Urteil des OLG Koblenz vom 21.09.2004
OLG Koblenz: sicherungsverwahrung, neue tatsache, körperliche unversehrtheit, besondere gefährlichkeit, persönliche freiheit, unterbringung, bad, vorzeitige entlassung, resozialisierung
Strafrecht
OLG
Koblenz
21.09.2004
1 Ws 561/04
Straftäter, die schon bei ihrer Verurteilung als besonders gefährlich eingeschätzt wurde, gegen die jedoch aufgrund der
früheren Gesetzeslage noch keine Sicherungsverwahrung verhängt werden konnte, und die sich im anschließenden
Strafvollzug jeglicher Resozialisierung und Therapierung verweigern, können allein wegen dieser
Verweigerungshaltung nicht nach § 66 b StGB in anschließende (nachträgliche) Sicherungsverwahrung genommen
werden. Die Verweigerungshaltung wird zwar erst im Strafvollzug erkennbar; sie allein lässt aber die Gefährlichkeit
weder erstmals hervortreten noch rechtfertigt sie deren Neubewertung; sie macht nur deutlich, dass die bereits
bestehende und erkannte Gefährlichkeit durch den Vollzug nicht gemindert oder beseitigt wurde. Das bloße
Fehlschlagen einer erhofftgen Resozialisierung bei ansonsten unauffälligem und ordnungsgemäßem Vollzugsverhalten
ist ein Problem, das von § 66 b StGB nicht erfasst wird und nach dem Willen des Gesetzgebers auch nicht erfasst werden
sollte.
Geschäftsnummer:
1 Ws 561/04
1004 Js 8403/95 StA Bad Kreuznach
In der Unterbringungssache
g e g e n
G….. U.. C…..,
geboren am ... Dezember 1961 in R……….,
zur Zeit untergebracht in der Justizvollzugsanstalt Diez,
- Verteidiger: Rechtsanwalt
w e g e n versuchter Vergewaltigung u.a.
hier: einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von
Tzschoppe und die Richter am Oberlandesgericht Völpel und Summa
am 21. September 2004 b e s c h l o s s e n:
Auf die Beschwerde des Verurteilten wird der Unterbringungsbefehl der 1. Strafkammer des Landgerichts Bad Kreuznach
vom 3. August 2004 aufgehoben.
Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers.
G r ü n d e:
I.
Die Beschwerde des Verurteilten C….. richtet sich gegen den Unterbringungsbefehl des Landgerichts Bad Kreuznach
vom 3. August 2004, mit dem das Gericht – gestützt auf die am 29. Juli 2004 in Kraft getretenen §§ 275a Abs. 5 Satz 1
StPO, 66b Abs. 2 StGB – seine einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet und so seine für
den 6. August 2004 vorgesehene Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt Diez – nach vollständiger Verbüßung einer
langjährigen Freiheitsstrafe – verhindert hat.
Die Begründung der angefochtenen Entscheidung lautet:
„G….. U.. C….. verbüßt zurzeit in der Justizvollzugsanstalt Diez eine Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Jahren aus dem Urteil
des Schwurgerichts beim Landgericht Bad Kreuznach vom 29. Mai 1996. Strafende ist auf den 11. August 2004 notiert.
Es ist nunmehr die einstweilige Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung anzuordnen, § 275a Abs. 5
StPO.
Denn es sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, dass G….. C..... gemäß § 66b Abs. 2 StPO durch Urteil der
Schwurgerichtskammer nachträglich in der Sicherungsverwahrung unterzubringen sein wird. Die nun erkennbaren
Tatsachen, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, ergeben sich aus
Folgendem:
Der heute 42‑Jährige hat bereits 20 Jahre und 7 Monate seines Lebens in Jugend‑ und Strafhaft verbracht, weil er seit
1978 vielfach strafrechtlich in Erscheinung getreten ist:
1.
30.10.1978 Staatsanwaltschaft Bad Kreuznach: Einstellung eines Verfahrens gemäß § 45 JGG wegen unerlaubten
Entfernens vom Unfallort.
2.
13.11.1979 Amtsgericht Bad Kreuznach: Verwarnung wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Der Verurteilte hatte am 9.
Juli 1978 drei Jugendliche geschlagen und sie im Gesicht verletzt.
3.
17.01.1980 Amtsgericht Bad Kreuznach: Verwarnung wegen Trunkenheit im Verkehr.
4.
24.07.1981 Amtsgericht Bingen: 1 Monat Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung wegen Trunkenheit im
Verkehr.
5.
20.08.1981 Amtsgericht Bad Kreuznach: Unter Einbeziehung der vorgenannten Entscheidung: 9 Monate Jugendstrafe
wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung und mit Fahren ohne Fahrerlaubnis.
C..... hatte am 07.08.1980 bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille einen Fußgänger überfahren, der seinen
Verletzungen erlegen war. Die Jugendstrafe wurde voll verbüßt.
6.
Am 15.07.1985 wurde C..... durch Urteil der Schwurgerichtskammer beim Landgericht Bad Kreuznach (Js 1525/84 Ks)
wegen Totschlags und Diebstahls zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Jahren und 8 Monaten verurteilt.
Er hatte am 14. Februar 1984 einen Arbeitskollegen im Streit erschlagen und dem Sterbenden 30 DM entwendet.
Diese Strafe verbüßte C..... vollständig bis zum 14. Oktober 1994 in der Justizvollzugsanstalt Diez. Eine vorzeitige
Entlassung wurde von der Strafvollstreckungskammer abgelehnt, weil der Verurteilte keinerlei Bereitschaft zeigte, sich
mit seiner Alkoholproblematik auseinander zusetzen und sich weigerte, an der Vollzugsplankonferenz teilzunehmen.
G..... C..... blieb nur bis zum 13. August 1995 auf freiem Fuß.
Zunächst hatte er am 30. Juni 1995 mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,43 Promille ohne Fahrerlaubnis ein nicht
versichertes Leichtkraftrad im öffentlichen Straßenverkehr geführt.
Am 13. August 1995 hatte er sich unter einem Vorwand von einer 34‑jährigen Taxifahrerin zu einem abgelegenen Ort in
der Gemarkung W………….. fahren lassen, um die Frau dort zu vergewaltigen. Als es dem Opfer gelungen war, aus dem
Pkw zu fliehen, hatte C..... sie mit dem Taxi verfolgt und absichtlich angefahren, worauf die Frau in einem Acker zum
Liegen kam. Hier hatte C..... sie bis zum Eintritt der Bewusstlosigkeit gewürgt und weitgehend entkleidet. Ob es zum
vollendeten Geschlechtsverkehr gekommen war, konnte ebenso wenig aufgeklärt werden, wie die Frage, ob er sein
Opfer mit Tötungsvorsatz gewürgt hatte. Auch bei dieser Tat war C..... mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,69
Promille erheblich betrunken gewesen. Einsatzstrafe für die versuchte Vergewaltigung war Freiheitsstrafe von 8 Jahren.
Am 29. Mai 1996 wurde er zu der oben bezeichneten Gesamtfreiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt.
Die Gesamtwürdigung dieser Taten, der Persönlichkeit des Verurteilten und seiner Entwicklung während des
Strafvollzugs zeigt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer
seelisch und körperlich schwer geschädigt werden.
G..... C..... hat keinen Schulabschluss und hat keinen Beruf erlernt. Zuletzt war er in den 80‑er Jahren als Hilfsarbeiter tätig
gewesen. Jahrelang hat er Alkohol im Übermaß getrunken.
Nach den vorläufigen Stellungnahmen der Bediensteten der Justizvollzugsanstalt Diez hat G..... C..... während der
gesamten Dauer auch des derzeitigen Strafvollzugs keine Behandlungsangebote angenommen und die gebotene
Aufarbeitung seiner Persönlichkeitsproblematik verweigert. Das Angebot, nach der Entlassung in einer Einrichtung des
betreuten Wohnens Unterkunft zu finden, hat er abgelehnt. Noch im Januar 2004 hat er wiederum auf die Teilnahme an
der Vollzugskonferenz verzichtet. Er hat weder Interesse an einem weiterführenden Schulbesuch, noch einer
qualifizierten Berufsausbildung bekundet. Auch eine Aufarbeitung der Ursachen seiner Delinquenz war aufgrund seiner
totalen Verweigerungshaltung nicht möglich.
Bei einem so disponierten Verurteilten ist die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung mit einem hohen Maß
an Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Insbesondere die schnelle Rückfallgeschwindigkeit im Jahre 1994/1995 lässt bei
unveränderter Persönlichkeitsstruktur künftige schwere Taten gleichfalls dringend besorgen.“
II.
Das Rechtsmittel hat Erfolg.
Nach § 275a Abs. 5 Satz 1 StPO kann das Gericht einen Unterbringungsbefehl erlassen, wenn dringende Gründe für die
Annahme sprechen, dass nachträgliche Sicherungsverwahrung nach § 66b StGB angeordnet wird. Dies ist hier zu
verneinen, weil nach Aktenlage bereits zweifelhaft, mangels konkreter Anknüpfungstatsachen jedenfalls nicht feststellbar
ist, dass der Beschwerdeführer zu dem von § 66b StGB erfassten Personenkreis gehört, für den der Gesetzgeber das
Verfahren nach § 275a StPO zum Zwecke der Prüfung der Notwendigkeit nachträglicher Sicherungsverwahrung und der
Anordnung dieser Maßregel geschaffen hat.
1.
Unabhängig von der Kontroverse, ob und unter welchen Voraussetzungen die nachträgliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung verfassungsrechtlich (un-)bedenklich wäre (zu den Bedenken siehe das Minderheitsvotum der
Richter Broß, Osterloh und Gerhardt zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10.02.2004, in:
www.bverfg.de/entscheidungen/rs20040210_2bvr083402.html
Absatz-Nr. 207 f.; NJW 2004, 750), steht außer Zweifel,
dass die Entscheidung darüber, welcher Täterkreis und welche Fallgestaltungen erfaßt werden sollen, nur der
Gesetzgeber treffen kann. Die Gerichte dürfen die Maßregel (und vorausgehende Sicherungsmaßnahmen) nur
anordnen, wenn dies vom Wortlaut sowie Sinn und Zweck des Gesetzes gedeckt ist – wobei im Sanktionsrecht der
mögliche Wortsinn die äußerste Grenze zulässiger Auslegung markiert.
a) Der am 29. Juli 2004 in Kraft getretene § 66b StGB lautet wie folgt:
Werden nach einer Verurteilung
persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder eines Verbrechens nach den §§
250
,
251
, auch in
Verbindung mit den §§
252
,
255
, oder wegen eines der in §
66
vor Ende des
Vollzugs dieser Freiheitsstrafe Tatsachen erkennbar, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die
Allgemeinheit hinweisen
wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs
ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder
körperlich schwer geschädigt werden, und wenn die übrigen Voraussetzungen des §
66
erfüllt sind.
Werden Tatsachen der in Absatz 1 genannten Art nach einer Verurteilung
fünf Jahren wegen eines oder mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche
Freiheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder nach den §§
250
,
251
, auch in Verbindung mit §
252
oder §
255
,
erkennbar
Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und ergänzend seiner Entwicklung während des
Strafvollzugs ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer
seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. (Hervorhebungen durch Senat)
(3) …(hier ohne Bedeutung)“
Wie bereits die landesrechtlichen Vorläufer des § 66b StGB (siehe dazu BVerfG a.a.O.; OLG Oldenburg u. OLG Nürnberg,
beide StV 2004, 502) setzt die neue bundesrechtliche Regelung schon nach ihrem Wortlaut voraus, dass während des
Strafvollzugs Tatsachen zutage treten, welche geeignet sind, die Persönlichkeit des Verurteilten und damit das
Rückfallrisiko in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Tatsachen, die bis zum Schluß der tatrichterlichen
Hauptverhandlung bekannt oder für das Gericht erkennbar waren, scheiden aus. Es genügt also nicht, dass altbekannte
Tatsachen – wie etwa die bereits im Urteil dokumentierte kriminelle Karriere des Verurteilten – die Annahme
rechtfertigen, er werde alsbald nach der Haftentlassung wieder schwere Straftaten begehen. Dass die in dem
angefochtenen Beschluss aufgelisteten früheren Straftaten und (Vor-)Verurteilungen entgegen der Auffassung der
Strafkammer keine „nun erkennbaren Tatsachen“sind, versteht sich von selbst und bedarf keiner näheren Begründung.
c) Dieses einengende Tatbestandsmerkmal, das die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung von
Sicherungsverwahrung auf einige wenige Verurteilt
beschränkt, war vom Gesetzgeber gewollt.
Aus der im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Februar 2004 (a.a.O.) unter I. dargestellten Entwicklung ergibt
sich, dass es bei allen Gesetzgebungsinitiativen auf Bundesebene, aber auch in den Landesgesetzen immer nur um
Täter ging, „deren Gefährlichkeit sich erst im Lauf des Strafvollzugs ergibt“. Nachdem landesrechtliche Regelungen
mangels Gesetzgebungskompetenz der Länder für verfassungswidrig erklärt worden waren, musste eine Regelung auf
Bundesebene getroffen werden. § 66b StGB geht zurück auf einen Entwurf der Bundesregierung vom 10. März 2004 (BT-
Drs15/2887 v. 2. April 2004). In dessen Vorwort wurde ausgeführt:
„Das überragende Interesse der Allgemeinheit an effektivem Schutz vor bestimmten hochgefährlichen Straftätern gebietet
in Einzelfällen eine Inhaftierung über das Ende der Strafhaft hinaus, auch wenn im Urteil des erkennenden Gerichts die
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung noch nicht angeordnet war. Daher wurde mit dem Gesetz zur Einführung
der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl. I S. 3344) dem Gericht vor allem in Fällen
schwerer Gewalt- und Sexualdelinquenz die Möglichkeit eröffnet, sich die Entscheidung über die Anordnung der
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung für einen späteren Zeitpunkt vorzubehalten, wenn zur Zeit des Urteils ein
Hang des Täters i. S. d. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB noch nicht hinreichend sicher festgestellt werden konnte.
Daneben hatten sich einige Bundesländer sog. Straftäterunterbringungsgesetze gegeben, die eine weitere Möglichkeit
der Inhaftierung als hochgefährlich eingeschätzter Straftäter boten. Zwei dieser Gesetze hat das
Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 10. Februar 2004 (2 BvR 834/02 u. a.) nunmehr für unvereinbar mit der
Kompetenzordnung des Grundgesetzes erklärt. Gleichzeitig haben jedoch Erfahrungen aus der Anwendungspraxis der
seltenen Fällen
. Dabei handelt es sich um solche Fälle, in denen sich die
Gefährlichkeit des Täters erst nach der Verurteilung – ggf. sogar erst gegen Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe –
ergibt.
Der Entwurf schließt diese Lücke, indem er die bestehenden Regelungen der §§ 66 f. StGB und des § 106 Abs. 3 JGG
um die Möglichkeit ergänzt, die Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen.“
In der Begründung zu § 66 b StGB (BT-Drs15/2887 S. 11) heißt es u.a.:
„Die vorgeschlagene Regelung des § 66b enthält zunächst zwei Absätze, die bei unterschiedlichen formellen
Voraussetzungen die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gegen Straftäter
ermöglichen, die sich im Vollzug der Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil befinden. In beiden Konstellationen soll so
,
hochgefährlich erkannter
Auch die Begründungen der Alternativentwürfe einer Gruppe von CDU/CSU-Abgeordneten (BT-Drs. 15/2576 vom
2.3.2004) und des Bundesrates (BR-Drs. 177/04 vom 03.03.2004) belegen, dass im Gesetzgebungsverfahren jedenfalls
Einigkeit darüber bestand, dass von der – im Detail durchaus kontrovers diskutierten – Ergänzung der Regelungen über
erst während
der Haft
Folgerichtig findet sich auf der Internetseite des Bundesjustizministeriums (www.bmj.bund.de/enid/lq.html?druck=1), aus
dem der Regierungsentwurf stammt, unter dem 29. Juli 2004 folgende Mitteilung:
„Das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung, das auf dem Entwurf des
Bundesjustizministeriums beruht, tritt heute in Kraft. Damit hat das Bundesjustizministerium in Rekordzeit ein Gesetz
verabschiedet, das die Bevölkerung vor hochgefährlichen Straftätern schützt. Künftig können diese auch nach Ende der
wenn sich Anhaltspunkte für ihre Gefährlichkeit erst nach
ihrer Verurteilung ergeben
...
Das geltende Strafrecht bietet bislang zur Sicherung von hochgefährlichen Straftätern lediglich die Möglichkeit, die
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung unmittelbar im Urteil anzuordnen (§ 66 StGB) oder im Urteil die Anordnung
vorzubehalten (§ 66a StGB). Darüber hinaus wird es künftig die nachträgliche Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB)
seltenen Ausnahmefällen
deren besondere Gefährlichkeit sich erst im Vollzug herausstellt
Senat)
Weiter heißt es in der Mitteilung, dass es „einige wenige Verurteilte gibt, deren künftige Gefährlichkeit erst nach dem
Urteil erkennbar wird“.
2.
Kein Novum im Sinne des § 66b StGB wäre das für den Verurteilten negative Ergebnis einer erstmaligen
Gesamtwürdigung „alter“ Tatsachen (unter ergänzender Berücksichtigung des Vollzugsverhaltens) unter dem
Gesichtspunkt erhöhter Gefährlichkeit (so auch OLG Oldenburg a.a.O. zu § 1 NUBG). Ein solches Ergebnis kann, wie sich
bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes ergibt, nur am Schluß des in § 275a StPO geregelten Verfahrens stehen und
scheidet logischerweise als Anknüpfungspunkt für die weitere Prüfung der Notwendigkeit nachträglicher Anordnung von
Sicherungsverwahrung aus. Ob etwas anderes gilt, wenn sich Anhaltspunkte für eine erhöhte Gefährlichkeit des
Verurteilten erstmals aus einen gemäß § 454 Abs. 2 StPO eingeholten Gutachten ergeben, kann hier offen bleiben, weil
ein solches Gutachten nicht vorliegt.
3.
Was unter Tatsachen im Sinne des § 66b StGB zu verstehen ist, erschließt sich aus der Begründung des
Regierungsentwurfes (a.a.O S. 12) und den dort aufgeführten Beispielen:
„(Es)soll durch den Verzicht auf eine exemplarische oder „namentliche“ Nennung von Tatsachen (wie in den für
verfassungswidrig erklärten Landesgesetzen; Erg.d.Senats) zum Ausdruck gebracht werden, dass monokausale
Erklärungsmuster fehl am Platz sind. …
Damit sind z. B. wiederholte verbal-aggressive Angriffe auf Bedienstete der Justizvollzugsanstalt als Anknüpfungspunkt
für eine weitere Prüfung ebenso denkbar wie die Drohung des Verurteilten, nach der Entlassung weitere Straftaten zu
begehen, die Begehung einer erneuten Straftat während des Vollzugs der Freiheitsstrafe oder intensive Kontakte zu
einem gewaltbereiten Milieu aus der Haft heraus. Es entspricht schließlich dem der Neuregelung zugrunde liegenden
Sicherungszweck, nicht nur auf solche Tatsachen abzustellen, die während des Vollzugs der Freiheitsstrafe neu
eingetreten sind, sondern auch solche ausreichen zu lassen, die in diesem Zeitraum bekannt werden. Dem
Schutzinteresse der Allgemeinheit ist nur dann im gebotenen Umfang entsprochen, wenn es unerheblich ist, wann die
Tatsachen entstanden sind, sofern sie erst zu diesem späten Zeitpunkt berücksichtigt werden konnten. Sollte der
Verurteilte während des Freiheitsentzugs daher die Begehung weiterer Straftaten aus der Vergangenheit einräumen,
wäre auch dies eine prüfungsrelevante Tatsache.“
Tatsachen in diesem Sinne sind also in erster Linie Handlungen des Verurteilten, die Schlüsse auf eine deutlich erhöhte
Gefährlichkeit zulassen. Ob der Verurteilte diese Handlungen während des Strafvollzugs oder vorher begangen hat, ist
ohne Bedeutung. Entscheidend ist allein, dass es sich um Nova in dem Sinne handelt, dass sie erst nach der
Verurteilung bekannt oder erkennbar werden. Als weitere Nova, die Anknüpfungspunkte für die weitere Prüfung der
Notwendigkeit nachträglicher Anordnung von Sicherungsverwahrung sein können, kommen etwa psychische
Normabweichungen in Betracht, die erst während der Haftzeit diagnostiziert werden, möglicherweise aber bereits bei
Begehung der abgeurteilten Tat(en) vorhanden waren und ein deutlich erhöhtes Rückfallrisiko begründen können. Damit
ist aber zugleich auch die äußerste Grenze dessen abgesteckt, was als neue Tatsache i. S. von § 66 b StGB als
Anknüpfungspunkt aufgegriffen werden kann.
4
4
Der angefochtene Beschluss erschiene vertretbar, wenn die neue Vorschrift die Formulierungen der vom
Bundesverfassungsgericht verworfenen Landesgesetze übernommen hätte, nach denen als neue Tatsache vor allem
(„insbesondere“) eine resozialisierungswidrige Verweigerungshaltung („weil er im Vollzug… beharrlich die Mitwirkung an
der Erreichung des Vollzugsziels verweigert, namentlich eine rückfallvermeidende Psycho- oder Sozialtherapie
ablehnt…“; so z.B. BayStrUBG Art. 1 Abs.1) zu berücksichtigen sein sollte. Das ist jedoch gerade nicht geschehen: Das
Bundesgesetz hat entsprechend den ausdrücklichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
– siehe a.a.O. Absatz-Nr. 183: „Die von Verfassung wegen gebotene Gesamtwürdigung steht insbesondere einer
Übergewichtung der Verweigerung von Resozialisierung und Therapiemaßnahmen entgegen, wie sie der Wortlaut der
Landesgesetze nahe zu legen scheint...Es verengt den Blick…in unzulässiger Weise, wenn das Gericht eine
Unterbringung allein mit einer derartigen Verweigerungshaltung begründet…(Solche) Faktoren können nicht die
entscheidenden Gesichtspunkte sein; sie eignen sich allenfalls als zusätzliche Entscheidungshilfe. Andernfalls würde die
Unterbringung zu einer unverhältnismäßigen Sanktion für fehlendes Wohlverhalten im Vollzug. (Sie) können lediglich in
Verbindung mit früheren Taten und weiteren gewichtigeren Anhaltspunkten aus dem Vollzug als Indizien…
herangezogen werden“) –
solche Formulierungen nicht übernommen; es erwähnt stattdessen eine Verweigerungshaltung im Vollzug („Entwicklung
während des Strafvollzugs“) nur noch als einen neben anderen (neuen) Tatsachen bei der notwendigen
Gesamtwürdigung ergänzend in den Blick zu nehmenden Umstand, der für sich allein nie ausreichen könnte, eine nach
Vollverbüßung nachträglich festgesetzte Anschlussunterbringung zu rechtfertigen.
Das OLG Nürnberg (a.a.O) hat in Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungskonformen
Auslegung des Art. 1 BayStrUBG entschieden, dass die „bloße Feststellung fortdauernder Gefährlichkeit“ – und das
wichtigste Indiz dafür ist eine gescheiterte Resozialisierung – keine nach der Verurteilung eingetretene Tatsache ist.
Dass dem auch für die Auslegung des § 66b StGB zu folgen ist, gebietet bereits die Logik: Ein Verurteilter, dessen
bekannte Gefährlichkeit am Ende des Strafvollzugs schlimmstenfalls genauso hoch ist wie bei Strafantritt, gehört eben
nicht zu dem Täterkreis, dessen Gefährlichkeit sich „erst nach der Verurteilung – ggf. sogar erst gegen Ende des Vollzugs
.
Im Übrigen darf nicht übersehen werden, dass § 66b StGB nur zur Anwendung kommen kann, wenn nach dem
rechtskräftigen Urteil des erkennenden Gerichts die Sicherungsverwahrung nicht zu den Rechtsfolgen der Tat gehörte,
die rechtlich zulässig und im konkreten Fall geboten waren. Der mit der nachträglichen Anordnung der Maßregel
verbundene Eingriff in die Rechtskraft zuungunsten des Verurteilten bedarf einer besonderen Rechtfertigung, die
allenfalls dann mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein kann, wenn sie an Umstände anknüpft, die nach
Rechtskraft entstehen oder bekannt werden und geeignet sind, die Gefährlichkeit des Verurteilten in einem deutlich
anderenLicht erscheinen zu lassen. Der Nichteintritt der mit der Strafvollstreckung angestrebten (oder zumindest
erhofften) Resozialisierung genügt nicht. Wäre es anders, würde die neue Vorschrift nicht nur, wie vom Gesetzgeber
ausdrücklich beabsichtigt, in „seltenen Ausnahmefällen“ und für nur „einige wenige Verurteilte“ (siehe die o. zit. amtliche
Begründung sowie BVerfG, Absatz-Nr. 165 f.) greifen, sondern für eine Vielzahl, möglicherweise die Mehrzahl der zur
Haftentlassung anstehenden Schwerkriminellen.
Dies hat die Strafkammer verkannt. In ihren Beschlussgründen findet sich kein einziges Wort zu den nach dem
Gesetzeswortlaut, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und der Gesetzeshistorie augenfälligen Grenzen des
Anwendungsbereichs der Vorschrift, die vom Gesetzgeber auch ausdrücklich so gewollt waren und ersichtlich dem
Zweck dienten, die wegen ihrer Rückwirkung keineswegs unproblematische Vorschrift (siehe dazu insbesondere das
verfassungsgerichtliche Minderheitenvotum) „verfassungsgerichtsfest“ zu machen.
5.
Die Ausführungen des angefochtenen Beschlusses geben auch Anlass, auf die bereits durch den Gesetzeswortlaut
nahegelegte Prüfungsmethodik und -reihenfolge hinzuweisen: Nur wenn in einem ersten Schritt das Vorliegen neuer
Faktoren festgestellt wird, besteht ein sachlicher Grund für die Einleitung des Verfahrens nach § 275a StPO. Keinesfalls
darf mit einem Unterbringungsbefehl die Entlassung des Verurteilten (nach vollständiger Strafverbüßung) nur deshalb
verhindert werden, weil sonst die Prüfung, ob Tatsachen im Sinne des § 66b StGB vorliegen, erschwert oder gar vereitelt
würde.
6.
Weder im Antrag der Staatsanwaltschaft vom 3. August 2004 (Bl. 384 d. Hauptakte) noch in der angefochtenen
Entscheidung sind Tatsachen im Sinne des § 66 b StGB aufgeführt.
Allerdings hätte für die Strafkammer die Möglichkeit – und übrigens auch die Notwendigkeit – bestanden, durch
Beiziehung der Vollstreckungs- und Gefangenenakten ihre Erkenntnisbasis dahin zu erweitern, ob sich aus dem (über
die bloß passive und als einziges Prognosekriterium unzureichende Verweigerungshaltung hinausgehenden)
Vollzugsverhalten nicht doch konkrete Anknüpfungspunkte für eine tatsächlich erst nachträglich erkennbar gewordene
Gefährlichkeit des Verurteilten gewinnen lassen. Der Senat hat dies nachgeholt und die betreffenden Akten ausgewertet.
Sie haben sich jedoch für die hier in Rede stehende Subsumtionsproblematik als ebenfalls unergiebig erwiesen: Der
Beschwerdeführer wird darin als ein Gefangener beschrieben, der einerseits völlig unauffällig in den Anstaltsalltag
integriert ist und regelmäßig seiner Arbeit nachgeht, anderseits aber – wie schon in den letzten Jahren der Verbüßung
der 1985 verhängten Freiheitsstrafe –, nichts tut, was als Mitwirkung an der Resozialisierung bezeichnet werden könnte.
Gespräche mit Sozialarbeitern und Psychologen mit dem Ziel der Aufarbeitung seiner Taten und der Behandlung seiner
– seit etwa 20 Jahren bestehenden und genauso lange bekannten – Alkoholproblematik lehnt er seit dem Tag der
Aufnahme in den Strafvollzugs ebenso ab wie die Teilnahme an Vollzugsplankonferenzen. Es sind nach Aktenlage
während des Vollzugs keinerlei neue Fakten erkennbar geworden, die als Anhaltspunkte für eine nachVerurteilung
zutage getretene erhebliche Gefährlichkeit dienen könnten.
Der Senat hat nicht darüber zu befinden, ob es im Interesse der Allgemeinheit wünschenswert und verfassungsrechtlich
vertretbar wäre, die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung auch für Verurteilte vorzusehen, deren
unveränderte Gefährlichkeit bereits dem erkennenden Gericht bekannt war, gegen die aber keine
Sicherungsverwahrung verhängt werden konnte, weil damals die formellen Voraussetzungen (z.B. Vorstrafen) nicht
vorlagen. Für diese Personengruppe hat der Gesetzgeber auch mit dem neu geschaffenen § 66 b StGB keine Regelung
getroffen. Vor schon immer als gefährlich eingeschätzten, im Strafvollzug jedoch unauffälligen und sich „lediglich“ als
resozialisierungsresistent erweisenden Verurteilten bietet auch diese neue Vorschrift keinen Schutz.
Der angefochtene Unterbringungsbefehl muss daher aufgehoben werden.
von Tzschoppe Völpel Summa
In einer Anhörung des Rechtsausschusses des Bundestags sprach Prof. Dr. Calliess (Mitautor eines Kommentars zum
StVollzG) von „lediglich zehn Strafgefangene, für die diese Regelungen gelten könnten“
(
http://www.bundestag.de/bic/hib/2004/2004_121/04.html
).