Urteil des OLG Köln vom 16.06.1999
OLG Köln: geburt, geistige behinderung, behandlungsfehler, ärztliche behandlung, verfügung, diabetes, befund, dokumentation, kausalität, zustand
Oberlandesgericht Köln, 5 U 164/95
Datum:
16.06.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 U 164/95
Vorinstanz:
Landgericht Aachen, 9 O 572/89
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 7.7.1995 verkündete Grund-
und Teilurteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Aachen -9 O 572/89-
abgeändert und die Klage des Klägers zu 2) abgewiesen. Die
Anschlussberufung des Klägers zu 2) wird zurückgewiesen. Die Kosten
des Rechtsstreits beider Instanzen trägt der Kläger zu 2) mit Ausnahme
der Kosten des am 10.11.1997 zwischen dem Kläger zu 1) und dem
Beklagten geschlossenen Vergleichs und den außergerichtlichen
Kosten des vormaligen Klägers zu 1), deren Verteilung in jenem
Vergleich geregelt worden sind. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Dem Kläger zu 2) wird nachgelassen, die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe von 33.000,-- DM abzuwenden, falls nicht
die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Die Beklagten dürfen eine etwaige Sicherheitsleistung auch in Form
einer ordnungsgemäßen Bankbürgschaft erbringen.
T a t b e s t a n d :
1
Der am 17.10.1972 geborene vormalige Kläger zu 1) ist das eheliche Kind der Eheleute
J. und S. B.. Für die damals 22 Jahre alte Mutter des Klägers zu 1), die von Beruf
Arzthelferin ist, handelte es sich um ihre erste Schwangerschaft. Am 3.10.1972 begab
sie sich zur Untersuchung in das St. E.-Krankenhaus in G., dessen Träger die Beklagte
zu 1) ist. Der Beklagte zu 2), der dort als Chefarzt der geburtshilflichen gynäkologischen
Abteilung tätig war, ordnete aufgrund der Familienanamnese (die Großmutter der
Schwangeren litt an Diabetes) einen Glukose-Toleranztest (GTT) an, der am 10.10.1972
durchgeführt wurde. Aufgrund des Ergebnisses diagnostizierte der Beklagte zu 2) eine
latente Diabetes und vereinbarte mit der Kindsmutter die Einleitung der Geburt am
17.10.1972. Am Morgen dieses Tages begab sich die Mutter in die Klinik der Beklagten
zu 1), ohne dass die Wehen bereits eingesetzt hatten.
2
Das Kind befand sich bei der Geburtseinleitung in vollkommener Steißlage. Bei der
Geburt assistierte der Beklagte zu 3), der sich in der Klinik der Beklagten zu 1) im
zweiten Jahr seiner Facharztausbildung befand.
3
Der Verlauf der Geburt wurde in einem Geburtsprotokoll festgehalten. Die
Dokumentation des Geburtsverlaufs beginnt dort um 8.00 Uhr. In diesem Zeitpunkt
4
wurde die Geburt mit den üblichen Vorbereitungsmaßnahmen (Einlauf, Bad) eingeleitet.
Zur Geburtseinleitung wurden 3 E Synotocinon i.m. verabreicht, zusätzlich 6 ml Erantin.
Wörtlich heißt es im Geburtsprotokoll weiter:
5
"9.30 Uhr: Vaginale Untersuchung Chefarzt L.: Muttermund fingerdurchgängig.
6
Portio zum Teil erhalten. Steiß fest im Beckeneingang. Herztöne gut.
7
Uhr: Vaginale Untersuchung Chefarzt L.: Muttermund für zwei Finger
8
durchgängig. Portio verstrichen. Herztöne gut. 1/2 Cocktail.
9
Uhr: Regelmäßige Wehen alle 5 min. Muttermund für zwei Finger durchgängig.
10
Herztöne gut.
11
Uhr: Muttermund markstückgroß. Herztöne gut.
Uhr: Vaginale Untersuchung Dr. P.: Muttermund zweimarkstückgroß.
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Blasensprengung. Fruchtwasser klar, mit Meconium vermischt.
13
Uhr: Muttermund kleinhandtellergroß, Herztöne gut.
Uhr: Dr. P. PCB und PA gesetzt. Herztöne gut. 1 Valium.
Uhr: 1 Atropin 20 mg Psypquil.
14
Uhr: Muttermund vollständig. Herztöne gut. 1 Syntocinon i.m. Patientin preßt.
Uhr: Nach Anlage einer lateralen Episiotomie Entwicklung eines reifen Knaben
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aus vollkommener Steißlage nach Bracht. Nach Absaugen, Puffern, Kona-
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kiongabe und Sauerstoffbeatmung schreit Knabe durch (Apgar 8). Anschlie-
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ßend in 0,5 Tropanal Naht der Episiotomie. 1 Ampulle Methergin i.v. Uterus
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gut kontrahiert.
19
Uhr: Patientin wird verlegt.
20
Nachtrag: Nach Syntocinongabe wird Plazenta extrahiert, sie ist mit Ei-
21
häuten vollständig."
22
Die Cardiotokogramm (CTG) - Aufzeichnung wurde ab 18.10 Uhr durchgeführt. Die
Registrierdauer betrug 141 Minuten. Am Beginn der Registrierung wurde der
handschriftliche Eintrag "B. 18.10 Uhr" vermerkt. Ein weiterer Eintrag wurde mit "19.40
Uhr PCB und PA" vermerkt. Die CTG-Aufzeichnung endete sodann abrupt.
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Drei Tage nach seiner Geburt, am 20.10.1972, wurde der vormalige Kläger zu 1)
aufgrund von Aspirationspneumonie in die Kinderklinik R. verlegt.
24
Seit seiner Geburt ist er schwerst mehrfach behindert. Es liegt ein cerebrales
Anfallsleiden in Form eines sogenannten Lennox-Gastaut-Syndroms vor, das mit einer
cerebralen Bewegungsstörung vom hypoton-ataktischen Typ und entsprechender
Verzögerung der motorischen Entwicklung einhergeht. Der vormalige Kläger zu 1) ist
geistig schwer behindert; er kann nicht sprechen und bedarf permantenter Hilfe und
Betreuung. Seit Januar 1989 leidet er zudem verstärkt unter Sturzanfällen mit ständig
neuen Verletzungen.
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Der Kläger zu 2), der als überörtlicher Träger der Sozialhilfe zunächst die Kosten für die
teilstationäre Betreuung des vormaligen Klägers zu 1) in einem Sonderkindergarten
übernahm und seit Ende 1980 auch die Kosten für dessen erforderliche Heimbetreuung
in den v. Bod. Anstalten in Bi. trägt, hat im anhängigen Verfahren aus gemäß § 90 Abs.
1 S. 1 BSHG auf ihn übergeleiteten Ansprüchen Ersatz des materiellen Schadens von
den Beklagten verlangt. Darüberhinaus hat er die Feststellung einer Ersatzpflicht der
Beklagten auch hinsichtlich aller zukünftig noch eintretenden Schäden begehrt.
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Der Kläger zu 2) hat behauptet, die beim vormaligen Kläger zu 1) vorliegende schwere
Behinderung sei auf grobe Behandlungsfehler anläßlich seiner Geburt zurückzuführen:
27
Schon die Einleitung der Geburt sei fehlerhaft gewesen, weil eine latente Diabetes bei
der Mutter gar nicht vorgelegen habe. Die CTG-Aufzeichnung sei unvollständig; es fehle
zum einen das CTG für die Zeit von 15.30 Uhr bis 18.10 Uhr und zum anderen auch das
restliche CTG ab 20.10 Uhr bis zur Geburt. Der Befund "Meconium (= Stuhl des Kindes)
im Fruchtwasser" sei Beweis für einen intrauterinen Notfall gewesen. Insbesondere sei
auch das gleichzeitige Setzen von PCB (=Paracervikalblockade) und PA
(=Pudendusanästhesie) fehlerhaft gewesen. Die mit dem Setzen von PCB und PA
verbundenen Risiken seien im Jahre 1972 bereits hinreichend bekannt gewesen. Über
die damit verbundenen Risiken sei die Kindsmutter im übrigen nicht aufgeklärt worden.
Dem Beklagten sei vorzuwerfen, dass er die risikoreiche Geburt einem unerfahrenen
Assistenzarzt überlassen und die Verabreichung der Anästhetika nicht persönlich
überwacht habe. Fehlerhaft sei auch die unterbliebene Hinzuziehung eines erfahrenen
28
Kinderarztes gewesen, nachdem die Herztöne des Kindes schlechter geworden seien.
Entgegen der medizinischen Notwendigkeit sei das Kind nach der Geburt nicht sofort in
eine Kinderklinik verlegt worden. Vorwerfbar sei schließlich, dass der Beklagte zu 2) die
dann doch erfolgte Verlegung in die 50 km entfernte Kinderklinik R. angeordnet habe,
anstatt die Verlegung zur näher gelegenen Universitätskinderklinik A. zu veranlassen.
Ärztliches Fehlverhalten sei im übrigen auch darin zu sehen, dass der Beklagte zu 2)
nach Anstieg der Herztöne auf 180 Schläge pro Minute um 20.10 Uhr nicht die
Anweisung zur Schnittentbindung erteilt habe.
Der vormalige Kläger zu 1) sei bislang nicht von einem Geburtsschaden ausgegangen,
sondern davon, dass der Schaden durch eine Rötelninfektion seiner Mutter während der
Schwangerschaft verursacht worden sei. Erst durch einen Befundbericht vom 15.3.1988
sei dieser Irrtum ausgeräumt worden.
29
Der Kläger zu 2) hat beantragt,
30
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn Schadenersatz in
31
Höhe von 461.690,49 DM zu zahlen nebst 7,5 % Zinsen ab dem 12.2.1979,
32
8,59 % Zinsen ab dem 3.11.1980,
33
8,5 % Zinsen ab dem 1.8.1983,
34
7,5 % Zinsen ab dem 1.11.1984,
35
7 % Zinsen ab dem 1.2.1986,
36
6,5 % Zinsen ab dem 1.2.1987,
37
7,25 % Zinsen ab dem 1.6.1989
38
auf
39
1. 5.196,75 DM, und zwar auf tägliche 42,25 DM in der Zeit vom 31.5.1979
40
41
42
bis 30.9.1979
43
1. jeweils tägliche 124,65 DM für die Tage vom 12.12.1980 bis zum 31.12.1980 und
auf jeweils tägliche 123,00 DM für die Tage vom 1.1.1981 bis zum 30.6.1981 und
auf jeweils tägliche 123,90 DM für die Tage vom 1.7.1981 bis zum 31.12.1981 und
44
auf jeweils tägliche 127,75 DM für die Tage vom 1.1.1982 bis zum 2.2.1982 und
auf jeweils tägliche 138,85 DM für die Tage vom 1.7.1982 bis zum 31.12.1982 und
auf jeweils tägliche 136,60 DM für die Tage vom 1.1.1983 bis zum 30.6.1983 und
auf jeweils tägliche 146,00 DM für die Tage vom 1.7.1983 bis zum 31.12.1983 und
auf jeweils tägliche 144,12 DM für die Tage vom 1.1.1984 bis zum 30.6.1984 und
auf jeweils tägliche 131,47 DM für die Tage vom 1.7.1984 bis zum 31.12.1984 und
auf jeweils tägliche 133,65 DM für die Tage vom 1.1.1985 bis zum 30.6.1985 und
auf jeweils tägliche 133,85 DM für die Tage vom 1.7.1985 bis zum 31.12.1985 und
auf jeweils tägliche 144,45 DM für die Tage vom 1.1.1986 bis zum 31.12.1986 und
auf jeweils tägliche 151,65 DM für die Tage vom 1.1.1987 bis zum 30.6.1987 und
auf jeweils tägliche 151,45 DM für die Tage vom 1.7.1987 bis zum 31.12.1987 und
auf jeweils tägliche 155,87 DM für die Tage vom 1.1.1988 bis zum 30.6.1988 und
auf jeweils tägliche 156,87 DM für die Tage vom 1.7.1988 bis zum 31.12.1988 und
auf jeweils tägliche 163,oo DM für die Tage vom 1.1.1989 bis 31.8.1989;
1. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm allen
zukünftigen Schaden zu ersetzen, der ihm durch das Ereignis vom 17.10.1972
entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf einen anderen
Sozialversicherungsträger übergegangen ist oder noch übergeht.
45
Die Beklagten haben beantragt,
46
die Klage abzuweisen.
47
Sie haben wegen etwaiger deliktischer Ansprüche die Einrede der Verjährung erhoben
und sich insoweit darauf berufen, dass die Verdachtsdiagnose "postpartale Asphyxie"
unstreitig bereits im Bericht der Kinderklinik R. vom 29.1.1973 gestellt worden sei.
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Die Beklagten haben behauptet, aufgrund der Testwerte habe vom Vorliegen einer
latenten Diabetes ausgegangen werden müssen. Ob am Nachmittag des 17.10.1972 ein
CTG geschrieben worden sei, sei heute nicht mehr feststellbar. PCB und PA seien
entgegen der Behauptung des Klägers zu 2) nicht gleichzeitig gesetzt worden; vielmehr
seien nach der Verabreichung der PCB zunächst die Herztöne beobachtet worden und
erst, als sich aus dem CTG keine Auffälligkeiten ergeben hätten, sei die PA veranlasst
worden. Das CTG habe von 18.10 Uhr bis zur Geburt keine Auffälligkeiten verzeichnet.
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Aufgrund des Apgarwertes von 8 habe es auch keine Veranlassung gegeben, das Kind
sofort nach der Geburt in eine Kinderklinik verlegen zu lassen. Die Notwendigkeit einer
Schnittentbindung habe nicht bestanden. Die Herzschläge seien nicht um 20.10 Uhr auf
180 pro Minute angestiegen, sondern erst unmittelbar vor der Geburt des Kindes. Durch
eine Schnittentbindung habe der Geburtsverlauf nicht verkürzt werden können.
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Schließlich fehle es, selbst wenn man vom Vorliegen von Behandlungsfehlern bei der
Geburt und der Nachsorge ausgehen wolle, jedenfalls an der Kausalität für den
eingetretenen Schaden. Wahrscheinlichste Ursache für die Schädigung sei nämlich
eine Rötelnembryopathie. Der am 6.6.1972 im Mutterpass eingetragene
Rötelnantikörper-Titer von 1:128 lasse darauf schließen, dass die Mutter nach der 12.
51
Schwangerschaftswoche ohne klinische Krankheitszeichen eine Rötelninfektion
durchgemacht habe.
Jedenfalls sei die ärztliche Behandlung während und nach der Geburt, insbesondere
die Verabreichung der PCB, als Ursache der vorliegenden cerebralen frühkindlichen
Hirnschädigung nicht nachgewiesen.
52
Das Landgericht hat nach Vernehmung der Zeuginnen M. und B. und Einholung eines
Gutachtens sowie eines Zusatzgutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Rü. (wegen
der Ergebnisse wird auf den Inhalt der Vernehmungsprotokolle vom 18.10.1990 und
17.1.1991 sowie der schriftlichen Gutachten vom 22.9.1993 und 9.1.1995 Bezug
genommen) durch Grund- und Teilurteil vom 7.7.1995 den seinerzeit noch anhängigen
Schmerzensgeldanspruch des vormaligen Klägers zu 1) dem Grunde nach für
gerechtfertigt erklärt; den Klageanträgen des Klägers zu 2) hat es bis auf einen Teil der
Zinsforderung stattgegeben.
53
Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, dass aufgrund der durchgeführten
Beweisaufnahme feststehe, dass den Beklagten zu 2) und 3) bei der Geburt des Kindes
Behandlungs-, Diagnose- und Dokumentationsmängel unterlaufen seien:
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Entgegen der Diagnose des Beklagten zu 2) habe bei der Mutter keine latente Diabetes
bestanden; ein Grund zur Einleitung der Geburt habe deshalb nicht vorgelegen.
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Die notwendige Aufnahmeuntersuchung der Mutter am Tage der Geburt sei
unterblieben, jedenfalls nicht dokumentiert.
56
Die vom Beklagten zu 3) vorgenommene Fruchtblasensprengung in der frühen
Eröffnungsphase sei angesichts der Einleitung einer Beckenlagengeburt fehlerhaft
gewesen.
57
Die von ihm um 19.40 Uhr vorgenommene zumindest nahezu zeitgleiche Applikation
von PCB und PA habe auch dem damals schon bestehenden wissenschaftlichen
Standard widersprochen und zusätzliche Risiken geschaffen.
58
Die um 20.15 Uhr erfolgte Syntocinongabe sei entweder zu früh erfolgt oder aber es sei
zu nicht dokumentierten Komplikationen bei der Kindsentwicklung gekommen.
59
Die gesamte Dokumentation während der Geburt sei unvollständig und mangelhaft
gewesen.
60
Das Landgericht hat basierend auf den getroffenen Feststellungen des
Sachverständigen Prof. Dr. Rü. hierzu die vorstehend aufgeführten Behandlungsfehler
als nachgewiesen angesehen und diese als grobe Fehler gewertet. Soweit der
Sachverständige nicht habe feststellen können, wann letztlich die Schädigung des
Kindes eingetreten sei und worauf diese genau beruhe, müsse dies wegen der durch
das Vorliegen grober Behandlungsfehler bedingten Beweislastumkehr zu Lasten der
Beklagten gehen, zumal der Umstand, dass sich den Feststellungen des Gutachters
zufolge nach der Applikation von PCB und PA eine fetale Tachycardie gezeigt habe, ein
erstes Anzeichen einer fetalen Hypoxie sein könne, außerdem der dokumentierte
Zustand des Kindes, der typisch sei für einen sogenannten Perinatalschaden wegen
Sauerstoffmangels unter der Geburt, einen Zusammenhang zwischen den
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Behandlungsfehlern und dem eingetretenen Schaden nahelege.
Die geltend gemachten Ansprüche seien auch nicht verjährt.
62
Gegen dieses ihnen am 12.7.1995 zugestellte Urteil richtet sich die am 14.8.1995,
einem Montag, eingelegte Berufung der Beklagten, die sie -nach entsprechender
antragsgemäßer Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist- am 16.11.1995
begründet haben.
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Die Beklagten halten ihr erstinstanzliches Vorbringen aufrecht. Sie machen geltend, die
Vorwürfe des Sachverständigen hinsichtlich der Behandlung und der Dokumentation
seien unbegründet. Im übrigen hätten sich beim vormaligen Kläger zu 1) keine für einen
eventuellen Behandlungsfehler typische Risiken verwirklicht. Vielmehr sei dessen
Schädigung mutmaßlich auf eine Rötelninfektion seiner Mutter während der
Schwangerschaft zurückzuführen. Auch habe der Sachverständige verabsäumt, auf
Behandlungsgrundsätze bezogen auf das Geburtsjahr 1972 abzustellen. Die
durchgeführten geburtsleitenden Maßnahmen seien sämtlich nach dem damaligen
Kenntnisstand nicht zu beanstanden gewesen. Der Beklagte zu 3) habe sehr wohl über
ausreichende Erfahrung und Praxis in der Leitung von Geburten verfügt. Eine
hinreichende kausale Verknüpfung zwischen einem Sauerstoffmangel unter der Geburt
und den anschließend festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Kindes
sei nicht festzustellen. Der vormalige Kläger zu 1) sei als reifes Neugeborenes mit
einem immerhin ausreichenden Apgarwert von 8 geboren worden; auch seien keine
Brückensymptome, die auf einen Geburtsschaden hindeuteten, festzustellen. Insoweit
sei nichts dokumentiert worden, weil bei dem Kind keine Auffälligkeiten bestanden
hätten. Grobe Behandlungsfehler lägen nicht vor.
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Darüberhinaus halten die Beklagten die Einrede der Verjährung hinsichtlich der
deliktischen Ansprüche aufrecht.
65
Die Beklagten beantragen,
66
die Klage unter Abänderung des angefochtenen Urteils abzuweisen,
67
sowie ihnen nachzulassen, eine ggfls. notwendig werdende Sicherheits-
68
leistung in Form einer ordnungsgemäßen Bankbürgschaft erbringen zu
69
dürfen.
70
Der Kläger zu 2) beantragt,
71
die Berufung zurückzuweisen.
72
Darüberhinaus beantragt der Kläger zu 2) im Wege einer am 27.2.1996 eingelegten
unselbständigen Anschlussberufung,
73
die Beklagten unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils zu
74
verurteilen, an ihn 461.690,49 DM nebst
75
8 % Zinsen seit Klagezustellung bis zum 28.2.1990,
76
9 % Zinsen vom 1.3.1990 bis zum 31.10.1992,
77
7,5 % Zinsen vom 1.11.1992 bis zum 31.3.1993,
78
6,5 % Zinsen vom 1.4.1993 bis zum 31.12.1993,
79
6 % Zinsen vom 1.1.1994 bis zum 31.5.1994,
80
6,5 % Zinsen vom 1.6.1994 bis zum 30.9.1994,
81
7,5 % Zinsen vom 1.10.1994 bis zum 31.5.1995
82
und 7 % Zinsen ab dem 1.6.1995 zu zahlen.
83
Der Kläger zu 2) verteidigt im übrigen das angefochtene Urteil und die vom
erstinstanzlich beauftragten Sachverständigen Prof. Rü. getroffenen Feststellungen.
Schon das von Klägerseite zu den Akten gereichte Vorgutachten von Prof. Be. habe
darauf hingewiesen, dass das Neugeborene nicht an einer nur leichten Asphyxie,
sondern an einem schweren Sauerstoffmangel gelitten habe, der zu einer cerebralen
irreparablen Schädigung geführt habe. Die kausale Verknüpfung zwischen
Sauerstoffmangel unter der Geburt und anschließender Cerebralparese könne aufgrund
der konkreten Umstände (Aufweisen deutlich pathologischer Zeichen in den
vorhandenen Teilen des CTG; Erfordernis einer Pufferung des Neugeborenen;
ungenügende Dokumentation der Begleitumstände der Messung des Apgar-Wertes;
keine Erholung des Neugeborenen von der Reanimierung und von Anfang an
vorhandene neurologische Auffälligkeiten) keinem Zweifel unterliegen.
84
Der Anspruch sei schließlich auch nicht verjährt, weil die bestehende postpartale
Asphyxie über Jahre hinweg fälschlicherweise ausschließlich als im Zusammenhang
mit einer von der Mutter durchgemachten Röteln-Embryopathie stehend diagnostiziert
worden sei.
85
Die Beklagten beantragen,
86
die Anschlussberufung des Klägers zu 2) zurückzuweisen.
87
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung schriftlicher
Sachverständigengutachten des ehemaligen Direktors der Kinderklinik im
Universitätsklinikum H.-E. Prof. Dr. F. Jo. Sc.. Auf den Inhalt der Beweisbeschlüsse des
Senats vom 20.3.1996 und vom 1.4.1998 sowie den Inhalt der schriftlichen Gutachten
von Prof. Sc. vom 30.11.1996 und vom 17.7.1998 nebst dessen Ergänzung vom
25.1.1999 und des Zusatzgutachtens von Prof. Z. vom 25.7.1996 wird Bezug
genommen.
88
Wegen aller weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf Tatbestand und
Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung sowie den Inhalt der zwischen
den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen Bezug genommen.
89
Der vormalige Kläger zu 1) ist aufgrund einer in der Berufungsinstanz mit den Beklagten
90
getroffenen abschließenden vergleichsweisen Regelung am 10.11.1997 aus dem
Verfahren ausgeschieden.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
91
Die zulässige Berufung der Beklagten ist auch in der Sache begründet und führt zur
Abweisung der Klage des Klägers zu 2) mit der weiteren Folge, dass dessen -zulässige-
Anschlussberufung im Hinblick auf die begehrten Zinsen als unbegründet
zurückzuweisen ist.
92
Die geltend gemachten Ansprüche stehen dem Kläger zu 2) nicht zu, weil die beim
vormaligen Kläger zu 1) vorliegenden Gesundheitsschäden nicht Gegenstand
vertraglicher oder deliktischer Schadensersatzansprüche gegen die Beklagten sein
können.
93
Dabei kann dahinstehen, ob den Beklagten Behandlungsfehler der Art und des
Ausmaßes angelastet werden können, wie es das Landgericht angenommen hat.
Ebenso kann dahinstehen, ob diese Behandlungsfehler (einschließlich der den
Beklagten zum Vorwurf gemachten Diagnosefehler und Dokumentationsmängel)
einzeln oder jedenfalls in ihrer Gesamtheit gesehen als grober Fehler gewertet werden
müssen, sich also als Verstöße gegen elementare Behandlungsregeln oder gegen
elementare Erkenntnisse der Medizin darstellen, demnach als Fehler, die aus objektiver
ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich sind, weil sie einem Arzt schlechterdings nicht
unterlaufen dürfen (vgl. BGH in VersR 1997, 315, Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 7.
Auflage 1997, Rdnr. 522 m.w.N.).
94
Selbst wenn man nämlich zu Lasten der Beklagten vom Vorliegen grober
Behandlungsfehler anlässlich der Geburtseinleitung und -durchführung sowie der sich
anschließenden Betreuung des Neugeborenen ausgehen will und des weiteren zu
Lasten der Beklagten eine Beweislastumkehr hinsichtlich der Kausalität zwischen
Behandlungsfehlern und dem vorliegendem Gesundheitsschaden bejaht (vgl. zu den
Beweiserleichterungen im Falle grober Behandlungsfehler Steffen/Dressler aaO, Rdnr.
515 m.w.N.), kommt eine Haftung der Beklagten vorliegend nicht in Betracht.
95
Die Beklagten haben nämlich den in diesem Fall ihnen obliegenden Nachweis
fehlender Kausalität zwischen etwaigen Behandlungsfehlern und dem beim vormaligen
Kläger zu 1) vorliegenden Gesundheitsschaden geführt.
96
Davon ist nach Auffassung des Senats aufgrund der in der Berufungsinstanz
eingeholten Sachverständigengutachten von Prof. Sc. auszugehen, nachdem dieser
festgestellt hat, dass ein Zusammenhang von etwaigen Behandlungsfehlern unter und
nach der Geburt mit den manifestierten Gesundheitsschäden nicht hergestellt werden
kann.
97
Prof. Sc. hat nach eingehender und sorgfältiger Auswertung sämtlicher zur Verfügung
stehender Kranken- und Behandlungsunterlagen sowie nach Einholung eines von ihm
veranlassten Zusatzgutachtens des Direktors der Neuroradiologischen Abteilung der
Radiologischen Klinik des Universitätskrankenhauses Ep. Prof. Dr. H. Z. vom 25.7.1996
und auf der Grundlage einer eingehenden persönlich durchgeführten Anamnese und
körperlichen Untersuchung des früheren Klägers zu 1) in seinem zunächst erstellten
umfangreichen schriftlichen Gutachten vom 30.11.1996 im wesentlichen folgendes
98
ausgeführt:
"....Zusammenfassend liegt bei diesem Jungen ein Restschadenssyndrom vor, welches
in seiner ätiopathogenetischen Entstehung schwer deutbar und endgültig sicher auch
nicht zuzuordnen ist. Das Fehlen einer eindeutigen Cerebralparese (spastische oder
extrapyramidal-dystone oder hyperkinetische Bewegungsstörung) bei einer sehr
schweren geistigen Entwicklungsstörung mit völligem Ausbleiben der
Sprachentwicklung ist zwar auch als Folge einer hypoxisch-ischämischen
Hirnschädigung denkbar, insgesamt aber ungewöhnlich. In der Regel gehen wir davon
aus, dass die hypoxisch-ischämischen Hirnschäden, speziell wenn sie geburtsassoziiert
auftreten, gekennzeichnet sind durch eine schwere Cerebralparese entweder im Sinne
einer Spastik oder einer extrapyramidalen Dystonie oder einer Mischform aus beidem
bei unterschiedlich schwerer, gelegentlich sogar relativ geringer Störung der geistigen-
und Sprachentwicklung. Das vollständige Ausbleiben der Sprachentwicklung und die
schwere geistige Behinderung dieses Kindes bei schwerster Epilepsie ist als
Restschadenssyndrom nach einer geburtsassoziiert hypoxisch-ischämischen
Hirnschädigung eher die Ausnahme......"
99
In seinem Gutachten vom 17.7.1998 führt Prof. Sc. darüberhinaus ergänzend u.a. aus:
100
".....Der Junge hat keine neurophysiologisch exakt definierte spastisch oder
dyskinetische Cerebralparese (Tetraparese). Einer partiellen oder auch vollständigen
Octipusatrophie kann man unter gar keinen Umständen ansehen oder durch ein
Sachverständigengutachten "unter Beweis" stellen, dass "sie Folge eines perinatalen
Sauerstoffmangels ist" und weder die Ventrikelkonfiguration noch die
Kleinhirnhypoplasie sind beweisend oder auch nur hinweisend für einen "frühkindlichen
Hirnschaden" -etwa im Sinne einer geburtsassoziierten Sauerstoffmangelschädigung
des Gehirns. Im Gegenteil: Abgesehen von den winzig kleinen symmetrischen Läsionen
in der Nachbarschaft zum medialen Temporallappen (auf diese wird später noch einmal
kritisch einzugehen sein) fehlen in den bildgebenden Darstellungen alle Hinweise auf
eine durchgemachte Sauerstoffmangelschädigung des Gehirns. Die relativ weiten
Ventrikel und die relativ große Cisterna magna und eine damit manchmal verbundene
relative Volumenminderung des Gehirns sind Normvarianten. Das heißt: Der Übergang
zu pathologischen Befunden, also zu Befunden mit Krankheitswert, ist fließend und
nicht genau anzugeben. Zwangsläufig ergibt sich daraus, dass die Interpretation eines
solchen Befundes durch unterschiedliche Neuroradiologen (mit unterscheidlicher
Erfahrung speziell im Kindesalter) verschieden ist. Eines ist aber sicher: Dieser Befund,
speziell im Kleinhirn, ist kein nachträglich erworbener Schaden, ist ganz sicher nicht
Folge eines durch Sauerstoff- oder Durchblutungsmangel verursachten Untergangs von
vorher gebildetem Nervengewebe. Solche Sauerstoffmangelschäden sehen bei der
bildgebenden Untersuchung ganz anders aus: porencephale, das heisst zystische
Defekte im inneren oder unregelmäßig begrenzte, manchmal lokalisierte Defekte mit
Verbreiterung der Rindenfurchen an der Oberfläche. Wenn also diese
Kleinhirnhypoplasie, diese relative Verminderung des Kleinhirnvolumens überhaupt
einen abnormen oder gar pathologischen Befund darstellt, dann ist es sicher eine frühe,
anlagebedingte Volumenminderung und nicht ein spät in der Schwangerschaft oder bei
der Geburt erworbener "Hirnschaden". Gerade im Kleinhirn sind solche Hypoplasien mit
Erweiterung der Cisterne häufig.
101
Dieses Problem habe ich bei der eingangs erwähnten und speziell für dieses Kind
durchgeführten Konsiliarbesprechung mit unseren Neuroradiologen noch einmal
102
eingehend besprochen. Die beiden neurologischen Gutachter, Dr. Gr. (Arzt für
diagnostische Radiologie) und Prof. Z. (Direktor der neuroradiologischen Abteilung des
Universitätskrankenhauses Ep.) sind völlig entschieden und völlig zweifelsfrei dieser
Ansicht. Irgend eine Form der später erworbenen "white matter disease" (Erkrankung
der weißen Substanz des Gehirns: Leitungsbahnen) oder "grey matter disease"
(Erkrankung der grauen Substanz: Hirn- und Kleinhirnrinde, Basalganglien) ist aus
diesen Bildern nicht erkennbar. Diese Aussage gilt nach Ansicht unserer
Neuroradiologen sowohl für erworbene Defekte im Sinne von Versorgungsstörungen
(Sauerstoff- und Durchblutungsmangel) wie auch für neurometabolische und
neurodegenerative Erkrankungen.
Dieser junge Patient hat ganz sicher keine spastische (also pyramidale) oder
dyskinetisch/dystone (also extrapyeamidale) Tetraparese (Cerebralparese) im Sinne
einer exakten neurophysiologischen Definition dieser Begriffe......
103
Das hier vorliegende psychoneurologische Restschadenssyndrom ist für eine
geburtsassoziierte Hirnschädigung sehr untypisch. Geistige Entwicklungsstörungen,
Verhaltensstörungen, Wahrnehmungsstörungen und eine Epilepsie sind bei
geburtsassoziierten Hirnschäden mit einer Cerebralparese zwar häufig verbunden, sie
sind aber möglicherweise sogar fast nie isoliert (also ganz ohne Cerebralparese) und
nur sehr selten bei starkem Überwiegen dieser menatlen Entwicklungsstörung eine
Folge von Hypoxie, Ischämie und Trauma bei der Geburt......Bei diesem Kind liegt aber
keine leichte, sondern im Gegenteil eine sehr schwere mentale Entwicklungsstörung vor
und die Bewegungsstörungen mit eher hypotonen und ataktischen Symptomen sind
speziell für eine geburtsassoziierte Entstehung durch Hypoxie, Ischämie und Trauma
sehr untypisch......
104
Die bildgebenden Untersuchungen ergeben keinen Hinweis auf eine grobe hypoxisch-
ischämische Hirnschädigung, die die hier vorliegende schwere psycho-neurologische
Entwicklungsstörung des Jungen erklären könnten.......
105
Bei diesem Kind fehlen in der Neugeborenenperiode die typischen "Cluster of perinatal
events", die für eine perinatale, geburtsassoziierte Hirnschädigung typisch sind.....
106
Die - von Klägerseite - erwähnte, höchstens partielle Opticusatrophie kann in keinem
Fall die geburtsassoziierte Entstehung einer Hirnschädigung belegen......"
107
Schließlich hat Prof. Sc. auf der Grundlage einer von ihm selbst angeregten erneuten
persönlichen klinischen Begutachtung des früheren Klägers zu 1), erneuter Auswertung
von Blut- und Urinuntersuchungen, ergänzender Befundung von Kernspintomogrammen
und einer Zusammenschau der elektroencephalographischen Untersuchungen sowie
einer wiederholten konsiliarischen Beurteilung sämtlicher erhobener Befunde mit dem
Leiter der pädiatrischen Sektion und des Epilepsiezentrums der Krankenanstalt Bet. Dr.
Bo., der den vormaligen Kläger zu 1) seit vielen Jahren ärztlich betreut, und mit dem von
ihm beigezogenen Zusatzgutachter Prof. Z. in seinem pädiatrisch/neuropädiatrischen
Ergänzungsgutachten vom 25.1.1999 abschließend folgendes ausgeführt:
108
"Zusammenfassend bleibt es bei der Einschätzung aus meinen früheren Gutachten,
dass bei diesem jungen Mann ganz eindeutig nicht das charakteristische neurologische
Krankheitsbild eines geburtsassoziierten bzw. unmittelbar perinatal entstandenen
Restschadenssyndroms vorliegt. Der Junge hat eine vorwiegend geistige und
109
sprachliche Entwicklungsstörung, er hat eine schwere Verhaltensanomalie, eine
schwere, herdförmige Epilepsie und er hat im Rahmen dieser schweren allgemeinen
Entwicklungsstörung und Mehrfachbehinderung auch eine Behinderung seiner Motorik
mit vereinzelt auch Zeichen einer ganz geringfügigen und fraglichen Spastik (bei der
jetzigen Untersuchung konnte ich linksseitig lediglich ein schwaches Babinski-
Phänomen auslösen) und/oder auch einer Verspannung der Skelettmuskulatur im Sinne
einer Rigidität an den unteren Extremitäten speziell im Bereich der Sprunggelenke.
Diese motorische Entwicklungsstörung kann aber nicht als spastische und/oder dyston-
diskinetische Cerebralparese bezeichnet werden.......
Anlässlich der gleichen Konsiliargespräche habe ich auch die Bilder der
Magnetresonanztomographie (Kernspintomographie) ... mit dem Direktor unserer
neuroradiologischen Abteilung Prof. Z. noch einmal ausführlich besprochen. Herr Z.
revidiert jetzt eindeutig seine "Vermutung", dass es sich bei den im neuroradiologischen
Gutachten vom 25.7.1996 beschriebenen Miniläsionen an der Basis der Stammganglien
um den "Ausdruck einer nicht sehr schweren oligämisch hypoxischen Schädigung"
handeln könnte. Herr Z. weist mit Recht darauf hin, dass er diese Beurteilung auch
seinerzeit lediglich "vermutet" hat. Mit zunehmender Erfahrung in der
Kernspintomographie werden diese Läsionen immer häufiger als Blutgefäße und ihre
speziell in der Narkose oft etwas vergrößerten sog. Virchow-Robin´schen Räume
angesehen und erkannt. Herr Z. hält es jetzt für äußerst unwahrscheinlich, dass es sich
um hypoxische Läsionen handelt und bittet mich ausdrücklich, dies zu korrigieren.
Gegebenenfalls ist Herr Prof. Z. auch auf Anfrage bereit, dieses noch einmal schriftlich
zu bestätigen........
110
Zusammenfassende gutachterliche Beurteilung:
111
Bei diesem Kind liegt nicht eines jener Restschadenssyndrome vor, wie es für die
unmittelbar perinatalen Hirnschäden charakteristisch ist.
112
Es handelt sich zwar bei Je. B. mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um ein sog.
Restschadenssyndrom. Wir konnten eine der bekannten fortschreitenden
neurometabolischen oder neurodegenerativen Erkrankungen nicht finden und sie sind
auch aufgrund des klinischen Verlaufs ganz unwahrscheinlich. Auch ist keine jener
dysmorphen Syndrome erkennbar, die häufig zusammen mit Fehlbildungen des Gehirns
solche geistigen und sprachlichen Entwicklungsstörungen verursachen können. Eine
Chromosomenanomalie und speziell ein fragiles X-Chromosom sind ausgeschlossen.
Wir können also dem Verdacht der Eltern, dass es sich hier um eine geburtsbedingte
Hirnschädigung handelt, keine positive Diagnose mit einer anderen Ätiopathogenese
(Kausalität) gegenüberstellen. Dennoch ist der Hinweis wichtig und im Sinne einer
objektiven Begutachtung unbedingt geboten, dass das klinische Bild des hier
vorliegenden Restschadenssyndroms überhaupt nicht jene Charakteristika aufweist, die
fast übereinstimmend weltweit als typisch für die unmittelbar perinatalen oder
geburtsassoziierten Hirnschäden gut erforscht sind. Wie bereits in meinen früheren
Gutachten "vorsichtshalber" immer wieder betont: Aufgrund dieses klinischen Verlaufes
mag eine geburtsassoziierte Hirnschädigung mit der Sicherheit einer
naturwissenschaftlichen Aussage nicht ausgeschlossen sein - die Medizin ist dazu nicht
exakt genug und zu anfällig für kurzlebige Irrtümer. Aufgrund unserer jetzigen
wissenschaftlichen Erkenntnisse muss es aber als sehr unwahrscheinlich gelten, dass
dieses Restschadenssyndrom aufgrund einer geburtsassoziierten Hirnschädigung
entstanden ist.
113
Diese Ansicht wird nicht nur gestützt, sondern noch bestärkt durch das Fehlen von
typischen hypoxisch oligämischen Läsionen bei der Kernspintomographie. Schon die
seinerzeit im neuroradiologischen Ergänzungsgutachten vom 25.7.1996 "vermuteten"
Mikroläsionen konnten keinesfalls die schwere psychoneurologische
Entwicklungsstörung dieses Kindes erklären. In Anbetracht des jetzt endgültig von Herrn
Prof. Z. in diesem Punkt als normal angesehenen Kernspintomogramms entfällt diese
problematische Diskussion vollends.
114
Aufgrund des klinischen Erscheinungsbildes des hier vorliegenden
Restschadenssyndroms und aufgrund des Kernspintomogramms ohne die
charakteristischen, eindeutigen und ausgedehnten Läsionen einer hypoxisch
oligämischen Hirnschädigung (Sauerstoffmangel und Durchblutungsstörungen) halte
ich es für äußerst unwahrscheinlich, nach dem gegenwärtigen Stand der
wissenschaftlichen Diskussion darf man vielleicht sogar sagen, für fast ausgeschlossen,
dass bei Je. B. eine geburtsassoziierte bzw. unmittelbar perinatal entstandene
Hirnschädigung vorliegt."
115
Die vom Gutachter getroffenen Feststellungen basieren auf einer eingehenden, sehr
sorgfältigen und gründlichen Auswertung aller für eine endgültige Klärung des
Ursachenzusammenhangs zur Verfügung stehenden Möglichkeiten; sie werden jeweils
ausführlich, durch umfangreiche Literaturangaben belegt, in jeder Hinsicht
nachvollziehbar und vollständig überzeugend begründet. Der Sachverständige hat
seine Feststellungen ersichtlich im Bemühen um eine vollständige Sachaufklärung
unter Ausschöpfung aller denkbaren zur Verfügung stehenden Untersuchungs- und
Erkenntnismöglichkeiten getroffen. Prof. Sc. ist dem Senat aus einer Vielzahl anderer
Verfahren als besonders kompetenter, gewissenhafter, fachlich herausragend
erfahrener und qualifizierter Gutachter bekannt; das Gericht hat deshalb keine Zweifel
an der Richtigkeit seiner Feststellungen.
116
Sie stehen auch nicht im Widerspruch zu getroffenen Feststellungen des erstinstanzlich
beauftragten Gutachters Prof. Rü..
117
Prof. Rü. hat in seinem fachgynäkologischen Gutachten nämlich in erster Linie zu
Fragen der Behandlungsfehlerhaftigkeit Stellung genommen. Zur Frage einer
geburtsbedingt eingetretenen Schädigung des Kindes hat er lediglich ausgeführt, dass
der aus den Unterlagen dokumentierte Zustand des Neugeborenen "typisch für einen
sogenannten Perinatalschaden wegen Sauerstoffmangels unter der Geburt" sei, dass
retrospektiv wegen mangelhafter Dokumentation und Fehlens bzw. Verlusts von CTG-
Aufzeichnungen der Zeitpunkt einer etwaigen Schädigung (prä-, intra- oder postnatal)
nicht mehr ermittelt werden könne und dass jedenfalls keine Rötelnembryopathie
vorgelegen habe, die als Schadensursache in Betracht käme.
118
Diese Feststellungen stehen aber den von Prof. Sc. getroffenen Feststellungen nicht
entgegen, weil sie, was eine Verursachung des Gesundheitsschadens durch die von
Prof. Rü. bejahten Behandlungsfehler angeht, über eine bloße Mutmaßung nicht
hinausgehen, die naturgemäß angesichts der von Prof. Rü. festgestellten
Fehlbehandlung selbst aus laienhafter Sicht keineswegs fernliegend ist, andererseits
aber keiner gesonderten und eingehenden Überprüfung zugeführt worden ist, wie sie
erst Prof. Sc. durchgeführt hat. Der Hinweis von Prof. Rü., dass die von ihm ermittelten
Behandlungsfehler "typischerweise" einen Sauerstoffmangel unter der Geburt zur Folge
119
haben könnten, ist deshalb nicht geeignet, die konkreten Feststellungen von Prof. Sc.
dazu im vorliegenden Fall in Frage zu stellen.
Gleiches gilt für die Äußerungen des Privatgutachters Prof. Be. in seinem
geburtshilflichen Fachgutachten vom 7.10.1988. Auch dessen Feststellung, angesichts
des Geburtsverlaufs werde klar, dass das Kind an einem schweren Sauerstoffmangel
gelitten habe, der "zu zerebral irreparabler Schädigung geführt" habe, stellt sich als nicht
auf gezielte zusätzliche pädiatrisch-neurologische bzw. radioneurologische
Untersuchungen gestützte Mutmaßung dar, die insbesondere nicht auf einem
Kenntnisstand basiert, wie er dem Sachverständigen Prof. Sc. annähernd zehn Jahre
später auf der Grundlage sehr genauer bildgebender und sonstiger Untersuchungen
insbesondere auch unter sorgfältiger Einbeziehung der langfristigen weiteren
körperlichen und geistigen Entwicklung des Betroffenen zur Verfügung gestanden hat.
120
Dies gilt in gleicher Weise für das neonatologische Privatgutachten von Dr. Am. vom
20.6.1989, das zudem -ohne eigene Untersuchung des Betroffenen- vom Vorliegen
einer schweren Cerebralparese ausgeht, was indes von Prof. Sc. wohlbegründet gerade
verneint wird.
121
Soweit der Kläger zu 2) außerdem auf den zu den Akten gereichten Befundbericht von
Prof. Sch./Dt. Za. vom 30.8.1996 verweist, in dem diese aus Anlass einer beim
vormaligen Kläger zu 1) vorgenommenen Kieferoperation im Hinblick auf eine
durchgeführte CCT-Untersuchung feststellen: "Dicke Schädelkalotte und
Ventrikelkonfiguration wie bei Zustand nach frühkindlichem Hirnschaden. Deutliche
Kleinhirnhypoplasie", so kann auch hieraus nichts Gegenteiliges hergeleitet werden, da
es sich hierbei um einen nur ganz kurzen und nicht näher begründeten Befund handelt,
der deshalb nicht geeignet ist, die Richtigkeit der gutachterlichen Feststellungen von
Prof. Sc. in Zweifel zu ziehen, die auf umfangreichen zusätzlichen Untersuchungen des
Patienten und vielfältigen weiteren Erkenntnismöglichkeiten beruhen, die den
vorgenanten Ärzten nicht zur Verfügung standen. Gleiches gilt für den Arztbrief der Dr.és
O., E. und Bec.-Mä. vom 11.9.1996, der offenbar die mit dem Befundbericht von Prof.
Sch./Dr. Za. identische vorzitierte Formulierung lediglich aus diesem übernommen hat.
Auch die von Klägerseite vorgelegte ärztliche Stellungnahme des Dr. Pr. vom 15.1.1998
läßt nicht erkennen, auf welchen Erkenntnissen der dort ohne Begründung
niedergelegte Befund "infantile Cerebralparese" beruhen soll.
122
Der von Klägerseite im Anschluss an das vorliegende Abschlussgutachten von Prof. Sc.
lediglich noch erneut herangezogene Arztbericht des Neuroradiologen Dr. Lu. vom
19.2.1996 ist ebenfalls nicht geeignet, das Ergebnis der von Prof. Sc. gemeinsam mit
dem Zusatzgutachter Prof. Z. erfolgten Auswertung der vorliegenden
Kernspintomographien in Frage zu stellen. Prof. Sc. hat sich mit jenem Arztbericht
nämlich schon in seinem ersten Gutachten vom 30.11.1996 auseinandergesetzt und
ausdrücklich den von Dr. Lu. als abnorm beschriebenen Zustand sehr weiter Ventrikel
und weiter Zisternen in die Betrachtung der morphologischen Grundlagen der
vorliegenden Hirnschäden in seine Überlegungen mit einbezogen, ohne indes deshalb
zu anderen Ergebnissen zu kommen.
123
Der vom Kläger zu 2) beantragten Einholung eines weiteren
Sachverständigengutachtens zur Bewertung der vorliegenden Kernspintomographien
bedarf es deshalb nicht, weil diese ersichtlich sorgfältig und mit wohlbegründetem
Ergebnis ausgewertet worden sind, ohne dass dem Ergebnis von Klägerseite Konkretes
124
entgegengehalten worden wäre.
Soweit der Kläger zu 2) darauf verweist, es habe den Anschein, als habe Prof. Sc. den
radiologischen Zusatzgutachter Prof. Z. geradezu veranlasst, seine "Vermutung" dem
Ergebnis des eigenen Gutachtens anzupassen, liegen aus Sicht des Senats keine
Anhaltspunkte dafür vor, dass die Feststellungen beider Sachverständiger nicht auf
eigenständig entwickelter, wenn auch gemeinsam erarbeiteter, so doch jedenfalls ihrer
jeweils eigenen Überzeugung entsprechender Auswertung der letztlich vorliegenden
Untersuchungsergebnisse beruhen.
125
Aufgrund der demnach den Senat auch unter Einbeziehung der übrigen in dieser Sache
vorliegenden gerichtlichen und privat erstellten Gutachten in jeder Hinsicht
überzeugenden Feststellungen von Prof. Sc. ist davon auszugehen, dass ein
Ursachenzusammenhang zwischen etwaigen Behandlungsfehlern anlässlich der
Geburt des vormaligen Klägers zu 1) und den bei diesem vorliegenden
Gesundheitsschäden äußerst unwahrscheinlich, wenn nicht sogar ausgeschlossen
erscheint.
126
Damit haben die Beklagten bewiesen, dass, selbst wenn man schwerwiegende
Behandlungsfehler als gegeben ansehen wollte, diese nicht kausal für die beim Kläger
zu 1) vorliegenden Gesundheitsschäden -weder einzelne davon noch diese in ihrer
Gesamtheit- geworden sind und somit Schadensersatzansprüchen ihnen gegenüber
nicht in Betracht kommen.
127
Die Feststellungen des Sachverständigen reichen für eine sichere
Überzeugungsbildung des Senats im Hinblick auf das in diesem Sinne gedeutete
Beweisergebnis gemäß den in § 286 Abs. 1 ZPO aufgestellten Anforderungen aus.
128
Dafür ist nicht erforderlich, dass der Senat eine absolute, über jeden denkbaren Zweifel
erhabene Gewissheit erlangen muss; vielmehr reicht ein für das praktische Leben
brauchbarer Grad von Gewissheit aus (vgl. BGH in VersR 1994, 52).
129
Den den Senat vollständig überzeugenden Ausführungen von Prof. Sc. ist eindeutig zu
entnehmen, dass selbst bei Annahme einer behandlungsfehlerhaft durchgeführten
Geburt gleichwohl überhaupt keine greifbaren Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die
beim ehemaligen Kläger zu 1) vorhandenen gesundheitlichen Schäden hierauf
zurückzuführen sind.
130
Das Fehlen einer ausgeprägten Cerebralparese, das demgegenüber vollständige
Ausbleiben der Sprachentwicklung und die schwere geistige Behinderung bei
schwerster Epilepsie sprechen dagegen. Die Kleinhirnhypoplasie spricht
demgegenüber für eine frühe, anlagebedingte Volumenminderung. Alle beim Kläger
diagnostizierten Symptome hat der Sachverständige als "sehr untypisch" für eine
geburtsassoziierte Schädigung gewertet. Die zunächst auch nach Auffasssung von Prof.
Sc. als einziges Indiz in Richtung einer geburtsassoziierten Schädigung weisenden
vorhandenen Miniläsionen an der Basis der Stammganglien hat er später in
Übereinstimmung mit Prof. Z. ebenfalls überzeugend begründet lediglich noch als bloße
Blutgefäße diagnostiziert und deren Bewertung als hypoxische Läsionen für äußerst
unwahrscheinlich erachtet. Die ermittelten Schäden weisen danach im Ergebnis
aufgrund der sachverständigerseits getroffenen abschließenden Feststellungen
überhaupt keine Charakteristika eines unmittelbar perinatalen oder geburtsassoziierten
131
Hirnschadens auf. Ist danach eine solche Annahme äußerst unwahrscheinlich, den
Äußerungen des Sachverständigen zufolge sogar fast ausgeschlossen, so reicht diese
Bewertung für eine sichere Überzeugungsbildung des Senats dahin aus, dass ein
Kausalzusammenhang nicht besteht mit der Folge, dass auch
Schadensersatzansprüche nicht bestehen und die Klage deshalb abgewiesen werden
muss. Lediglich der Vollständigkeit halber soll angemerkt werden, daß bei dieser
Sachlage eine Beweislastumkehr nicht in Betracht kommt, denn jedenfalls ist der
Ursachenzusammenhang derart unwahrscheinlich, daß die Gründe, die die
Rechtsprechung bewogen haben, dem Geschädigten Beweiserleichterungen
zuzubilligen, nicht gegeben sind.
Auf die Frage einer etwaigen Verjährung der klägerischen Ansprüche kommt es deshalb
im Ergebnis nicht an.
132
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO; die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
133
Gegenstandswert für das Verfahren in erster und zweiter Instanz (im Verhältnis
zwischen dem Kläger zu 2) und den Beklagten):
134
610.427,95 DM
135
Leistungsantrag: 461.690,45 DM
136
1. Feststellungsantrag:
137
163,-- DM täglich x 365 x 5 = 297.475,-- DM gemäß § 17 GKG,
138
davon 50 % = 148.737,50 DM)
139
Wert der Beschwer für den Kläger zu 2): über 60.000,-- DM
140
Klarstellend sei auf folgendes hingewiesen:
141
Soweit durch die allein vom vormaligen Kläger zu 1) verursachte Streitwerterhöhung im
Hinblick auf den von diesem gestellten Schmerzensgeldantrag (Wert: 204.000,-- DM)
erhöhte Gerichtsgebühren angefallen sind, die nicht der für den Kläger zu 2) als
Sozialhilfeträger gemäß § 64 Abs. 3 S. 2 SGG-X geltenden Kosten- und
Gebührenfreiheit unterliegen, werden diese gemäß § 8 Abs. 1 GKG niedergeschlagen,
nachdem vor Ausscheiden des Klägers zu 1) aus dem Verfahren aufgrund des von ihm
am 10.11.1997 mit den Beklagten geschlossenen Vergleichs vom Gericht keine
diesbezügliche Kostentragungsregelung herbeigeführt worden ist.
142
Soweit die durch den Schmerzensgeldantrag des vormaligen Klägers zu 1) veranlasste
Streitwerterhöhung auch erhöhte außergerichtliche Kosten der Beklagten verursacht
143
hat, tragen diese die Beklagten selbst, weil in dem mit dem Kläger zu 1) geschlossenen
Vergleich zum Ausdruck gekommen ist, dass gegen diese keine außergerichtlichen
Kosten der Beklagten geltend gemacht werden sollten.