Urteil des OLG Köln vom 17.03.1999

OLG Köln (fahrbahn, geschwindigkeit, zeitpunkt, stand, kläger, geschwindigkeitsüberschreitung, gefährdung, verkehr, fahrzeug, einfahrt)

Oberlandesgericht Köln, 13 U 82/98
Datum:
17.03.1999
Gericht:
Oberlandesgericht Köln
Spruchkörper:
13. Zivilsenat
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 U 82/98
Vorinstanz:
Landgericht Aachen, 10 O 26/97
Normen:
STVO §§ 9 V, 10; STVG § 17
Leitsätze:
1. Wenn zum Fahrtrichtungswechsel (in Gegenrichtung) eine
gegenüberliegende Grundstückseinfahrt zwar mitbenutzt, die Fahrbahn
aber nicht gänzlich verlassen wird, liegt ein Wenden i.S.d. § 9 V StVO
vor. Die Anwendung des § 10 StVO setzt dagegen voraus, daß das
Fahrzeug die Fahrbahn vor dem erneuten Einfahren vollständig
verlassen hat. 2. Vergewissert sich der umkehrende Pkw-Fahrer trotz
beschränkter Sichtverhältnisse nicht nochmals über den fließenden
Verkehr, bevor er - nach zumindest teilweiser Inanspruchnahme der
Grundstückseinfahrt - wieder auf die Fahrbahn einfährt, so trifft ihn auch
dann eine überwiegende Haftung (hier: 2/3), wenn ein mit erheblich
überhöhter Geschwindigkeit (hier: mindestens 75 km/h statt zulässiger
50 km/h) herannahender Kradfahrer zur Vermeidung einer Kollision eine
starke Bremsung vornimmt und hierbei stürzt.
Rechtskraft:
rechtskräftig
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das am 20. Februar 1998 verkündete
Urteil des Landgerichts Aachen - 10 O 26/97 - wird zurückgewiesen. Die
Beklagten haben die Kosten der Berufung zu tragen. Das Urteil ist
vorläufig vollstreckbar.
Entscheidungsgründe
1
Die zulässige Berufung der Beklagten kann in der Sache keinen Erfolg haben. Der
Senat folgt den Gründen des angefochtenen Urteils (§ 543 Abs.1 ZPO) nach Maßgabe
folgender, durch die Berufungsangriffe veranlaßter ergänzender Ausführungen:
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1. Der mit der Berufung unternommene Versuch, das Unfallereignis als für die
Beklagte zu 1. unabwendbar i.S.d. § 7 Abs.2 StVG darzustellen, ist weder in
tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht haltbar.
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a. Die Beklagte zu 1. hat selbst zu keinem Zeitpunkt behauptet, sich nach Einleiten
des in einem Zuge durchgeführten Wendevorganges nochmals über den
fließenden Verkehr vergewissert zu haben. Hätte sie dies getan, bevor sie ihr unter
(zumindest teilweiser) Inanspruchnahme des Gehweges (im Einfahrtbereich zu
dem Imbißstand) vorgenommenes Wendemanöver abschloß und mit ihrem PKW
in Gegenrichtung wieder (vollständig) auf die Fahrbahn einschwenkte, dann hätte
sie nicht nur das Fahrzeug des Zeugen K. (als erstes einer aus Richtung M.
ankommenden Fahrzeugkolonne), sondern auch den Motorradfahrer (früheren
Kläger) sehen müssen, der zumindest im Überholen des Zeugen K. begriffen war,
wenn er dieses Manöver nicht sogar schon weitgehend abgeschlossen hatte. Was
der Zeuge E. schon zuvor sehen konnte, hätte sie in der Endphase ihres
Wendevorganges (vor dem Einschwenken auf die Fahrbahn) ebenfalls sehen
können, wenn sie nicht blindlings darauf vertraut hätte, daß sich in der
Zwischenzeit (für den Wendevorgang benötigte sie ausweislich des Gutachtens
B., Seite 27, mehr als 7 Sekunden) kein Gegenverkehr so genähert hatte, daß sie
ihn mit dem Einschwenken auf die Fahrbahn gefährden konnte.
b. Die erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung des Kradfahrers (mindestens 75
km/h anstelle der zulässigen 50 km/h) läßt den Anscheinsbeweis für ein
unfallursächliches Fehlverhalten des Wendenden nicht entfallen. Das könnte erst
dann der Fall sein, wenn die ernsthafte Möglichkeit gegeben wäre, daß der
Kradfahrer zu dem Zeitpunkt, als die Beklagte zu 1. im Begriff war, aus dem zum
Wenden mitbenutzten Einfahrtsbereich zum Imbißstand wieder (vollständig) auf
die Fahrbahn einzufahren, noch so weit entfernt war, daß die Beklagte zu 1. auch
bei - jedenfalls in Grenzen - in Rechnung zu stellender Überschreitung der
zulässigen Höchstgeschwindigkeit des Kradfahrers dessen Gefährdung für
ausgeschlossen halten durfte (vom BGH in NJW-RR 1986, 384 bejaht für den
Zusammenstoß eines wendenden mit einem entgegenkommenden Kraftwagen,
dessen Geschwindigkeit mindestens 100 km/h statt zulässiger 50 km/h betrug).
Eine solche ernsthafte Möglichkeit, deren Tatsachengrundlage des vollen
Beweises bedarf, um den Anscheinsbeweis erschüttern zu können (vgl. BGH,
VersR 1995, 723), hat das Landgericht hier aufgrund der sachverständig
ermittelten Zeit-Wege-Verhältnisse und der zutreffend gewürdigten
Zeugenaussagen mit Recht ausgeschlossen. Die Berufung zeigt nichts auf, was
Veranlassung zu einer anderen Beurteilung geben könnte (vgl. auch OLG Hamm,
OLGR 1992, 201: "Innerorts muß mit einer Geschwindigkeit von 72 km/h, die einer
Überschreitung von 44% entspricht, gerechnet werden").
2. Die nachgewiesene Geschwindigkeitsüberschreitung des Kradfahrers (zum
Zeitpunkt des Reaktionsbeginns) ist vom Landgericht bei der Schadensabwägung
nach § 17 StVG im Verhältnis zum Fehlverhalten der Beklagten zu 1. auch nicht zu
gering gewichtet worden.
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a. Es ist unschädlich, daß das Landgericht die von der Beklagten zu 1. geforderte
Sorgfalt am Maßstab des § 10 StVO gemessen hat. Die Anwendung des § 10
StVO setzt voraus, daß die Beklagte zu 1. die Einfahrt zum Imbißstand in der
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Weise für ihr Fahrmanöver genutzt hat, daß sie die Fahrbahn zunächst vollständig
verlassen und anschließend wieder auf die Fahrbahn eingefahren ist. Dagegen
liegt ein Wenden i.S.d. § 9 Abs.5 StVO vor, wenn die Grundstückseinfahrt zwar
mitbenutzt wurde, das Fahrzeug aber die Straße nicht gänzlich verlassen, sondern
wenigstens mit einem Teil auf ihr verblieben ist (vgl. OLG Koblenz, DAR 1986,
155), erst recht, wenn der Wendevorgang auf diese Weise in einem Zuge
durchgeführt wurde. Im Ergebnis ist diese rechtliche Einordnung hier jedoch ohne
Belang, weil das Gesetz sowohl beim Einfahren aus einem Grundstück auf die
Straße (§ 10 S.1 StVO) als auch beim Wenden (§ 9 Abs.5 StVO) verlangt, daß
eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sein muß. Das
maßgebliche Fehlverhalten der Beklagten zu 1. liegt jedenfalls darin, daß sie sich
nach der Fahrtrichtungsänderung vor dem Einfahren auf die Fahrbahn nicht über
die Gefahrlosigkeit dieses Vorganges vergewissert hat.
b. Bei der Gewichtung der dem früheren Kläger vorzuwerfenden Überschreitung der
zulässigen Geschwindigkeit um mindestens 50% ist zu berücksichtigen, daß
überhöhte Geschwindigkeit als eine der häufigsten Unfallursachen gilt; vor allem
aber ist der Tatsache Rechnung zu tragen, daß eine lineare Erhöhung der
Geschwindigkeit mit einer dem Quadrat der Geschwindigkeit entsprechenden
Erhöhung der Bewegungsenergie einhergeht. Bei Einhaltung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h hätte das Krad denn auch mühelos schon bei
einer sehr schwachen Abbremsung (mit einem Verzögerungswert von 2,5 m/s2)
noch mit einem Abstand von mehr als 10 m hinter dem PKW der Beklagten zu 1.
zum Stillstand gebracht werden können (Seite 29 des Gutachtens B.). So aber war
wegen der nachweisbar hohen Ausgangsgeschwindigkeit des Kradfahrers für eine
räumliche Vermeidbarkeit des Unfalls die Einleitung einer sehr starken Bremsung
erforderlich, die dazu geführt hat, daß der frühere Kläger die Beherrschung über
sein Motorrad verloren hat und gestürzt ist.
c. Gleichwohl wiegt die der Beklagten zu 1. anzulastende schadensursächliche
Verantwortlichkeit deutlich höher. An der primären Verantwortlichkeit der
Beklagten zu 1. für die Gefahrlosigkeit ihres Wendemanövers ändert auch die
erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung des Kradfahrers nichts (vgl. auch
hierzu OLG Hamm, a.a.O.: "Fährt der von hinten Herankommende mit mindestens
72 km/h [bei zulässigen 50 km/h], trifft ihn wegen der besonderen
Sorgfaltspflichten des Wendenden gleichwohl keine höhere Mithaftung als rund
30%"). Die Beklagte zu 1. mußte mit einem derartigen Verkehrsverstoß durchaus
rechnen. Sie hat sich aber nach Einleitung des Wendevorganges überhaupt nicht
mehr um etwa in der Zwischenzeit herannahenden Verkehr gekümmert, obwohl
sie - selbst bei einem Wendebeginn von der Fahrbahnmitte aus - nur eine so
begrenzte Sicht auf den weiteren Straßenverlauf (Rechtskurve) hatte, daß sie nicht
blindlings darauf vertrauen durfte, den Wendevorgang (unter Mitbenutzung des
Einfahrtbereichs zum Imbißstand) ohne Gefährdung des Gegenverkehrs
abschließen zu können. Aus einer zuvor in der Fahrbahnmitte eingeordneten
Position mußte sie nach den Feststellungen des Sachverständigen ohnehin mit
der ganzen Breite ihres Fahrzeugs auf den - im Bereich der Einfahrt abgesenkten -
Gehweg fahren. Als sie von hier aus wieder in die Fahrbahn der Eifelstraße
eingefahren ist, "waren die aus Richtung M. herannahenden Fahrzeuge, also auch
der Krad-Fahrer, bereits deutlich in ihrem Sichtbereich" (Seite 30 des Gutachtens
B.). Vorher anzuhalten, hätte sich der Beklagten zu 1. um so mehr aufdrängen
müssen, als sie ohnehin unmittelbar nach Abschluß des Wendevorganges am
rechten Straßenrand anhalten wollte und angehalten hat, um ihre Beifahrerin
aussteigen zu lassen. Für den Kradfahrer war diese Absicht zum Zeitpunkt seiner
Reaktionsaufforderung indessen nicht erkennbar; er mußte vielmehr damit
rechnen, daß die Beklagte zu 1. blindlings weiter in seine Fahrspur hineinfahren
würde, um ihre Fahrt dort fortzusetzen.
Nach alledem ist die im angefochtenen Urteil vorgenommene Haftungsverteilung von
1/3 zu Lasten des früheren Klägers und 2/3 zu Lasten der Beklagten nicht zu
beanstanden.
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Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 97 Abs.1, 708 Nr. 10, 713
ZPO.
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Streitwert der Berufung und Beschwer der Beklagten durch dieses Urteil: 16.327,33 DM.
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