Urteil des OLG Köln vom 27.09.1995

OLG Köln (kläger, wirtschaftliches interesse, behauptung, agent, zpo, versicherer, essen, vvg, umstände, beweislast)

Oberlandesgericht Köln, 5 U 146/94
Datum:
27.09.1995
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 U 146/94
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 22 O 652/92
Schlagworte:
Beweislastverteilung Anwaltsregreßprozeß
Normen:
BGB § 675
Leitsätze:
Behauptet der früher für den Kläger zweitinstanzlich tätig gewesene RA
im Rahmen eines gegen ihn gerichteten Regreßprozesses, der
Auftraggeber habe ihm in Abweichung vom früheren erstinstanzlichen
Vortrag eine für die Beurteilung der Rechtslage entscheidende
Sachverhaltsänderung mitgeteilt, die weder in einem zeitnah gefertigten
Aktenvermerk noch sonstwie niedergelegt ist, trägt er dafür die
Beweislast.
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird das am 18. November 1993
verkündete Urteil der 22. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 22 O
652/92 - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels
teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefaßt: Die Beklagten
werden verurteilt, an den Klä-ger als Gesamtschuldner 20.637,25 DM
nebst 4 % Zinsen aus 15.080,00 DM seit dem 31. März 1988 sowie 4 %
Zinsen aus 5.557,25 DM seit dem 12. Februar 1993 zu zahlen. Die
Kosten des Rechtsstreits beider Rechtszüge tragen der Kläger zu 37 %
und die Beklagten zu 63 % als Gesamtschuldner. Das Urteil ist vorläufig
vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Die nach §§ 511, 511 a ZPO statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und
begründet worden (§§ 516, 518, 519 ZPO) und damit zulässig. In der Sache ist sie
teilweise gerechtfertigt.
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Die Beklagten haften dem Kläger aus dem Gesichtspunkt der schuldhaften
Vertragsverletzung des Anwaltsvertrages auf Ersatz des ihm dadurch entstandenen
Schadens.
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Nach feststehender Rechtsprechung (vgl. BGHR § 675 Stichwort Rechtsanwalt 7) ist der
um Beratung ersuchte Rechtsanwalt zu einer umfassenden und möglichst
erschöpfenden Belehrung verpflichtet, wobei sich Inhalt und Umfang nach dem
Gegenstand des Auftrags richten. Im Streitfall war der Beklagte zu 2) beauftragt, die
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Erfolgsaussicht der von ihm weisungsgemäß fristwahrend eingelegten Berufung zu
prüfen, dem Kläger das Prüfergebnis mitzuteilen und, dessen Entschließung folgend,
das Rechtsmittel entweder zurückzunehmen oder durchzuführen. Er war demgemäß
verpflichtet, die Erfolgsaussicht der Berufung unter Berücksichtigung der neuesten
höchstrichterlichen Rechtsprechung unter Zugrundelegung des erstinstanzlichen
Prozeßstoffs und erforderlichenfalls zu erfragenden Sachverhaltsergänzungen zu
prüfen. Ferner war zu prüfen, ob hinreichende Aussicht bestand, die Behauptungen des
Auftragsgebers mit den vorhandenen Beweismitteln zu beweisen, wobei freilich die
Beweislast zu berücksichtigen war.
Der Kläger macht mit Recht geltend, daß der Beklagte zu 2), für dessen Fehlverhalten
sämtliche Mitglieder der Anwaltssozietät als Gesamtschuldner gemäß §§ 420 ff BGB
haften, die Erfolgsaussicht gegen das im Rechtsstreit 25 O 153/88 LG Köln am 13. Juli
1989 ergangene Urteil eingelegten Berufung zu Unrecht verneint hat und der darauf
basierende Rat, die Berufung zurückzunehmen, fehlerhaft war.
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Auf der Grundlage des vom Kläger in jenem Prozeß vorgetragenen Sachverhalts war
die Berufung durchaus erfolgversprechend. Entgegen der Annahme des Landgerichts
war es nämlich keineswegs sicher, daß der damals beklagte Versicherer den
Vertragsabschluß gemäß §§ 22, 16 VVG wirksam angefochten hatte. Nach der unter
Zeugenbeweis gestellten Behauptung des Klägers fehlte es nämlich an einer
Täuschung über gefahrerhebliche Umstände, weil er dem den Antrag aufnehmenden
Agenten angeblich sämtliche Vorerkrankungen auch wahrheitsgemäß mitgeteilt hatte.
Da die Kenntnisse und das Wissen des Agenten unmittelbar dem Versicherer
zuzurechnen sind (vgl. BGH VersR 1988, 234), kam es nicht darauf an, ob der Agent
seine Kenntnisse an den für die Antragsannahme zuständigen Sachbearbeiter des
Versicherers weiterleitete oder nicht, so daß es auch unerheblich sein mußte, daß der
Kläger bei der Unterzeichnung des Antragsformulars erkannte, daß der Agent die
Angaben über Vorerkrankungen und Sanatoriumsaufenthalte unrechtigerweise mit
"Nein" beantwortet hatte. Die Grenzen der Kenntniszurechnung setzen erst bei
kollusivem Zusammenwirken des Antragstellers mit dem Agenten zum Nachteil des
Versicherers ein. Davon konnte aber weder nach dem Vortrag des Klägers noch der
damaligen Beklagten, die im übrigen dafür beweisbelastet ist, die Rede sein, denn der
Kläger hatte auf die angebliche Auskunft des Agenten, die Vorerkrankungen seien nicht
anzeigepflichtig, vertraut und nicht etwa im Bewußtsein der Anzeigepflicht und im
Einvernehmen mit dem Agenten gewollt und gebilligt, daß die Gefahrumstände im
Antragsformular nicht erwähnt wurden (vgl. dazu Senat Recht und Schaden 1991, 320).
Auch ein Rücktrittsrecht, das im übrigen den Anspruch auf das Krankentagegeld für die
Behandlung des depressiven Syndroms gemäß § 21 VVG unberührt gelassen hätte,
kam danach mangels einer Anzeigepflichtverletzung im Sinne von §§ 16, 17 VVG nicht
in Betracht.
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Ob der Beklagte zu 2) unter dem Gesichtspunkt kollusiven Zusammenwirkens die
Erfolgsaussicht der Berufung berechtigterweise anders - nämlich wie geschehen
negativ - hätte beurteilen dürfen, wenn dem Kläger damals "völlig klar und bewußt
gewesen wäre, daß der Versicherer bei wahrheitsgemäßer Beantwortung der
Gesundheitsfragen im Antragsformular den Antrag auf keinen Fall angenommen hätte",
kann offen bleiben. Der Senat kann nicht feststellen, daß der Kläger bei Antragstellung
davon ausgegangen ist, wie die Beklagten behaupten. Er hat sowohl im Verfahren 25 O
153/88 LG Köln als auch im anschließend gegen den Agenten geführten Prozeß vor
dem Landgericht Essen und dem Oberlandesgericht Hamm (12 O 124/91 LG Essen; 20
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O 382/91 OLG Hamm) stets vortragen lassen, daß er der Erklärung des Agenten, die
jenem mitgeteilten Vorerkrankungen brauchten nicht angegeben zu werden, weil sie
unerheblich seien, geglaubt habe. Er habe zwar zunächst damit gerechnet, daß der zu
schließende Versicherungsvertrag möglicherweise entsprechend den Vorerkrankungen
"angepaßt" werden könnte; der Agent habe aber abgewiegelt und erklärt, die
Vorerkrankungen seien unerheblich.
Es ist auch nicht bewiesen, daß der Kläger dem Beklagten zu 2) auf Rückfrage erklärt
hat, er sei sich "völlig klar und bewußt gewesen", daß der Versicherungsvertrag bei
Angabe der Vorerkrankungen nicht zustandegekommen sein würde. Der Kläger hat dies
bei seiner Parteivernehmung vor dem Senat in Abrede gestellt. Angesichts aller
Umstände vermag der Senat die anders lautenden Bekundungen des Beklagten zu 2)
seiner Entscheidung nicht zugrundezulegen. Zwar hat der Senat an der persönlichen
Lauterkeit des Beklagten zu 2) keine Zweifel; es erscheint aber nicht ausgeschlossen,
daß er sich in diesem Punkt irrt, nachdem der Vorgang um einige Jahre zurückliegt.
Dafür spricht, daß er in seinem Schriftsatz vom 7. November 1989 an die Rechtsanwälte
L. und G. in H. selbst angegeben hat, die Unterredung mit dem Kläger habe keine neuen
Gesichtspunkte ergeben. Das kann nur dahin verstanden werden, daß das
erstinstanzliche Vorbringen des Klägers unverändert geblieben ist. Es hätte aber
nahegelegen, in diesem Schreiben den "neuen Gesichtspunkt" niederzulegen, weil es
hierauf für die Beurteilung der Rechtslage entscheidend ankommt. Der Beklagte zu 2) ist
hierauf indessen mit keinem Wort eingegangen.
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Bei dieser Sachlage kann der Kläger nicht darauf verwiesen werden, daß es seine
Sache sei, die Behauptung der Beklagten zu widerlegen. Der Senat ist zwar der
Auffassung, daß ein Kläger für seine Behauptung, der beauftragte Rechtsanwalt habe
ihn unrichtig belehrt oder aufgeklärt, die Beweislast trägt, auch wenn ihm damit der
Beweis einer negativen Tatsache aufgebürdet wird (vgl. auch BGH NJW 1986, 2570).
Dies gilt aber uneingeschränkt nur, wenn der Rechtsanwalt eine bestimmte Belehrung
oder Aufklärung behauptet oder bestreitet, daß ihm ein bestimmter Sachverhalt mitgeteilt
worden ist. Behauptet er hingegen im Rahmen eines gegen ihn gerichteten
Schadensersatzprozesses, der Auftraggeber habe ihm in Abweichung von seinem
früheren Vortrag eine für die Beurteilung der Rechtslage entscheidende Änderung des
Sachverhalts mitgeteilt, die weder in einem zeitnah gefertigten Aktenvermerk noch
einem sonstigen Schriftstück seinen Niederschlag gefunden hat, muß er diese
Änderung beweisen. Andernfalls würde der Kläger in eine ausweglose Lage gedrängt.
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Der nach allem dem Beklagten zu 2) anzulastende Beratungsfehler ist auch vorwerfbar.
Die Änderung der Rechtsprechung des BGH zur Kenntnis- und Wissenszurechnung der
dem Vermittlungsagenten mitgeteilten Gefahrumstände ist seit der Veröffentlichung der
entsprechenden Urteile in NJW 88, 973 und 89, 2060 als bekannt vorauszusetzen. Die
mangelnde Kenntnisnahme hiervon ist vorwerfbar.
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Durch die Berufungsrücknahme ist dem Kläger auch ein Vermögensschaden
entstanden. Er ist dadurch nämlich seines Anspruchs auf Versicherungsleistungen aus
der Krankentagegeldversicherung in Höhe von 15.080,00 DM verlustig gegangen, ferner
sind ihm die Prozeßkosten auferlegt worden, beides Vermögensnachteile, die nicht
eingetreten wären, wenn die Berufung durchgeführt worden wäre.
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Der Anspruch auf die Versicherungsleistungen beruht auf dem wirksam
zustandegekommenen Krankentagegeldversicherungsvertrag. Der Versicherungsfall
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war auch eingetreten, denn der Kläger war in der Zeit vom 21. Juli 1987 bis 11.
September 1988 wegen eines depressiven Syndroms arbeitsunfähig erkrankt, wie sich
aus der Bescheinigung der Bundesknappschaft vom 14. Oktober 1988 ergibt (vgl. Bl. 68
d.A. 25 O 153/88 LG Köln), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war. Der
Kläger hat auch bewiesen, daß dieser Anspruch nicht infolge Arglistanfechtung
und/oder Rücktritt des Versicherers untergegangen ist. Nach dem Ergebnis der
Vernehmung der Zeugen W., J. und O. kann nicht festgestellt werden, daß der Kläger
bei Antragsaufnahme dem Agenten O. gefahrerhebliche Umstände verschwiegen oder
mit jenem kollusiv zum Nachteil des Versicherers zusammengewirkt hat. Die Zeugen W.
und J. haben den Klägervortrag bestätigt. O. hat dagegen bestritten, daß der Kläger die
in Rede stehenden Gesundheitsfragen wahrheitsgemäß beantwortet hat. Der Senat
vermag nicht festzustellen, welcher Zeuge die Unwahrheit gesagt hat. Gegen die Zeugin
W. spricht, daß sie als Ehefrau des Klägers ein persönliches und wirtschaftliches
Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat; für die Richtigkeit ihrer Aussage spricht die
Übereinstimmung mit den Angaben des Zeugen J., der als Außenstehender am
Ausgang des Rechtsstreits eher uninteressiert ist. Seine Aussage ist auch in sich
stimmig und plausibel. Letzteres gilt zwar auch für die Angaben des Zeugen O., der
freilich als Agent des Versicherers eher in dessen Lager steht. Mangels weiterer
Anhaltspunkte ist von einem non liquet auszugehen.
Dieses Ergebnis geht zu Lasten des Versicherers, der die tatsächlichen
Voraussetzungen der Arglistanfechtung und des Rücktritts zu beweisen hat. Dieser
Beweis ist nicht schon deshalb erbracht, weil der Kläger das unrichtig ausgefüllte
Antragsformular wissentlich unterzeichnet hat. Der BGH hat klargestellt, daß mit der
Vorlage des vom Agenten ausgefüllten und dem Antragsteller unterschriebenen
Formular allein nicht bewiesen ist, daß der Versicherungsnehmer entgegen seiner
substantiierten Behauptung den Agenten nicht mündlich zutreffend unterrichtet hat (BGH
NJW 1989, 2061).
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Schließlich bleibt darauf hinzuweisen, daß eine relevante Obliegenheitsverletzung des
Klägers auch nicht darin zu sehen ist, daß er nach Angaben der Zeugen W. und J. dem
Agenten nur "Rückenbeschwerden" angegeben hat, derentwegen er eine Kur absolviert
habe, statt die Beschwerden genauer zu substantiieren ("Bandscheibenerkrankung").
Dem Versicherer steht nämlich weder ein Anfechtungs- noch ein Rücktrittsrecht zu,
wenn er im Rahmen der Risikoprüfung Rückfragen unterläßt, die wegen unpräziser oder
unzulänglicher Angaben des Versicherungsnehmers geboten gewesen wären (vgl.
BGH VersR 1992, 603). Dies gilt auch, wenn die unzulänglichen Angaben (nur)
gegenüber dem Agenten erfolgt sind (vgl. BGH VersR 1993, 871). So liegt es hier.
Rückenbeschwerden, die Veranlassung zu einer Kurbehandlung gegeben haben,
können auf ernsthafte Wirbelsäulenerkrankungen hindeuten und müssen Anlaß zu
eingehender Risikoprüfung einschließlich der gebotenen Rückfragen geben.
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Aus den vorstehenden Ausführungen folgt ohne weiteres, daß der Kläger - abgesehen
von den von ihm veranlaßten Säumniskosten - bei Durchführung der Berufung auch
nicht mit den Prozeßkosten belastet worden wäre (§ 91 ZPO). Somit haben die
Beklagten als weiteren Schadensposten auch diese Kosten zu erstatten
(erstinstanzliche Kosten: 4.284,20 DM, davon 2 x 1.698,60 DM Rechtsanwaltskosten
zuzüglich 887,00 DM Gerichtskosten + 1.273,05 DM zweitinstanzliche Kosten, davon
153,00 DM Gerichtskosten, insgesamt 5.557,25 DM).
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Dieser Anspruch ist zwar zunächst auf den Rechtsschutzversicherer des Klägers
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übergegangen; infolge Abtretung ist der Kläger aber wieder Anspruchsinhaber
geworden.
Der Zinsanspruch ist aus dem Gesichtspunkt des Verzugs gerechtfertigt.
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Die Kosten des erfolglos gegen den Agenten O. vor dem Landgericht Essen und
Oberlandesgericht Hamm geführten Prozesses kann der Kläger allerdings nicht ersetzt
verlangen. Insoweit fehlt es am notwendigen Zurechnungszusammenhang zwischen
der Pflichtverletzung des Beklagten zu 2) und der späteren Prozeßführung. Der Prozeß
gegen den Agenten ist weder vom Beklagten zu 2) veranlaßt worden noch diente er zur
Beseitigung eines durch die Pflichtverletzung des Beklagten entstandenen oder zu
befürchtenden Schadens. Er beruhte vielmehr auf der eigenverantwortlichen
Entschließung des Klägers, die von der anwaltlichen Beratung seines damaligen
erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten getragen war. Dafür haben die Beklagten
nicht einzustehen.
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Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92, 708 Nr. 10, 713 ZPO.
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Wert der Beschwer: für sämtliche Parteien unter 60.000,00 DM.
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