Urteil des OLG Köln vom 06.12.2002

OLG Köln: diabetes mellitus, sicherheit, beihilfe, steuerhinterziehung, energie, beweiswürdigung, befund, konzentration, erforschung, aufmerksamkeit

Oberlandesgericht Köln, 2 Ws 604/02
Datum:
06.12.2002
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
2. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
2 Ws 604/02
Tenor:
1.
Der angefochtene Beschluss wird teilweise abgeändert und wie folgt
neu gefasst:
Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens gegen die Angeklagte
I. L. und die der Angeklagten hierin entstandenen notwendigen
Auslagen.
2.
Die Staatskasse trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens und
die der Angeklagten hierin entstandenen notwendigen Auslagen.
Gründe:
1
Der Angeklagten und ihrem Ehemann Wilhelm W. L. ist in der Anklage der
Staatsanwaltschaft Aachen vom 30. Januar 1998 vorgeworfen worden, sich im
Zusammenhang mit der von ihnen betriebenen Hundezucht in der Zeit von Anfang 1991
bis Ende 1995 jeweils gemeinschaftlich durch 360 selbständige Handlungen des
Betruges, durch elf selbständige Handlungen der Vollstreckungsvereitelung, durch 64
selbständige Handlungen des Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz und durch zehn
selbständige Handlungen der Steuerhinterziehung strafbar gemacht zu haben.
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Nachdem ein amtsärztliches Gutachten vom 20. Oktober 1999 ergeben hatte, dass die
Angeklagte verhandlungsunfähig war, trennte die Strafkammer das Verfahren gegen sie
noch vor Beginn der ab dem 9. März 2000 terminierten Hauptverhandlung durch
Beschluss vom 7. Februar 2000 ab und stellte es - ersichtlich gemäß § 205 StPO -
vorläufig ein.
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Der Ehemann der Angeklagten wurde durch Urteil der Strafkammer vom 28. September
2000 nach insgesamt 33 Verhandlungstagen wegen Betruges in 119 Fällen sowie
wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von
zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
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Ein weiteres amtsärztliches Gutachten vom 28. November 2001 ergab die nunmehr
dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten I. L. . Daraufhin stellte die
Strafkammer das Verfahren gegen sie am 19. April 2002 endgültig ein (§ 206 a StPO).
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Durch weiteren Beschluss vom 9. Oktober 2002 hat die Kammer die
Kostenentscheidung bezüglich des Verfahrens gegen die Angeklagte getroffen. Danach
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"fallen die Auslagen der Staatskasse zur Last. Es wird davon abgesehen, die
notwendigen Auslagen der Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen."
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Gegen den am 17. Oktober 2002 zugestellten Beschluss hat die Angeklagte durch ein
am selben Tag bei Gericht eingegangenes Fax-Schreiben ihrer Verteidigerin vom 18.
Oktober 2002 sofortige Beschwerde eingelegt.
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II.
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1.
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Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 206 a Abs.2, § 464 Abs.3 Satz 1, 1. Halbs. StPO
statthaft und auch im übrigen zulässig. Zwar hatte die Angeklagte gegen die im Vorfeld
erfolgte Einstellung nach § 206 a Abs.1 StPO selbst kein Beschwerderecht, weil sie
hierdurch nicht beschwert war. Jedoch steht ihr bei einer ihr nachteiligen Kosten- und
Auslagenentscheidung die sofortige Beschwerde zu. Die Beschränkung der
Anfechtbarkeit einer Kosten- und Auslagenentscheidung nach § 464 Abs.3 Satz 1.
1.Halbs. StPO, gilt, wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme zutreffend
ausgeführt hat, nicht, wenn gegen die Hauptentscheidung zwar ein Rechtsmittel statthaft
ist, es einem bestimmten Prozessbeteiligten aber lediglich mangels Beschwer nicht
zusteht (Senat, StraFo 1997, 18 f., Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., § 464
Rdn.19).
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2.
12
Das Rechtsmittel ist auch in der Sache begründet.
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a) Wird ein Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses gemäß § 206 a Abs.1 StPO
eingestellt, fallen die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des
bzw. der Angeklagten grundsätzlich der Staatskasse zur Last (§ 467 Abs.1 StPO).
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Abeichungen von dieser Regel lässt das Gesetz nur für wenige Ausnahmefälle zu, von
denen hier allein die in § 467 Abs.3 Satz 2 Nr. 2 StPO erfasste Fallgestaltung in
Betracht kommt. Danach kann das Gericht davon absehen, die notwendigen Auslagen
des Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn dieser wegen einer Straftat nur
deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Nach dem Willen des
Gesetzgebers ist § 467 Abs.3 Satz 2 Nr. 2 StPO nur in Ausnahmefällen anwendbar
(BGHSt 45, 108 [116] m.w.Nachw. u.a. auf die Entstehungsgeschichte). Seine
Anwendung setzt zweierlei voraus:
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Zum einen müsste die Angeklagte ohne das Vorliegen des Verfahrenshindernisses mit
Sicherheit verurteilt worden sein (Senat NJW 1991, 505 ff.; Senat StraFo 2997, 18 f.,
hinreichenden Tatverdacht lassen ausreichen: BGH, NStZ 2000, 330; Kleinknecht/
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Meyer-Goßner, a.a.O., § 467 Rdn.16). Dabei gebietet es die als Ausprägung des
Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs.3 GG) verfassungsrechtlich verankerte und in Art. 6
Abs.2 MRK Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland
gewordene Unschuldsvermutung, dass unter Vermeidung von Erörterungen, die einer
Schuldfeststellung gleichkommen, zu prüfen ist, ob die vorliegenden Verdachtsgründe
die Überzeugung vermitteln, dass ohne das Eintreten eines Verfahrenshindernisses
eine Verurteilung erfolgt wäre (vgl. hierzu im einzelnen: Senat, NJW 1991, 506 [507],
bestätigt durch SenatsE vom 3. September 1996, 2 Ws 435/96).
Zum andern ist nach ganz überwiegender Auffassung Voraussetzung für die
Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 467 Abs.3 Satz 2 Nr.2 StPO, dass besondere
Gründe vorliegen, die es unbillig erscheinen lassen, die Staatskasse mit den Auslagen
eines Angeklagten zu belasten (Senat, a.a.O., OLG Düsseldorf, MDR 1990, 359 f.,
Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O. § 467 Rdn.18; Franke in: Karlsruher Kommentar,
StPO, 4.Aufl., § 467 Rdn.10b; Hilger in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., § 467 Rdn.
60; Pfeiffer, StPO, 3.Aufl., § 467 Rdn.13). Auch in diesem Fall kann aber hinreichender
Anlass für eine Belastung des Angeklagten mit den Kosten des Verfahrens regelmäßig
nur in einem vorwerfbaren prozessualen Fehlverhalten gefunden werden (Senat a.a.O.).
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b) Unter Berücksichtigung dieser Kriterien findet die Vorschrift des § 467 Abs.3 Satz 2
Nr.2 StPO keine Anwendung.
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aa) Es ist schon nicht hinreichend sicher, ob ohne das Eintreten der
Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten I. L. deren Verurteilung erfolgt wäre, jedenfalls
lässt sich dies nach der Aktenlage nicht zur Genüge feststellen.
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Zwar scheinen hierfür die Ausführungen der Kammer in dem gegen den Ehemann der
Beschwerdeführerin ergangenen Urteil zu sprechen - beiden wurde gemeinschaftliche
Tatbegehung vorgeworfen, hinsichtlich der Umsatzsteuerhinterziehungen ging die
Strafkammer in diesem Urteil sogar von einer Alleintäterschaft der Angeklagten aus und
verurteilte deren Ehemann lediglich wegen Beihilfe hierzu. Auch hat die Kammer in dem
angefochtenen Auslagenbeschluss vom 9. Oktober 2002 die Beteiligungshandlungen
der Angeklagten nochmals im Einzelnen dargelegt.
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Bei einer Durchführung der Hauptverhandlung hätte aber auch berücksichtigt werden
müssen, dass die Angeklagte ausweislich der aktenkundigen ärztlichen
Untersuchungen erhebliche Sehschwächen aufweist. Die Sehleistung betrug bei den
Untersuchungen weniger als 50 % beidseitig im Nah- und Fernbereich und ausweislich
der fachärztlich-augenärztlichen Bescheinigung rechtsseitig bei 10 und linksseitig unter
5 %. Als von noch größerer potenzieller Bedeutung für die Frage der Schuldfeststellung
hätten sich die amtsärztlich festgestellten Konzentrationsstörungen der Angeklagten
erweisen können. Im amtsärztlichen Gutachten vom 28. November 2002 wird der
Angeklagten psychopathologisch eine vollständige situative Desorientiertheit sowie
eine eingeschränkte Orientiertheit zu Ort, Zeit und Person attestiert. Sie war auf
mehrmaliges Nachfragen nicht in der Lage, z.B. den Grund der amtsärztlichen
Untersuchung zu benennen. Ihr Bewusststein zeigte sich leicht eingetrübt. Erst auf laute
und deutliche Ansprache erfolgten Reaktíonen, wobei die Aufmerksamkeit und
Konzentration nicht ausreichte, um längere Fragestellungen zu verfolgen, geschweige
denn hierauf zügige, direkte Antworten zu formulieren. Diese - zur Frage der
Verhandlungsfähigkeit getroffenen - Feststellungen haben Doppelrelevanz. Anders als
rein physische Beschwerden, die zur Verhandlungsunfähigkeit führen, zwingt der
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psychopathologische Befund auch zur Erforschung der Frage, in wieweit
bewusstseinstörende Faktoren bereits bei Tatbegehung vorgelegen haben. Unter
diesen Umständen lässt die Beweiswürdigung zum Nachteil des Ehemanns nicht
zwingend den Rückschluss darauf zu, dass die Ehefrau, die Beschwerdeführerin, im
selben Umfang verurteilt worden wäre.
bb) Unabhängig davon jedoch, ob aus diesen Gründen eine Verurteilung der
Angeklagten mit der nötigen Sicherheit hätte prognostiziert werden können, scheidet
eine Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 467 Abs.3 Satz 2 Nr.2 StPO aber
jedenfalls aus, weil Umstände, die es unbillig erscheinen lassen, die Staatskasse mit
den Auslagen der Angeklagten zu belasten, nicht bestehen.
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Die von der Strafkammer zu Grunde gelegten Erwägungen tragen die Überbürdung der
notwendigen Auslagen nicht. Denn die erforderlichen Umstände dürfen nicht in der
voraussichtlichen Verurteilung der Angeklagten und der zu Grunde liegenden Tat
gefunden werden. (KK-Franke, a.a.O. § 467 Rdn.10 b m.w.N.; Senat a.a.O.). Gerade
hierauf aber stellt die Strafkammer bei ihrer Begründung der Kosten- und
Auslagenentscheidung ab, indem sie die Entscheidung mit dem "Gewicht der
vorgeworfenen Taten" begründet, "bezüglich derer kein vernünftiger Zweifel an einer
Verurteilung besteht", und auf die "darin zum Ausdruck kommende ganz erhebliche
kriminelle Energie der Angeklagten" verweist, der "ein derart hohes Gewicht"
beikomme, dass es "ausnahmsweise geboten" erscheine, "ohne hinzutretendes
prozessuales Fehlverhalten der Angeklagten ihr nicht lediglich diejenigen notwendigen
Auslagen aufzubürden, die seit Entstehung des Verfahrenshindernisses angefallen
sind".
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Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, dass die Ermessensentscheidung, die
die sicher erscheinende Verurteilung des Betroffenen erst eröffnet, nur in einem
vorwerfbaren prozessualen Verhalten gefunden werden kann (Senat a.a.O.; KK-Franke,
a.a.O. § 467 Rdn.10 b m.w.N.).
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Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft vermag der Senat nicht
festzustellen, dass die Angeklagte ihre eigene Verhandlungsfähigkeit "letztlich selbst
herbeigeführt hat", und ihr deshalb auch nicht unter diesem Gesichtspunkt (des
prozessualen Verschuldens) die Tragung der eigenen notwendigen Auslagen auferlegt
werden kann .
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Bereits in dem amtsärztlichen Gutachten vom 20.Oktober 1999 wurde festgestellt, dass
psychopathologische Störungen zu einer Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten
führten. Zu diesem Zeitpunkt scheidet ein vorwerfbares prozessuales Fehlverhalten
ersichtlich aus, mag auch zugleich festgestellt worden sein, dass der pathologische
Zustand Folge eines nicht ausreichend behandelten arteriellen Bluthochdrucks und
einer nicht ausreichend behandelten Diabetes mellitus war.
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Es lag damit von Anbeginn an ein auf dem Gesundheitszustand der Angeklagten
beruhendes Verfahrenshindernis vor, das in dem zweiten amtsärztlichen Gutachten vom
28. November 2001 lediglich seine Bestätigung fand. Zwar wird in dem nunmehr die
endgültige Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten feststellenden Gutachten
ausgeführt, dass diese Verhandlungsunfähigkeit aufgrund eines dementiellen Syndroms
"in Folge eines langanhaltenden nicht ausreichend gut behandelten Bluthochdrucks
und eines langanhaltenden nicht befriedigend behandelten Blutzuckers" bestehe. In
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dem Gutachten wird aber kein Vorwurf an die Angeklagte gerichtet, der zur Grundlage
einer ihr ungünstigen Auslagenentscheidung gemacht werden könnte. Dort heißt es
vielmehr: "Es zeigt sich, dass nicht wie zunächst im Vorgutachten angenommen
(Hervorhebung durch den Senat), die Störung der kognitiven Fähigkeiten der Frau L. auf
die zum damaligen Zeitpunkt feststellbare Dekompensation der Blutdruck- und
Blutzuckerwerte zurück zu führen ist, sondern dass es sich hierbei um ausgeprägte
Folgeerscheinungen der beiden vorgenannten Erkrankungen handelt. Das dementielle
Syndrom erhält somit einen eigenen hohen Krankheitswert und ist auch durch eine
befriedigende Blutdruck- und Blutzuckereinstellung nicht wesentlich positiv zu
beeinflussen."
Ergänzend sei in diesem Zusammenhang angefügt, dass die Angeklagte auch nicht nur
hat vortragen lassen, sie habe die Bluthochdruck- und Blutzuckererkrankung durchaus
behandeln lassen, sondern dass der Vergleich der Werte in beiden Begutachtungen
auch eine Verbesserung der Werte zeigt. Eine (völlig) unterlassene Behandlung könnte
deshalb auch nicht zur Grundlage einer der Angeklagten ungünstigen
Auslagenentscheidung gemacht werden.
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Damit verbleibt es bei Würdigung aller Umstände bei der Regel des Abs.1 des § 467
StPO, weil das Verfahrenshindernis dem Verfahren von vornherein erkennbar
entgegenstand.
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III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs.1
StPO.
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