland-Zange eingeleitet; die
Einzelheiten der Durchführung des Einsatzes der Zange ergeben sich ebenfalls aus
dem Tatbestand des angefochtenen Urteils, auf die der Senat verweist. Die Klägerin
wurde auf diese Weise um 23.33 Uhr im schlaffen, asphyktischen reifen Zustand
geboren. Das Geburtsgewicht wurde mit 3.120 g, die Größe mit 50 cm und der
Kopfumfang mit 32 cm angegeben. Die Apgar-Werte wurden mit 4/5/9 festgelegt. Die
Nabelschnur war zweimal straff um den Hals und einmal um den Brustkorb
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geschlungen. Es wurden neben weiteren körperlichen Auffälligkeiten eine
Mikrocephalie sowie beidseitige Klumpfüße und "leicht dysmorphe" Gesichtszüge
festgestellt.
Wegen Trinkschwäche und Erbrechens wurde die Klägerin am 03.02.1985 in die
Universitäts-Kinderklinik und Poliklinik in B. verlegt, wo sie bis zum 14.03.1985 stationär
behandelt wurde. Wegen der mannigfachen körperlichen Auffälligkeiten der Klägerin
wurde eine Chromosomenanalyse veranlasst. Gemäß Bericht des Instituts für
Humangenetik der Universität B. vom 04.04.1985 besteht bei der Klägerin eine
strukturelle Auffälligkeit; die langen Arme eines Chromosoms 9 sind im terminalen
Abschnitt verkleinert (Stückverlust).
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In der Folgezeit kam es zu einer erheblich verzögerten körperlichen und geistigen
Entwicklung der Klägerin, bei der vorwiegend im sprachlichen und intellektuellen
Bereich sowie im Bereich der Motorik erhebliche Entwicklungsdefizite festzustellen sind.
Der gesamte Entwicklungsverlauf verzögerte sich massiv. Es handelt sich insoweit
gemäß den Ergebnissen der pädiatrischen Untersuchung durch Prof. Dr. N. von der
Universitätsklinik G. um eine schwere Mehrfachbehinderung, die bleibender Natur sein
wird und zur Folge hat, dass die Klägerin zu keinem Zeitpunkt in der Lage sein wird,
sich selbst zu versorgen oder aber einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
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Die Klägerin und ihre Eltern haben den auf Seiten der Beklagten bei der Geburt
beteiligten Ärzten und Hebammen gravierende Behandlungsfehler bei der Leitung der
Geburt vorgeworfen. Sie haben die Ansicht vertreten, die Ärzte hätten auf die sich
abzeichnende und schließlich manifeste Notsituation (Asphyxie) nicht bzw. zu spät
reagiert und auch den gewählten Entbindungsmodos nicht sachgerecht durchgeführt.
Auch die nachgeburtliche Betreuung habe nicht den Anforderungen an gutem ärztlichen
Standard entsprochen; auf diese Fehler seien die Dauerschäden zurückzuführen.
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Die Klägerin hat beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an sie zu Händen ihrer gesetzlichen Vertreter ein
angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 150.000,00 DM zu zahlen,
wobei die Höhe im übrigen in das Ermessen des Gerichts gestellt wurde,
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nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit,
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sowie
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festzustellen,
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dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr allen weiteren materiellen Schaden zu ersetzen,
der ihr im Zusammenhang mit ihrer Geburt entstanden ist und noch entstehen wird,
soweit Ersatzansprüche nicht auf Sozialleistungsträger oder sonstige Dritte
übergegangen sind oder noch übergehen.
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Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat die Ansicht vertreten, Behandlungsfehler lägen nicht vor; im übrigen beruhten
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die Schäden der Klägerin auf ihrer Chromosomenanomalie.
Nach Einholung von Sachverständigengutachten hat das Landgericht Bonn durch Urteil
vom 12.02.1998, auf welches wegen aller Einzelheiten Bezug genommen wird, die
Klage abgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt,
Schadensersatzansprüche der Klägerin seien zu verneinen, weil den Mitarbeitern der
Beklagten keine Behandlungsfehler vorzuwerfen zu seien.
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Gegen dieses am 24.02.1998 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 24.03.1998
Berufung eingelegt und diese am 25.06.1998, nach Verlängerung der
Berufungsbegründungsfrist bis zu diesem Tag, begründet. Die Klägerin verfolgt ihre
erstinstanzlichen Anträge mit ihrer Berufung weiter. Zur Begründung greift sie unter
Wiedereinsetzung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens im wesentlichen
das Gutachten des erstinstanzlichen Sachverständigen Prof. Dr. R. an, welches das
Landgericht ihrer Meinung nach nicht zur Grundlage seiner Entscheidung habe machen
dürfen, weil es in sich widersprüchlich sei. Die Klägerin vertritt nach wie vor die Ansicht,
es seien Behandlungsfehler in der Geburtsleitung vorzuwerfen, weil man die
zunehmende Gefahr einer Sauerstoffunterversorgung der Klägerin nicht ausreichend
diagnostisch abgeklärt habe, wie z. B. insbesondere durch Mikroblutuntersuchungen
bzw. nach der Geburt durch Untersuchungen des Arterienblutes der Nabelschnur,
weshalb es bei ihr zu einem Hypoxieschaden gekommen sei. Die Klägerin vertritt ferner
die Ansicht, eine bei ihr vorliegende Chromosomenschädigung, soweit eine solche
überhaupt gegeben sei, sei jedenfalls in keiner Weise ursächlich für ihre
Mehrfachbehinderung.
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Die Klägerin beantragt,
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unter Abänderung des angefochtenen Urteils nach den erstinstanzlichen
Schlussanträgen zu entscheiden.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Auch die Beklagte wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen und vertritt die
Ansicht, es seien schon keine Behandlungsfehler festzustellen; jedenfalls seien
eventuelle Fehler auch nicht ursächlich für die Dauerschäden der Klägerin.
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Der Senat hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschlüssen vom 18.11.1998 sowie
07.03.2000 sowie ferner vom 26.03.01. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme
wird auf die Gutachten von Prof. Dr. S./Frau Dr. med. G. v. 01.12.1999, von Prof. Dr. B.
vom 25.01.2001 sowie von Prof. Dr. K. vom 31.10.2001 verwiesen. Wegen des weiteren
Parteivorbringens wird auf die beiderseitigen Schriftsätze nebst Anlagen Bezug
genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die zulässige Berufung der Klägerin bleibt in der Sache ohne Erfolg.
Schadensersatzansprüche der Klägerin sind zu verneinen. Insoweit kann letztlich offen
bleiben, ob es im Rahmen der Geburtsleitung anlässlich der Geburt der Klägerin zu
Behandlungsfehlern, gegebenenfalls sogar groben Behandlungsfehlern gekommen ist;
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allerdings sieht der Senat immerhin Veranlassung zu dem Hinweis, dass er angesichts
der Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. B. dazu neigt, solche
Behandlungsfehler anzunehmen und diese auch als schon groben Verstoß gegen guten
ärztlichen Behandlungsstandard zu werten. Immerhin hat nämlich Prof. Dr. B. u. a.
ausgeführt, spätestens ab 22.30 Uhr am Geburtstag sei es nicht mehr vertretbar
gewesen, weiter abzuwarten; vielmehr hätte spätestens ab diesem Zeitpunkt
schnellmöglichst eine Sectio eingeleitet werden müssen. Prof. B. hat des weiteren
insoweit eindeutig darauf hingewiesen, es sei angesichts des gesamten CTG-Verlaufes,
der immer wieder Pathologien in Form eingeschränkter Oszillationen oder in Form von -
wenn auch zunächst nicht sehr auffälligen - wehensynchronen Dezelerationen
aufgezeigt habe - unverständlich, dass bei zunehmender Pathologie ab 21.30 Uhr der
Geburtsverlauf nicht durch eine abdominale Schnittentbindung beendet worden sei.
Völlig unverständlich und nicht mehr vertretbar halte er das weitere Abwarten ab 22.00
Uhr, da zu diesem Zeitpunkt die Tendenz der zunehmenden vitalen Herzfrequenz und
damit eine zusätzliche Stresssituation des Kindes erkennbar geworden sei. Diese
abwartende Handlung sei auch deshalb unverständlich, da die CTG Veränderung sehr
ausführlich dokumentiert und sachgerecht interpretiert worden sei, ohne dass man
hieraus Konsequenzen gezogen habe.
Trotz der somit naheliegenden Annahme eines groben Behandlungsfehlers kann ein
Schadensersatzanspruch der Klägerin gleichwohl nicht festgestellt werden. Es fehlt
nämlich an der hierfür zu fordernden Kausalität des Fehlers bei der Geburtsleitung für
die bei der Klägerin festzustellenden Schädigungen. Zwar kann ein grober
Behandlungsfehler grundsätzlich Beweiserleichterungen zugunsten des Patienten bis
hin zur Kausalitätsvermutung begründen. Eine solche Beweislastumkehr kommt jedoch
nur dann in Betracht, wenn der grobe Behandlungsfehler jedenfalls grundsätzlich
geeignet sein kann, die Folgeschäden, aus der der Schadensersatzanspruch hergeleitet
wird, auszulösen; ist jedoch ein solcher Kausalzusammenhang schlechterdings
unwahrscheinlich, kommt hingegen eine Beweiserleichterung im vorgenannten Sinne
nicht in Betracht (siehe u. a. BGH NJW 98/1780). Vorliegend steht nach den überaus
sorgfältigen und in jeder Hinsicht überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen
Prof. Dr. K. fest, dass Fehler bei der Geburtsleitung eindeutig nicht ursächlich für die
Schäden der Klägerin sein können. Der Sachverständige hat in seinem schriftlichen
Gutachten mit nicht zu überbietender Deutlichkeit und eingehender Begründung
ausgeführt, dass die körperlichen und geistigen Schäden der Klägerin auf der bereits
abschließend festgestellten chromosomalen Schädigung der Klägerin beruhen, also der
Verkürzung der langen Arme eines Chromosoms 9, wie sie schon mit Bericht des
Instituts für Humangenetik der Universität B. vom 4.04.1985 festgestellt worden ist; diese
Feststellung hat die Klägerin nicht substantiiert angegriffen. Die Schädigung ist im
übrigen auch durch den Sachverständigen Prof. Dr. K. bestätigt worden. Den
Ausführungen dieses Sachverständigen ist ferner zur Überzeugung des Gerichts zu
entnehmen, dass die Chromosomenschädigung die alleinige Ursache für die multiplen
Dauerschäden der Klägerin ist. Der Sachverständige hat nämlich ausdrücklich darauf
hingewiesen, es lägen keine Befunde vor, die beweisen würden, dass die Schädigung
der Klägerin nicht nur durch die Chromosomenstörung verursacht sein könnte, oder die
andererseits einen starken Hinweis darauf geben würden, dass eine intrapartale
Sauerstoffmangelversorgung mit großer Wahrscheinlichkeit eine bedeutsame Rolle
gespielt hätte. Wie der Sachverständige ausdrücklich erklärt hat, könnte selbst dann,
wenn eine Beteiligung des Sauerstoffmangels im Rahmen der leichten bis mäßigen
Asphyxie angenommen würde, deren Anteil an der Gesamtschädigung nur sehr
geringgradig im Sinne einer entfernten Möglichkeit "diskutiert" werden. Auf jeden Fall
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sei der Chromosomenschaden weit überwiegend ursächlich für die körperlichen und
geistigen Schäden der Klägerin. Damit steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass
die multiplen Behinderungen der Klägerin ausschließlich auf ihrem
Chromosomenschaden beruhen und nicht etwa eine Asphyxie unter der Geburt hierfür
in einem auch nur annähernd verifizierbaren Umfang ursächlich oder aber mitursächlich
sein kann. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die vorstehend
genannte Beweiserleichterung im Falle grober Behandlungsfehler auch dann
ausgeschlossen ist, wenn eine - hier vom Sachverständigen als allenfalls entfernte
Möglichkeit diskutierte - Mitursächlichkeit ganz unwahrscheinlich ist (siehe BGH NJW
1997/796). Die Überzeugung, dass Fehler in der Geburtsleitung keinesfalls ursächlich
oder auch nur mitursächlich für die Schäden der Klägerin sein können, gewinnt der
Senat insbesondere aus den weiteren Ausführungen des Sachverständigen
dahingehend, dass bei der Klägerin vom Zeitpunkt der Geburt an keine Symptome
vorgelegen haben, die tatsächlich mit einer Asphyxie unter der Geburt zu erklären wären
und insbesondere auch die Untersuchungen - insbesondere des Gehirns - keine
Befunde ergeben haben, die auf durch Sauerstoffmangel verursachte Hirnschäden
hindeuten könnten.
Dementsprechend hat auch Prof. N. in seinem Gutachten vom 25.09.1992 bereits die
Ansicht vertreten, dass bei der Klägerin eher keine hypoxische Schädigung vorliege,
weil sie nicht das typische Symptombild hierfür aufgewiesen habe.
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Dieser Ansicht hat auch Prof. S. in seinem für die Beklagte erstatteten Gutachten vom
22.12.1992 zugeneigt.
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Auch Prof. Dr. K. hat unter dem 11.07.1991 die Störungen der Klägerin in erster Linie auf
den Chromosomendefekt zurückgeführt.
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Prof. Dr. R. hat seinerseits in seinem Gutachten vom 3.03.1997 - ebenso wie Prof. Dr. K.
- die Ansicht vertreten, dass die Chromosomenanomalie ausschließlich kausal für die
Schädigungen der Klägerin sei.
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Auch vor dem Hintergrund dieser im Kern übereinstimmenden Feststellungen mehrerer
Gutachter unterschiedlicher Fachrichtung sieht sich der Senat in der Überzeugung
bestätigt, dass der Chromosomendefekt die alleinige Ursache für die Schäden der
Klägerin ist. Dieser Chromomendefekt ist jedoch in keiner Weise den für die Beklagte
tätigen Ärzten/Hebammen anzulasten; so dass ein Schadensersatzanspruch der
Klägerin zu verneinen ist.
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Die Berufung der Klägerin war deshalb mit der Kostenfolge des § 97 ZPO
zurückzuweisen.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Ziffer 10, 711
ZPO.
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Berufungsstreitwert und Wert der Beschwer der Klägerin: 153.387,56 EUR
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Die Revision wird nicht zugelassen, da die gerichtlichen Voraussetzungen für eine
Zulassung nicht vorliegen (§ 543 II ZPO n.F.).
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