Urteil des OLG Köln vom 19.03.1999

OLG Köln (bus, fahrer, behinderung, fahrgast, aufmerksamkeit, sicherheit, unfall, alter, wagen, busfahrer)

Oberlandesgericht Köln, 19 U 156/98
Datum:
19.03.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
19. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
19 U 156/98
Vorinstanz:
Landgericht Köln, 20 O 210/97
Schlagworte:
Sorgfaltsanforderungen Busfahrer Anfahren Haltestelle
Normen:
BGB §§ 254, 823, StVG §§ 7, 8a, 9, 18
Leitsätze:
Ein Busfahrer muss sich beim Anfahren einer Haltestelle wie beim
Abfahren nur ausnahmsweise vergewissern, ob die Fahrgäste Halt oder
Platz im Wagen gefunden haben. In der Regel sind die Fahrgäste für
ihren sicheren Halt selbst verantwortlich. (Anschluss an BGH NJW 1993,
654).
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 20. Zivilkammer des
Landgerichts Köln vom 19.08.1998 - 20 O 210/97 - wird auf ihre Kosten
zurückgewiesen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
1
Die zulässige Berufung der Klägerin bleibt erfolglos. Übergeleitete Ansprüche der
Zeugin U. nach den §§ 7, 8 a, 18 StVG, 823, 831 BGB gegen die Beklagten aus dem
Unfall vom 24.01.1997 bestehen nicht.
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Die Beweisaufnahme hat nicht ergeben, dass der Beklagte zu 2. beim Anfahren der
Haltestelle abrupt gebremst hat. Vielmehr hat der Sachverständige L. anhand der von
ihm ausgewerteten Diagrammscheibe des Busses für die letzten 10 m eine
durchschnittliche Bremsung von 2,31 m/s² ermittelt. Anhaltspunkte für einen
ungleichmäßigen Bremsvorgang hatte der Sachverständige nicht. Dieser Bremsvorgang
dauerte 3 sec. In dieser Zeit wurde der Bus von 25 km/h auf 0 abgebremst. Den von der
Zeugen U. erwähnten "starken Ruck" konnte der Sachverständige nicht bestätigen, und
zwar auch nicht für den Beginn des Bremsvorgangs, der in der dem Gutachten
beigefügten graphischen Darstellung durch einen deutlichen Knick gekennzeichnet
wird. Allerdings konnte er sich vorstellen, " dass die von mir gemessene Verzögerung
bei einer alten Dame, so wie ich sie eben hier gesehen habe, schon zu einem Sturz
führen kann, wenn sie sich nicht festhält." Die Zeugen U. war zur Unfallzeit 69 Jahre alt.
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Diese Feststellungen reichen für eine Haftung der Beklagten nicht aus. Der BGH hat
sich mit einem Fall befaßt, in dem eine 65-jährige Frau nach dem Einsteigen in einen
Bus durch die Vordertür beim Anfahren zu Fall gekommen war, als sie mit einer Tasche
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in jeder Hand durch den Mittelgang zu einem Platz in der Busmitte ging (NJW 1993,
654). Er hat hier die Grundsätze angewendet, der er früher für Fahrten in einem
Großraumwagen einer Straßenbahn aufgestellt hatte (VersR 1972, 152). Danach muß
sich der Wagenführer nur ausnahmsweise vergewissern, ob der Fahrgast einen Platz
oder Halt im Wagen gefunden hat, etwa dann, wenn er bemerkt hat, dass ein
Gehbehinderter oder ein Blinder den Wagen bestiegen hat. Auch im Bus sei der
Fahrgast in aller Regel sich selbst überlassen und könne nicht damit rechnen, dass der
Fahrer sich um ihn kümmere, der noch mehr als der Straßenbahnfahrer seine
Aufmerksamkeit auf die übrigen Verkehrsteilnehmer richten müsse, da sein Fahrzeug
sich nicht auf Schienen bewege, sondern im freien Verkehrsfluß gesteuert werden
müsse. Der BGH führt dann weiter aus (NJW 1993, 654, 655):
"Vielmehr kann eine solche Verpflichtung (: des Fahrers zu besonderer Aufmerksamkeit)
nur dann ausnahmsweise bejaht werden, wenn für den Fahrzeugführer eine
schwerwiegende Behinderung des Fahrgastes erkennbar ist, welche ihm die
Überlegung aufdrängt, daß der Fahrgast ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet ist.
Die vom BerGer. angenommene Behinderung der Kl. kann nicht mit so
schwerwiegenden Beeinträchtigungen gleichgesetzt werden, wie sie der Senat in dem
genannten Urteil aufgezeigt hat. Das BerGer. führt insoweit das Alter der Kl. an sowie
den Umstand, daß sie zwei schwere Taschen mit sich geführt habe, und meint, daraus
habe der Bekl. zu 1 auf eine Gefährdung wie bei einem körperlich Behinderten
schließen müssen. ... Da das Alter der Kl. nach heutigem Verständnis nicht als
Beeinträchtigung ihrer Bewegungsfähigkeit anzusehen ist ... , bleibt als tatsächliche
Behinderung nur der Umstand, daß sie zwei gefüllte Taschen mit sich trug ... Auch eine
Behinderung durch erhebliches Gewicht der Taschen könnte ... nicht mit Behinderungen
wie in den genannten Beispielsfällen verglichen werden, weil es sich jedenfalls nicht
um eine zwingende, unbehebbare Behinderung gehandelt hat, welcher nur durch
Rücksichtnahme seitens des Fahrers abgeholfen werden konnte. Vielmehr hätte sich
die Kl. im Interesse ihrer eigenen Sicherheit beispielsweise mit einer Tasche zu dem
angestrebten Sitzplatz begeben und sich dabei mit einer Hand festhalten, sodann die
Tasche abstellen und die zweite Tasche nachholen können, zumal der Bus fast leer und
deshalb hinreichend übersichtlich für eine derartige Vorgehensweise war, oder aber
sich beim Fahrer erkundigen können, ob der Bus noch so lange halten werde, daß sie
mit beiden Taschen den angestrebten Sitzplatz erreichen werde. Konnte mithin die Kl.
selbst in zumutbarer Weise für ihre Sicherheit sorgen, so drängte sich für den Busfahrer
nicht wie in den genannten Beispielsfällen die Überlegung auf, daß die Kl. beim
Anfahren möglicherweise stürzen werde, so daß er nicht verpflichtet war, sie nach
Vorzeigen des Fahrausweises weiter im Auge zu behalten. Mit seiner
entgegengesetzten Auffassung überspannt das BerGer. die Anforderungen an die
Sorgfaltspflicht des Fahrzeugführers und berücksichtigt insbesondere nicht hinreichend,
daß Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel häufig mehrere Gepäckstücke tragen und es
schon von daher den Fahrer überfordern würde, jeweils zu beobachten, wieviele
Gepäckstücke ein Fahrgast bei sich trägt und Überlegungen dahin anzustellen, ob diese
ihn möglicherweise bei der Suche nach einem Halt oder Sitzplatz im Fahrzeug
behindern können. Hielte man den Fahrer für verpflichtet, derartige Beobachtungen und
Überlegungen anzustellen, auch wenn sich kein Hinweis auf eine unbehebbare
Behinderung des Fahrgastes im oben dargelegten Sinn ergibt, so würde das in
unvertretbarem Maß seine Aufmerksamkeit von der Beobachtung derjenigen Vorgänge
ablenken, welche er im Interesse der Verkehrssicherheit im Auge behalten muß.
Insoweit kann dem BerGer. auch nicht darin gefolgt werden, daß der Bekl. zu 1 nicht in
nennenswertem Maß anderweitig beansprucht gewesen sei. Vielmehr hatte er seine
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Aufmerksamkeit in erster Linie dem Anfahrvorgang zu widmen, wobei er nicht nur die
übrigen Verkehrsteilnehmer zu beobachten, sondern zusätzlich noch einen Bus in
Gegenrichtung abzuwarten hatte."
Im vorliegenden Fall ist der Unfall nicht nach dem Einsteigen, sondern vor dem
Anhalten geschehen. Das ändert aber an der rechtlichen Beurteilung nichts. Vielmehr
bestand für den Beklagten zu 2. noch weniger ein Anlaß, auf die Zeugin U. besonders
zu achten, die vorher ohne Schwierigkeiten in den Bus eingestiegen war und Platz
gefunden hatte. Außerdem kann vor dem Aussteigen der Fahrgast selbst entscheiden,
wann er von seinem Sitz aufsteht und sich in die weniger sichere Stehposition begibt,
während er nach dem Einsteigen insofern davon abhängig ist, wie schnell der Fahrer
abfährt. Die Zeugin litt auch nicht unter so schwerwiegenden Beeinträchtigungen, wie
sie der BGH zur Voraussetzung für eine erhöhte Aufmerksamkeit des Fahrers gemacht
hat. Sie benutzte zwar einen Gehstock, aber nicht weil sie gehbehindert ist, sondern
weil sie schlecht sieht. Damit ist sie aber andererseits nicht einem Blinden
gleichzustellen. Sie selbst und auch die Klägerin haben den Unfall nicht auf schlechtes
Sehen zurückgeführt. Zu dem mit dem BGH-Fall vergleichbaren Alter der Zeugin und zu
ihrem Gepäck, ob nun eine Tasche oder zwei, kann auf die Ausführungen des BGH
verwiesen werden. Die Zeugin konnte auch hier "selbst in zumutbarer Weise für ihre
Sicherheit sorgen", indem sie wartete, bis der Bus hielt, wenn sie sich während der
Fahrt nicht ausreichend festhalten konnte. Es ist nicht ersichtlich, dass sie den Ausgang,
etwa wegen Überfüllung des Busses, nur rechtzeitig erreichen konnte, wenn sie vor dem
Anhalten aufstand. Außerdem saß sie nur zwei Reihen hinter dem Fahrer und hätte sich
damit notfalls auch ohne weiteres bemerkbar machen können.
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Unter diesen Umständen sind Ansprüche aus Verschulden (§§ 823, 831 BGB) mit dem
BGH zu verneinen. Da jeder konkrete Anhaltspunkt für ein Fehlverhalten des Beklagten
zu 2. fehlt, kann die Verschuldensvermutung nach § 18 I 2 StVG ebenso wie die
Gefährdungshaftung der Beklagten zu 1. (§ 7 StVG) jedenfalls hinter dem
Eigenverschulden der Zeugin U. zurücktreten (§§ 9 StVG, 254 BGB)..
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 I ZPO. Das Urteil ist nach den §§ 708 Nr. 10,
713 ZPO vorläufig vollstreckbar.
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Wert der Beschwer der Klägerin: 21.107,00 DM
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