Urteil des OLG Koblenz vom 02.02.2011

OLG Koblenz: wichtiger grund, rechtliches gehör, verkündung, untersuchungshaft, anhörung, inhaftierung, vertreter, unverzüglich, protokollierung, vorführung

OLG
Koblenz
02.02.2011
2 Ws 50/11
1. Vor Auswahl des Pflichtverteidigers ist der Beschuldigte auch dann gem. § 142 Abs. 1 Satz 1 StPO
anzuhören, wenn sich die Notwendigkeit der Verteidigung aus § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ergibt.
2. Dabei ist der besonderen Situation des oftmals überraschend und gerade eben in Untersuchungshaft
genommenen Beschuldigten Rechnung zu tragen.
3. Verzichtet er bei Verkündung des Haftbefehls auf die Ausübung seines Wahlrechts kann es fraglich
sein, ob er sich bei Abgabe seiner Erklärung deren Bedeutung, Bindungswirkung und Tragweite
tatsächlich bewusst war.
4. Fehlt es an der gebotenen Mitwirkungsmöglichkeit eines Beschuldigten bei der Auswahl des
Verteidigers darf er nicht an der Bestellung des Pflichtverteidigers, der ihm zeitgleich mit der Verkündung
des Haftbefehls beigeordnet wurde, festgehalten werden. Dieser ist auch dann zu entpflichten und ein
vom Beschuldigten gewählter Verteidiger beizuordnen, wenn ernstzunehmende Anhaltspunkte für eine
Störung des Vertrauensverhältnisses zu dem früheren Verteidiger nicht bestehen.
Geschäftsnummer:
2 Ws 50/11
4 Ws GSTA 34/11 – GenStA Koblenz
8004 Js 29.138/07 – 5 KLs – StA Trier
In der Strafsache
g e g e n
A. S.
- Verteidiger: 1. Rechtsanwältin S.
2. Rechtsanwältin F. -
w e g e n Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge
hier: Pflichtverteidigerbestellung
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am
Oberlandesgericht Völpel sowie die Richter am Oberlandesgericht Pott und Dr. Leitges
am 2. Februar 2011 b e s c h l o s s e n :
Auf die Beschwerde des Angeschuldigten wird der Beschluss des Vorsitzenden der 5. Strafkammer des
Landgerichts Trier vom 12. Januar 2011 aufgehoben.
Auf Antrag des Angeschuldigten wird die Bestellung von Rechtsanwältin S. in T. als Pflichtverteidigerin
aufgehoben und Rechtsanwältin F. in T. zur neuen Pflichtverteidigerin bestellt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeschuldigten dadurch entstandenen
notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
G r ü n d e :
I.
Das Amtsgericht Trier erließ gegen den Angeschuldigten am 3. September 2010 Haftbefehl wegen
Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in mindestens fünf
Fällen (35 Gs 2401/10). Die Verkündung des Haftbefehls erfolgte am Vormittag des 9. September 2010.
Die Festnahme des Angeschuldigten war um 9.10 Uhr desselben Tages erfolgt. Im Anschluss an die
Verkündung ordnete der Ermittlungsrichter den Vollzug des Haftbefehls an und bestellte gemäß § 140
Abs. 1 Nr. 4 StPO Rechtsanwältin S. in T. zur Pflichtverteidigerin (Bl. 414 d. A.). Am 13. September 2010
bestellte sich Rechtsanwältin F. in T. als Verteidigerin für den Angeschuldigten (Bl. 420 d. A.). Mit
Schreiben an die Staatsanwaltschaft vom 19. September 2010 (Bl. 502 d. A.), 25. September 2010 (Bl. 503
d. A.), 5. Oktober 2010 (Bl. 504 d. A.) und 12. Oktober 2010 (Bl. 510 d. A.) erklärte der Angeschuldigte,
„seine Rechtsanwältin“ sei Rechtsanwältin F.. Rechtsanwältin S. habe er nicht ausgesucht und nicht
gewünscht. Er habe kein Vertrauen zu ihr und lehne sie ab. Mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2010 (Bl. 507
d. A.) beantragte Rechtsanwältin F. namens und im Auftrag des Angeschuldigten, die Beiordnung von
Rechtsanwältin S. aufzuheben und an deren Stelle nunmehr sie selbst beizuordnen. Das
Vertrauensverhältnis zwischen dem Angeschuldigten und Rechtsanwältin S. sei „endgültig und nachhaltig
erschüttert“. Mit Beschluss vom 27. Oktober 2010 wies das Amtsgerichts Trier den Antrag zurück, da ein
wichtiger Grund für die Auswechslung nicht gegeben sei.
Unter dem 23. November 2010 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zur 5. Strafkammer des
Landgerichts Trier
Am 3. Dezember 2010 legte Rechtsanwältin F. gegen den ablehnenden Beschluss des Amtsgerichts vom
27. Oktober 2010 Beschwerde ein und wiederholte ihre am 20. Oktober 2010 gestellten Anträge (Bl. 545
d. A.). Unter dem 6. Dezember 2010 und 7. Dezember 2010 (Bl. 548, 553 d. A.) nahm Rechtsanwältin S.
hierzu Stellung und teilte mit, dass der Angeschuldigte zwischenzeitlich wieder ihre Besuche in der
Justizvollzugsanstalt wünsche. Mit Schreiben an den Strafkammervorsitzenden vom 9. Dezember 2010
erklärte der Angeschuldigte nunmehr, „seine Anwältin“ sei Rechtsanwältin S.. Zu dieser habe er großes
Vertrauen (Bl. 554 d. A.). In seinem von Rechtsanwältin F. am 10. Dezember 2010 zu den Akten
gereichten Schreiben vom 8. Dezember 2010 (Bl. 556, 557 d. A.) hatte er hingegen noch von
Rechtsanwältin F. verteidigt werden wollen. Auch in den nachfolgenden Schreiben vom 15. Dezember
2010 (Bl. 574 d. A.) und 16. Dezember 2010 (Bl. 576 d. A.) bekundete er, mit Rechtsanwältin F.
zusammenarbeiten zu wollen. In Anbetracht der widersprüchlichen Äußerungen des Angeschuldigten
beraumte der mit der Anklageerhebung für die Pflichtverteidigerbestellung zuständige
Strafkammervorsitzende Termin zur mündlichen Anhörung auf den 5. Januar 2011 an (Bl. 575 d. A.), in
welchem mit den Beteiligten die Umstände der Beiordnung von Rechtsanwältin S. am 9. September 2010
erörtert wurden (Bl. 600 d. A.). Der Angeschuldigte erklärte hierbei abschließend, er wolle nur noch von
Rechtsanwältin F. verteidigt werden (Bl. 604 d. A.).
Mit Beschluss vom 12. Januar 2011 hat der Strafkammervorsitzende den Antrag des Angeschuldigten vom
3. Dezember 2010 auf Entpflichtung von Rechtsanwältin S. und auf Beiordnung von Rechtsanwältin F.
zurückgewiesen, da eine ernsthafte Störung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Angeschuldigten
und Rechtsanwältin S. nicht gegeben sei (Bl. 619 d. A.). Gegen die Entscheidung hat Rechtsanwältin F.
am 17. Januar 2011 im Auftrag des Angeschuldigten Beschwerde eingelegt (Bl. 645 d. A.), der der
Vorsitzende am 17. Januar 2011 nicht abgeholfen hat (Bl. 657 d. A.).
II.
Das zulässige Rechtsmittel ist begründet und hat den aus dem Tenor ersichtlichen Erfolg.
Nach der am 1. Januar 2010 in Kraft getretenen Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO liegt ein Fall der
notwenigen Verteidigung bereits dann vor, wenn gegen einen Beschuldigten Untersuchungshaft
vollstreckt wird. Das Amtsgericht hat dieser Rechtslage Rechnung getragen, indem es unmittelbar nach
Anhörung des Angeschuldigten im Rahmen der Vorführung vor den Haftrichter und nach Anordnung des
Vollzugs der Untersuchungshaft Rechtsanwältin S. zur Pflichtverteidigerin bestellt hat. Indes hat es bei der
Auswahl der Verteidigerin dem Anspruch des Angeschuldigten auf einen Rechtsbeistand seines
Vertrauens nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen. Nach § 142 Abs. 1 Satz 1 StPO soll dem
Beschuldigten vor der Bestellung eines Verteidigers zunächst Gelegenheit gegeben werden, innerhalb
einer zu bestimmenden Frist einen Verteidiger seiner Wahl zu bezeichnen. Diese Anhörungspflicht
besteht auch dann, wenn sich die Notwendigkeit der Verteidigung aus § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO ergibt.
Denn dass der Verteidiger in diesem Fall gemäß § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO „unverzüglich“ nach Beginn der
Vollstreckung zu bestellen ist, ändert nichts daran, dass dem Beschuldigten auch hier zur Ausübung
seines Anhörungs- und Mitbestimmungsrechts zunächst Gelegenheit gegeben werden muss, einen
Verteidiger zu bezeichnen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. April 2010 – III – 4 Ws 163/10 –
juris.de). „Unverzüglich“ bedeutet somit weder „zeitgleich“ noch „sofort“, sondern – wie auch sonst im
Rechtsverkehr üblich – „ohne schuldhaftes Zögern“. Die Gewährung einer angemessenen
Überlegungsfrist in den Fällen des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO gebietet schon die besondere Situation des –
wie auch hier – oftmals überraschend und gerade eben in Untersuchungshaft genommenen
Beschuldigten (vgl. Wohlers in StV 2010, 151, 153). Anderenfalls bestünde die Gefahr, dass der
Beschuldigte langfristig an einen Pflichtverteidiger gebunden bliebe, den er nicht gewählt hätte und an
dessen Auswahl er sich infolge der Kürze der Zeit zwischen Verhaftung und Vorführung auch nicht
hinreichend qualifiziert hätte beteiligen können. Ein derartiges Ergebnis würde nicht dem Willen des
Gesetzgebers entsprechen, der durch die Schaffung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO die Rechtsstellung des
Beschuldigten – insbesondere unter dem Gesichtspunkt seiner Verteidigung – gerade stärken wollte (vgl.
LG Krefeld, Beschluss vom 13. Juli 2010 – 21 Qs 8 Js 353/10 – 190/10, 21 Qs 190/10 – juris.de).
Diesen Kriterien ist das Amtsgericht Trier bei der Auswahl von Rechtsanwältin S. als Pflichtverteidigerin
nicht in ausreichender Weise gerecht geworden. Der Ermittlungsrichter hat den Ablauf in seiner
dienstlichen Stellungnahme vom 6. Januar 2011 (Bl. 607 d. A.) wie folgt geschildert:
„Zu Beginn der Verkündung des Haftbefehles am 09.09.2010 wurde der Beschuldigte gemäß § 163 StPO
belehrt. Er wollte Angaben zur Sache machen, auch ohne zuvor mit einem Rechtsanwalt gesprochen zu
haben.
Nach Protokollierung der Angaben des Beschuldigten zur Sache wurde dieser gefragt, ob er für den Fall,
dass er in Untersuchungshaft gehe, einen bestimmten Verteidiger wünsche. Der Beschuldigte verneinte
dies und erklärte auf weitere Nachfrage explizit, dass das Gericht ihm bitte einen Verteidiger suchen solle,
da er keinen kenne. Auf die Frage, ob ihm eher ein Verteidiger oder eine Verteidigerin beigeordnet
werden sollte, erwiderte er, dies sei ihm egal.
Die Protokollierung dieser Angaben ist irrtümlich unterblieben.
Daraufhin wurde dem Beschuldigten noch im Rahmen des Anhörungstermines gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4
StPO Frau Rechtsanwältin S. aus T. beigeordnet. Dies geschah gleichzeitig mit dem Beschluss gemäß §
119 StPO.
Eine Ausfertigung dieses Beschlusses wurde dem Beschuldigten umgehend ausgehändigt.“
Der bei der Verkündung des Haftbefehls anwesende Vertreter der Staatsanwaltschaft hat in der
mündlichen Anhörung durch die Strafkammer am 5. Januar 2011 folgende Erklärung abgegeben (Bl. 601,
602 d. A.):
„Das was der Angeschuldigte eben gesagt hat, ist so nicht richtig. Der Angeschuldigte sagte zu dem
Ermittlungsrichter, wenn ich einen Anwalt brauche, dann soll das Gericht mir einen besorgen. Der
Ermittlungsrichter fragte den Angeschuldigten am Ende des Termins, ob Bedenken bestünden gegen die
Bestellung von Rechtsanwältin S.. Der Angeschuldigte, zu diesem Zeitpunkt über seine Inhaftierung sehr
aufgebracht, äußerte hierzu nichts.“
Somit wurde der Angeschuldigte zwar von dem Ermittlungsrichter befragt, ob er gegen die Bestellung von
Rechtsanwältin S. Bedenken habe, äußerte sich hierzu jedoch nicht. Gleichwohl wurde Rechtsanwältin S.
unmittelbar danach bestellt, ohne dass dem in sichtlicher Erregung über seine soeben erfolgte
Inhaftierung befindlichen Angeschuldigten zuvor eine angemessene Überlegungsfrist eingeräumt worden
wäre. Ein Anlass, der es – etwa im Hinblick auf die Eilbedürftigkeit der Sache – ausnahmsweise
gerechtfertigt hätte, hiervon abzusehen, bestand nicht (vgl. OLG Düsseldorf, a. a. O.).
Eine andere Beurteilung des Vorgangs ergibt sich unter den hier gegebenen Umständen auch nicht
daraus, dass der Angeschuldigte auf die Frage des Ermittlungsrichters nach einem bestimmten
Verteidiger zunächst erklärte, dass er einen solchen nicht kenne, und dass das Gericht im Bedarfsfall
jemanden aussuchen solle. Zwar bedarf es einer Fristsetzung bzw. eines weiteren Zuwartens bei der
Auswahl des Verteidigers in der Regel dann nicht, wenn der Beschuldigte erklärt, eine eigene Wahl nicht
treffen zu können oder zu wollen bzw. diese dem Richter zu überlassen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 53.
Aufl., § 142 Rdn 10; Wohlers, a. a. O., 155 und in SK-StPO III § 141, Rdn. 10). Voraussetzung ist jedoch,
dass der Beschuldigte damit bewusst einen ausdrücklichen Verzicht auf die Ausübung seines Wahlrechts
zum Ausdruck bringt (vgl. BGH in NStZ 2008, 231). Die von dem Vertreter der Staatsanwaltschaft
nachvollziehbar geschilderte psychische Verfassung des Angeschuldigten während des
Verkündungstermins („sehr aufgebracht“), der sich überraschend einem so einschneidenden Ereignis wie
seiner Inhaftierung ausgesetzt sah, lässt nach Auffassung des Senats erhebliche Zweifel daran
aufkommen, ob er sich bei Abgabe seiner Erklärung deren Bedeutung, Bindungswirkung und Tragweite
(s. o.) tatsächlich bewusst war. Unter diesen Umständen hätte der Ermittlungsrichter im Interesse eines
fairen Verfahrens von der Einräumung einer angemessenen Überlegungs- und Erklärungsfrist nicht
absehen dürfen, ohne den Anspruch des Angeschuldigten auf rechtliches Gehör unzumutbar und in
gesetzeswidriger Weise zu beschneiden (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Juni 1990 – 3 Ws 434,
435/90 – juris.de).
Zwar kann die nachträgliche Zustimmung eines Beschuldigten zur Auswahl eines bestimmten Verteidigers
darin liegen, dass er in der Folgezeit die Verteidigung durch diesen über einen wesentlichen Zeitraum
widerspruchslos hinnimmt (vgl. BGH in NJW 2001, 237; Beschluss des Senats vom 28. Mai 2003 – 2 Ws
334/03 -). Hiervon kann vorliegend indes aufgrund der mehrfachen die Beiordnung von Rechtsanwältin S.
ablehnenden Schreiben des Angeschuldigten vom 19. September 2010, 25. September 2010, 5. Oktober
2010 und 12. Oktober 2010 keine Rede sein.
Fehlt es an der gebotenen Mitwirkungsmöglichkeit eines Beschuldigten bei der Auswahl des Verteidigers,
ergibt sich hieraus vor dem Hintergrund des Vorrangs der Vertrauensbeziehung, dass er nicht an der
Bestellung des Pflichtverteidigers, der ihm zeitgleich mit der Verkündung des Haftbefehls beigeordnet
wurde, festgehalten werden darf. Der beigeordnete Rechtsanwalt ist in diesem Fall auch dann zu
entpflichten und ein von ihm gewählter Verteidiger beizuordnen, wenn ernstzunehmende Anhaltspunkte
für eine Störung des Vertrauensverhältnisses zu dem früheren Verteidiger nicht bestehen (vgl. LG Krefeld,
a. a. O.; Wohlers, a. a. O., 157; BGH in StV 2001, 3).
Danach war der angefochtene Beschluss des Strafkammervorsitzenden vom 12. Januar 2011
aufzuheben. Gemäß § 309 Abs. 2 StPO hat der Senat zugleich die Beiordnung von Rechtsanwältin S.
aufgehoben und dem zuletzt geäußerten Begehren des Angeschuldigten entsprechend Rechtsanwältin F.
als neue Pflichtverteidigerin beigeordnet. Anhaltspunkte, dass Rechtsanwältin F. keine Gewähr für eine
sachgerechte und ordnungsgemäße Verteidigung des Angeschuldigten böte, sind nicht ersichtlich (vgl.
Meyer-Goßner, a. a. O., Rdn 3).
Die Nebenentscheidung folgt aus analoger Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO (vgl. Meyer-Goßner, a. a.
O., § 473 Rdn 2).