Urteil des OLG Köln vom 16.01.2002

OLG Köln: lege artis, diskontsatz, spezialist, fehlbildung, rechtshängigkeit, sicherheitsleistung, vollstreckung, rente, alter, anhörung

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Vorinstanz:
Oberlandesgericht Köln, 5 U 252/98
16.01.2002
Oberlandesgericht Köln
5. Zivilsenat
Urteil
5 U 252/98
Landgericht Köln, 25 O 271/96
Die Berufung der Kläger gegen das am 11. November 1988 verkündete
Urteil der 25. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 25 O 271/96 - wird
zurückgewiesen. Die Kosten des Berufungsverfahrens haben der Kläger
zu 1. zu 74% und die Kläger zu 2. und 3. zu je 13% zu tragen. Das Urteil
ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger zu 1. darf die Vollstreckung gegen
Sicherheitsleistung in Höhe von 14.500,- EUR, die Kläger zu 2. und 3.
gegen Sicherheitsleistung in Höhe von je 2.500,- EUR abwenden, wenn
der Beklagte nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in jeweils gleicher
Höhe leistet. Beiden Parteien wird gestattet, die Sicherheitsleistung auch
durch eine selbstschuldnerische Bürgschaft einer als Zoll- und
Steuerbürgin zugelassenen deutschen Bank zu erbringen.
Tatbestand
Der im ersten Rechtszug mitverklagte Facharzt für Frauenkrankheiten B.A.-H. stellte bei der
damals 38 Jahre alten Klägerin zu 3) am 3. Dezember 1991 eine Schwangerschaft fest. Auf
sein Anraten führte der Beklagte, der eine Schwerpunktpraxis für Pränataldiagnostik und
Humangenetik betreibt und von der Deutschen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin
als Untersuchungszentrum der Stufe 3 eingruppiert ist, zum Ausschluss einer
Chromosomenanomalie am 17. Dezember 1991 eine Chorionzottenbiopsie durch. Das
Ergebnis war unauffällig. Die Klägerin zu 3) wurde in der Folgezeit zunächst weiter von
Herrn A.-H. betreut. Am 21. April 1992 stellte der Beklagte bei einer
Ultraschalluntersuchung eines Wachstumsretardierung der Rumpfmaße des Klägers zu 1)
fest. Folgeuntersuchungen bestätigten diesen Befund. Der Kläger zu 1) wurde am 17. Juli
1992 mit schweren körperlichen Behinderungen geboren. Alle vier Extremitäten sind nur
teilweise entwickelt. Es wurden ferner eine Analatresie und ein Mikropenis festgestellt;
daneben bestand eine Hyperplasie der linken Gesichtshälfte und eine leichte Deformität im
Bereich des Kehlkopfes mit kleiner Epiglottis.
Die Kläger haben behauptet, Ursache für die körperlichen Behinderungen des Klägers zu
1) sei die am 17. Dezember 1991 durchgeführte Chorionzottenbiopsie. Der Beklagte habe
die Biopsie zu früh, nämlich noch zu einem Zeitpunkt, als die Extremitäten des Klägers zu
1) sehr verletzlich gewesen seien, durchgeführt. Über die insoweit bestehenden Risiken
einer Chorionzottenbiopsie habe der Beklagte die Kläger zu 2) und 3) nicht aufgeklärt,
obgleich diese schon zum damaligen Zeitpunkt im medizinischen Schrifttum diskutiert
worden seien. Bei zutreffender Aufklärung hätten sie sich gegen eine Chorionzottenbiopsie
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und für eine Amniozentese entschieden. Sie haben dem Beklagten - und in erster Instanz
auch dem früheren Beklagten zu 2) A.-H. - weiter vorgeworfen, spezielle
Ultraschalluntersuchungen zur Feststellung etwaiger Extremitätenfehlbildungen nach der
Chorionzottenbiopsie fehlerhaft unterlassen zu haben. Die Fehlbildungen wären bei einer
solchen Untersuchung festgestellt worden; die Kläger zu 2) und 3) hätten sich sodann zu
einem Schwangerschaftsabbruch entschlossen.
Die Kläger haben beantragt,
1. den Beklagten zu 1) zu verurteilen, an den Kläger zu 1) wegen der Folgen der am 17.
Dezember 1991 bei der Klägerin zu 3) durchgeführten Chorionbiopsie ein angemessenes
SchM.ensgeld, dessen Höhe in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts gestellt wird,
jedoch mindestens 300.000,- DM, nebst einer monatlichen Rente ab 1. August 1992 in
Höhe von 500,- DM, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 2,5% über dem jeweiligen
Diskontsatz der Deutschen Bundesbank, mindestens jedoch 6% Zinsen seit
Rechtshängigkeit;
1. festzustellen, dass der Beklagte zu 1) verpflichtet ist, dem Kläger zu 1) für
Vergangenheit und Zukunft allen materiellen Schaden zu ersetzen, den dieser erlitten hat
oder erleiden wird, als Folge der am 17. Dezember 1991 bei seiner Mutter durchgeführten
Chorionbiopsie, soweit diese Ansprüche nicht auf öffentlich-rechtliche Versicherungsträger
oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden;
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Kläger zu 2) und 3) 28.050,-
DM nebst Zinsen in Höhe von 2,5% über dem jeweiligen Diskontsatz der Deutschen
Bundesbank, mindestens jedoch 6% seit Rechtshängigkeit zu zahlen, sowie ab 1. Juli
1996 monatlich im voraus jeweils 698,- DM zu zahlen, nebst Zinsen in Höhe von 2,5% über
dem jeweiligen Diskontsatz der Deutschen Bundesbank, mindestens jedoch 6% auf jeden
bisher nicht gezahlten Monatsbetrag seit Fälligkeit;
1. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, den Klägern
zu 2) und 3) darüber hinaus allen Schaden bzw. alle Kosten zu ersetzen, die sie als Folge
der Existenz des Klägers zu 1) erlitten haben bzw. erleiden werden, unter Anrechnung der
Beträge, die seitens des Beklagten zu 1) auf materiellen Schaden des Klägers zu 1)
gezahlt worden sind oder gezahlt werden und mit diesem Schaden oder Kostenposten
identisch sind, soweit diese Ansprüche nicht auf öffentlich-rechtliche Versicherungsträger
oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden;
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 2.544,45 DM nebst Zinsen in
Höhe von 2,5% über dem jeweiligen Diskontsatz der Deutschen Bundesbank, mindestens
jedoch 6% seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Beklagte hat - ebenso wie der frühere Beklagte zu 2) - beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat behauptet, zum Zeitpunkt der Vornahme der Chorionzottenbiopsie am 17.
Dezember 1991 hätten noch keine Erkenntnisse über ein erhöhtes Risiko von
Extremitätenfehlbildung bei Durchführung des Eingriffs in der 10. Schwangerschaftswoche
vorgelegen. Folglich habe er über ein solches Risiko auch nicht aufklären müssen. Im
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übrigen habe er sämtliche Untersuchungen lege artis vorgenommen; zu weitergehenden
Ultraschalluntersuchungen habe keine Veranlassung bestanden.
Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens mit
Urteil vom 11. November 1998 abgewiesen. Die Klage des Klägers zu 1) könne keinen
Erfolg haben, weil die Chorionzottenbiopsie die Extemitätenfehlbildungen nicht verursacht
habe. Das beim Kläger vorliegende komplexe Fehlbildungssyndrom entspreche nicht dem
Bild einer Schädigung, wie es als Folge einer Chorionzottenbiopsie zu erwarten sei. Im
übrigen hätten zwischen zeitlich durchgeführte Multicenterstudien kein erhöhtes Risiko von
Extremitätenfehlbildungen nach einer Chorionzottenbiopsie ergeben. Dem Beklagten zu 1)
sei auch im übrigen kein Behandlungsfehler anzulasten. Insbesondere habe kein objektiver
Anlass bestanden, eine eingehende, gezielt auf eventuelle Fehlbildungen gerichtete
Ultraschalluntersuchung vorzunehmen; alle vor dem 16. April 1992 erfolgten
Untersuchungen hätte keinen Hinweis auf eine Fehlbildung ergeben. Auch die
Chorionzottenbiopsie als solche hätten den Beklagten nicht veranlassen müssen, eine
solche Ultraschalluntersuchung durchzuführen, denn zum damaligen Zeitpunkt hätten
keine sicheren Erkenntnisse über einen Zusammenhang zwischen Chorionzottenbiopsie
und Extremitätenfehlbildungen vorgelegen.
Gegen dieses ihnen am 27. November 1998 zugestellte Urteil haben die Kläger am 28.
Dezember 1998, einem Montag, Berufung eingelegt und das Rechtsmittel mit einem am 7.
April 1999 eingegangenen Schriftsatz begründet, nachdem die Berufungsbegründungsfrist
bis zu diesem Tag verlängert worden war. Die Berufung richtet sich nur gegen die
Abweisung der gegen den Beklagten zu 1) gerichteten Klage.
Mit der Berufung werfen die Kläger dem Beklagten weiterhin vor, nicht über das - nach ihrer
Behauptung bestehende - erhöhte Risiko von Fehlbildungen bei der Durchführung einer
Chorionzottenbiopsie aufgeklärt zu haben. Sie sind der Auffassung, angesichts des
Diskussionsstandes Ende 1991 in der im wesentlichen ausländischen Literatur, die der
Beklagte als Spezialist auf dem Gebiet der Pränataldiagnostik habe kennen müssen, habe
eine Aufklärung erfolgen müssen. Beginnend mit einem Aufsatz von F. u.a., der im März
1991 in der Zeitschrift "T. L." erschienen sei, seien in der medizinischen Literatur zahlreiche
Berichte - u.a. etwa von Mastroiacovo und Cavalcanti 1991, von Hsiem et al. 1991 -
aufgetaucht, in denen die Vermutung geäußert worden sei, dass es aufgrund von
Chorionzottenbiopsien zu Extremitätenfehlbildungen kommen könne. Hätte der Beklagte
sie über dieses Risiko aufgeklärt, hätten sie stattdessen eine Fruchtwasseruntersuchung
vornehmen lassen, um chromosomale Störungen auszuschließen. Die Schädigung des
Klägers zu 1) sei auch auf die vom Beklagten durchgeführte Chorionzottenbiopsie
zurückzuführen. Die Biopsie sei vorliegend zu einem sehr frühern Zeitpunkt vorgenommen
worden, nämlich am 47. Schwangerschaftstag gerechnet ab Konzeption. Ausgehend von
diesem biologischen Alter sei die Chorionzottenbiopsie zu einem Zeitpunkt durchgeführt
worden, zu der sie eine Gliedmaßenschädigung habe auslösen können. Für die anderen
Schädigungen des Klägers zu 1) gebe es plausible Erklärungen: Die Analatresie sei
dadurch verursacht worden, dass die Chorionzottenbiopsie besonders unvorsichtig
vorgenommen worden sei; die Hypoplasie der linken Gesichtshälfte sei durch einen
Druckschaden zu erklären; der Mikropenis könne - ebenso wie ggf. auch die Analatresie -
auf eine Minderdurchblutung der zur Zeit der Durchführung der Chorionzottenbiopsie in der
Bildung befindlichen Strukturen zurückzuführen sein. Eine Roberts-Syndrom liege
jedenfalls entgegen der Meinung des erstinstanzlich herangezogenen Sachverständigen
Prof. Dr. S. nicht vor. Der ihnen, den Klägern, obliegende Beweis des
Kausalzusammenhangs zwischen Chorionzottenbiopsie und den Fehlbildungen des
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Klägers könne mit der Eliminationsmethode geführt werden, denn alle anderen denkbaren
Ursachen für die Schädigung des Klägers könnten sicher ausgeschlossen werden. Es
liege weder eine genetische noch eine chromosomale Störung vor. Für schädigende
äußere Einflüsse gebe es keine Anhaltspunkte. Danach bestehe zumindest der
Anscheinsbeweis, dass die vom Beklagten vorgenommene Chorionzottenbiopsie die
Schädigungen des Klägers zu 1) verursacht hätten.
Dem Beklagten sei ferner zur Last zu legen, dass er vor der 24. Schwangerschaftswoche
keine Ultraschalluntersuchung, mit der gezielt nach eventuellen Fehlbildungen hätten
gesucht werden müssen, veranlasst habe. Dies sei in der medizinischen Literatur zum
damaligen Zeitpunkt - etwa in dem bereits zitierten Aufsatz von Hsieh u.a. - mit Nachdruck
empfohlen worden und habe einer weithin vertretenen Auffassung entsprochen, nachdem
bekannt geworden sei, dass es infolge der Durchführung einer Chorionzottenbiopsie zu
Gliedmaßenfehlbildungen kommen könne. Wäre eine solche Untersuchung vorgenommen
worden, wären die Fehlbildungen mit Sicherheit entdeckt worden. Die Kläger zu 2) und 3)
hätten sich in diesem Fall für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden.
Die Kläger beantragen,
unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu 1) nach den in
erster Instanz gestellten Klageanträgen zu verurteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil mit Sach- und Rechtsausführungen.
Wegen aller weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf Tatbestand und
Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils sowie auf die Schriftsätze der Parteien
nebst Anlagen Bezug genommen.
Der Senat hat gemäß dem Beschluss vom 16. Juni 1999 (Bl. 362 ff. d.A). Beweis erhoben.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des
Sachverständigen Prof. Dr. M. vom 18. Juni 2001 (Bl. 395-430 d.A.) sowie auf das Protokoll
der Sitzung vom 19. November 2001 (Bl. 494-504 d.A.) verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Kläger bleibt in der Sache ohne Erfolg.
1. Der Beklagte haftet nicht wegen unzureichender Aufklärung über das mögliche Risiko
von Gliedmaßenfehlbildungen bei Durchführung einer Chorionzottenbiopsie. Grundsätzlich
ist ein Arzt nur verpflichtet, über solche Risiken aufzuklären, die nach dem medizinischen
Erfahrungsstand im Zeitpunkt der Behandlung bekannt sind (BGH NJW 1990, 1528 und
NJW 1996, 776, 777). Soweit allerdings Behandlungsalternativen zur Verfügung stehen,
muss die wissenschaftliche Diskussion über bestimmte Risiken einer Behandlung noch
nicht abgeschlossen sein und zu allgemein akzeptierten Ergebnissen geführt haben. In
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einem solchen Fall genügt es vielmehr, dass ernsthafte Stimmen in der medizinischen
Wissenschaft auf bestimmte, mit einer Behandlung verbundene Gefahren hingewiesen
haben, die nicht lediglich als unbeachtliche Außenseitermethoden abgetan werden
können, sondern als gewichtige Warnungen angesehen werden müssen (BGH NJW 1996,
776, 777). Ob diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall - in dem als denkbare
Behandlungsalternative eine Fruchtwasseruntersuchung in Betracht gekommen wäre -
gegeben sind, mag mit Rücksicht darauf, dass die wissenschaftliche Diskussion über
mögliche Risiken bei einer Chorionzottenbiopsie im Jahr 1991 gerade erst begonnen hatte
und sich zudem wissenschaftliche Äußerungen zunächst nur im ausländischen Schrifttum
fanden, nicht ganz zweifelsfrei sein. Die damit verbundenen Fragen - insbesondere, ob der
Beklagte verpflichtet gewesen wäre, als Spezialist für pränatale Diagnostik die bereits 1991
veröffentlichten Publikationen zur Kenntnis zu nehmen - bedürften jedoch im vorliegenden
Fall keiner abschließenden Beantwortung. Selbst wenn man zugunsten der Kläger
unterstellt, der Beklagte sei zu einer entsprechenden Risikoaufklärung gehalten gewesen,
scheitert eine Haftung daran, dass nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zur
Überzeugung des Senats feststeht, dass die Chorionzottenbiopsie die Schädigungen des
Klägers zu 1) verursacht hat.
1. Der Sachverständige Prof. Dr. M. hat - insoweit in Übereinstimmung mit dem
erstinstanzlich herangezogenen Sachverständigen Prof. Dr. S. - dargelegt, dass auch nach
heutigem Wissensstand ein sicherer Zusammenhang zwischen einer Chorionzottenbiopsie
und Extremitätenfehlbildungen nicht nachgewiesen ist. Zwar liegen inzwischen
Erkenntnisse vor, wonach Biopsien zu thrombotischen Vorgängen führen können, die
Fehlbildungen des Föten verursachen. Ein wissenschaftlich gesicherter Schluss, dass
Extremitätenfehlbildungen stets auf eine durchgeführte Chorionzottenbiopsie zurückgeführt
werden können, kann jedoch nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Forschung
nicht gezogen werden. Das hat der Sachverständige Prof. Dr. M., der ein anerkannter
Spezialist auf dem Gebiet pränataler Extremitätenfehlbildungen ist, auch auf Vorhalt der
Kläger klar und eindeutig unter Auswertung der medizinischen Fachliteratur und der
insoweit vorliegenden Multicenter-Studien bestätigt. Der Senat folgt dieser nachvollziehbar
und überzeugend begründeten Auffassung des Sachverständigen Prof. Dr. M..
Zwar ist mittlerweile bekannt, dass sich das Risiko einer Extremitätenfehlbildung deutlich
erhöht, wenn die Chorionzottenbiopsie bis zum 57. Schwangerschaftstag vorgenommen
wird, so dass heute die allgemeine Empfehlung gilt, Chorionzottenbiopsien nicht mehr vor
der 10. Schwangerschaftswoche durchzuführen. Insoweit kann es als gesichert angesehen
werden, dass bei Durchführung einer Chorionzottenbiopsie vor dem 57.
Schwangerschaftstag ein signifikant größeres Risiko einer Extremitätenfehlbildung besteht.
Abgesehen davon, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. M. damit
ein sicherer Zusammenhang zwischen Gliedmaßenfehlbildung und Chorionzottenbiopsie
noch nicht feststeht, sprechen im vorliegenden Fall weitere Umstände gegen einen solchen
Zusammenhang. Nach den Feststellungen des Sachverständigen ist - mit allen
Unwägbarkeiten der Berechnung - davon auszugehen, dass die Chorionzottenbiopsie
beim Kläger am 64. Schwangerschaftstag nach der letzten Periode vorgenommen worden
ist. Damit ist die Chorionzottenbiopsie - je nachdem, ob man die kritische Grenze mit dem
57. Schwangerschaftstag (so der Sachverständige Prof. Dr. M.) oder mit dem 63
Schwangerschaftstag (so in einer Untersuchung von F. aus dem Jahr 1997) ansetzt - auch
unter Berücksichtigung des Umstandes, dass das genaue Alter des Föten nie exakt
bestimmt werden kann, wenn nicht außerhalb, so doch jedenfalls am Ende des als kritisch
angesehenen Zeitraums vorgenommen worden. Das Fehlbildungsrisiko ist nach den
Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. M. hingegen umso größer, je früher die
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Chorionzottenbiopsie durchgeführt wird. Hinzu kommt, dass beim Kläger zu 1) vor allem
massive Fehlbildungen der unteren Extremitäten vorliegen, die nach den Ausführungen
von Prof. Dr. M. klar dafür sprechen, dass die Störung, die zu dieser Fehlbildung geführt
hat, deutlich vor dem Ende der kritischen Zeitspanne gelegen haben muss.
Vor allem aber ist nach den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen Prof.
Dr. M. gegen einen Zusammenhang anzuführen, dass beim Kläger zu 1) keine isolierten
Defekte der Extremitäten - wie sie bei Schädigungen durch Chorionzottenbiopsie zu
erwarten wären - aufgetreten sind, sondern eine Kombination von Fehlbildungen. Das
Gesamtbild der Schädigung des Klägers zu 1) passt somit nicht in ein exaktes Muster und
insbesondere nicht zu den typischen Störungen, die widerspruchsfrei mit einer
Chorionzottenbiopsie erklärt werden könnten. Insbesondere die Hypoplasie der linken
Gesichtshälfte, der Mikropenis mit Palmure sowie die Epiglottis sind nicht als denkbare
Folgen einer Chorionzottenbiopsie beschrieben. Sichere Feststellungen, welche genaue
Ursache die Fehlbildungen des Klägers haben, sind nicht möglich. Der Sachverständige
hat bei seiner mündlichen Anhörung zwar versucht, mögliche Ursachen aufzuzeigen;
letztlich jedoch lassen sich die Schädigungen des Klägers zu 1) keinem bekannten
Syndrombild zuordnen. Sie passen zwar nach den Ausführungen von Prof. Dr. M. am
ehesten in die Fallgruppe der oro-fazio-digitalen Syndrome, zu denen auch Fehlbildungen
der Extremitäten gehören. Die Ursache für das Auftreten derartiger Syndrome ist aber bis
heute weitgehend ungeklärt. Das geht zu Lasten der Kläger, die dafür, dass es gerade die
Chorionzottenbiopsie war, die zu den Fehlbildungen geführt hat, in vollem Umfang
darlegungs- und beweispflichtig sind.
Zu einer weiteren Sachaufklärung sieht der Senat keine Veranlassung. Die Feststellungen
von Prof. Dr. M. sind überzeugend und werden zusätzlich durch die Feststellungen von
Prof. Dr. S., dem erstinstanzlich herangezogenen Sachverständigen, gestützt. Auch die
Ausführungen der Kläger im Schriftsatz vom 10. Dezember 2001 sind nicht geeignet, erneut
in die Beweisaufnahme einzutreten. Die Fragen des Kausalzusammenhangs sind bei der
mündlichen Anhörung des Sachverständigen eingehend unter Auswertung der
einschlägigen Fachliteratur erörtert worden. Sichere Erkenntnisse haben sich daraus
zugunsten der Kläger nicht ergeben. Damit muss es sein Bewenden haben.
1. Auch mit dem Vorwurf, der Beklagte habe nach der Durchführung der
Chorionzottenbiopsie vor der 24. Schwangerschaftswoche eine gezielt auf mögliche
Extremitätenfehlbildungen abstellende Ultraschalluntersuchung vornehmen oder jedenfalls
zu ihr raten müssen, dringen die Kläger nicht durch. Eine solche Behandlung schuldete der
Beklagte nicht, weil sie nicht dem damals bestehenden medizinischen Standard
entsprochen hat. Das haben sowohl der Sachverständige Prof. Dr. M. als auch der
Sachverständige Prof. Dr. S. klar und eindeutig ausgeführt. Ein solcher Standard besteht
selbst heute nicht. Im Anschluss an eine Chorionzottenbiopsie wurde und wird lediglich
eine ganz normale Ultraschalluntersuchung durchgeführt, die sich auf Kopf und Beine
beschränkt. Eine spezielle Fehlbildungs-Ultraschalluntersuchung, wie sie die Kläger
vorliegend verlangen, wird auch nach heutigem medizinischen Standard nur dann
vorgenommen, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlbildung - etwa aufgrund einer
familiären Vorgeschichte - vorliegen. Solche Anhaltspunkte waren indes im Falle des
Klägers zu 1) nicht gegeben. Auch aus anderen Gründen war eine eingehendere
Ultraschalluntersuchung des Klägers zu 1) nicht angezeigt. Das hat das Landgericht unter
Bezugnahme auf die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. S. überzeugend
ausgeführt; die Kläger sind darauf im Berufungsrechtszug nicht zurückgekommen.
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Nach allem kann die Berufung der Kläger keinen Erfolg haben.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Berufungsstreitwert:
Klageantrag zu 1.
a) SchM.ensgeld 300.000,00 DM
b) Rentenrückstand (§ 17 Abs. 4 GKG) 24.000,00 DM
c) Rente (§ 17 Abs. 2 GKG) 30.000,00 DM
Klageantrag zu 2. 100.000,00 DM
Klageantrag zu 3.
a) Unterhaltsrückstand 28.050,00 DM
b) Unterhalt (§ 9 ZPO; BGH, VersR 1981, 481) 29.316,00 DM
Klageantrag zu 4. 100.000,00 DM
Klageantrag zu 5. 2.544,45 DM
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613.910,45 DM
Wert der Beschwer der Kläger: über 60.000,- DM