Urteil des OLG Koblenz vom 03.11.2010

OLG Koblenz: zumutbare arbeit, leistungsfähigkeit, unterhaltspflicht, selbstbehalt, kauf, tatbestandsirrtum, nettoeinkommen, lebensstellung, kündigung, wehr

OLG
Koblenz
03.11.2010
2 Ss 184/10
1. Im Falle eines Schuldspruchs wegen Unterhaltspflichtverletzung hat der Tatrichter zunächst den
Umfang der Unterhaltspflicht festzustellen, welcher sich nach der Lebensstellung des Bedürftigen
bestimmt (§ 1610 Abs. 1 BGB).
2. Der Höhe des geschuldeten Unterhalts hat der Tatrichter die finanzielle Leistungsfähigkeit des
Unterhaltsverpflichteten entgegenzustellen und darzulegen, ob und inwieweit dieser zur vollständigen
oder zumindest zur teilweisen Efüllung seiner Verpflichtungen in der Lage war.
3. Schulden können einkommensmindernd berücksichtigt werden; dabei kommt es auf den Zweck der
Verbindlichkeiten, den Zeitpunkt und die Art ihrer Entstehung sowie die Kenntnis des
Unterhaltsverpflichteten von seiner Unterhaltsschuld an.
4. Soll dem Angeklagten angelastet werden, sich gegen eine als unberechtigt angesehene Kündigung
nicht zur Wehr gesetzt und dabei die Verschlechterung seiner Einkommenssituation in Kauf genommen zu
haben, bedarf es der Darlegung, dass eine etwaige Kündigungsschutzklage aller Voraussicht nach auch
Erfolg gehabt und der Angeklagte damit seinen Arbeitsplatz behalten bzw. wiedererhalten hätte.
5. Leistungsfähigkeit des Täters kann sich auch aus erzielbaren, wenn auch tatsächlich nicht erzielten
Einkünften ergeben. In diesem Fall sind jedoch die Beschäftigungsmöglichkeiten sowie die Beträge
festzustellen, die der Angeklagte durch zumutbare Arbeit hätte verdienen können. Die bloße Feststellung,
er habe sich pflichtwidrig nicht als arbeitsuchend gemeldet bzw. keine genügenden eigenen
Anstrengungen unternommen, reicht für sich nicht aus.
6. Das Tatgericht hat die in der Anklage bezeichnete Tat so, wie sie sich nach dem Ergebnis der
Hauptverhandlung darstellt, abzuurteilen und deren Unrechtsgehalt voll auszuschöpfen, sofern dem keine
rechtlichen Hindernisse entgegen stehen (§ 264 StPO). Für die als Dauerstraftat anzusehende
Unterhaltspflichtverleztung bedeutet dies, dass sowohl das erstinstanzliche als auch das Berufungsgericht
das Verhalten des Angeklagten bis zur letzten tatrichterlichen Verhandlung über die Schuldfrage zu
überprüfen haben, soweit auch nur eine Einzelhandlung bereits im Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses
begangen war.
Geschäftsnummer:
2 Ss 184/10
3 Ss 184/10 – GenStA Koblenz
2080 Js 36534/08 – 3 Ds – 6 Ns – StA Koblenz
In der Strafsache
g e g e n
...
- Verteidiger: Rechtsanwalt ..J.-
w e g e n Verletzung der Unterhaltspflicht
hier: Revision des Angeklagten
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am
Oberlandesgericht Völpel sowie die Richter am Oberlandesgericht Pott und Dr. Leitges
am 3. November 2010 einstimmig
b e s c h l o s s e n :
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil der 6. kleinen Strafkammer des Landgerichts Koblenz
vom 12. Juli 2010 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts
Koblenz zurückverwiesen.
G r ü n d e :
I.
Das Amtsgericht Linz am Rhein verurteilte den Angeklagten am 3. Juli 2009 wegen Verletzung der
Unterhaltspflicht „unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts – Schöffengericht – Neuwied vom 11.
September 2009 (Az.: 2090 Js 77966/07 – Ls) und Auflösung der bereits gebildeten Gesamtstrafe – zu
einer Gesamtgeldstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten.“ Seine Berufung hat die 6. kleine Strafkammer des
Landgerichts Koblenz mit Urteil vom 12. Juli 2010 mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass sie
ihn unter Einbeziehung der Strafen aus der Verurteilung des Amtsgerichts Neuwied vom 11. September
2008 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten verurteilt hat.
Nach den Urteilsgründen zahlte der Angeklagte nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau, der
Zeugin S., im Jahre 2002 für den bei dieser verbliebenen gemeinsamen Sohn, den am 15. Oktober 1998
geborenen J. F., keinen Unterhalt, obgleich er um seine Unterhaltspflicht wusste. Zur finanziellen
Leistungsfähigkeit des Angeklagten hat die Strafkammer festgestellt, dass er in der Zeit von April 2007 bis
Mai 2008 als Produktionshelfer – mit Ausnahme des Monats Februar 2008 – jeweils ein über dem
angenommenen Selbstbehalt von 900 € liegendes Nettoeinkommen zwischen ca. 1.000 und 1.380 € (im
Einzelnen aufgelistet) erzielte, jedoch bis auf eine Zahlung in Höhe von 50 € an die
Unterhaltsvorschusskasse im Mai 2007 keinerlei Unterhalt für das Kind leistete.
Gegen das Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt, mit der er die Verletzung formellen und
materiellen Rechts geltend macht und die Aufhebung der Entscheidung beantragt.
II.
Das zulässige Rechtsmittel hat in der Sache einen jedenfalls vorläufigen Erfolg. Die lückenhaften
Urteilsfeststellungen ermöglichen dem Senat nicht die Nachprüfung, ob das Landgericht den Angeklagten
zu Recht der Verletzung der Unterhaltspflicht schuldig gesprochen hat.
Im Falle eines Schuldspruchs wegen Unterhaltspflichtverletzung hat der Tatrichter zunächst
eigenverantwortlich den Umfang der Unterhaltspflicht festzustellen, welcher sich nach der Lebensstellung
des Bedürftigen bestimmt (§ 1610 Abs. 1 BGB) und dem Urteil zu entnehmen sein muss. Hierbei darf er
zwar – vorbehaltlich durch besondere Umstände bedingte Abweichungen – für die Unterhaltsberechnung
für Kinder existierende Bedarfstabellen berücksichtigen, die dann jedoch im Urteil anzugeben sind (vgl.
Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl., § 170 Rdn 8; OLG München in NStZ 2009, 212; OLG Hamburg in StV 1989,
2006; Lenckner in Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., § 170 Rdn 19 und 21). Das Landgericht hat hierzu
lediglich ausgeführt, die Unterhaltspflicht des Angeklagten folge aus den §§ 1601, 1603 Abs. 1 und 1610
Abs. 1 BGB. Näher bezifferte Angaben zur konkreten Höhe des danach geschuldeten Unterhalts enthält
das Urteil nicht.
Der Höhe des geschuldeten Unterhalts hat der Tatrichter alsdann die finanzielle Leistungsfähigkeit des
Unterhaltsverpflichteten entgegenzustellen und darzulegen, ob und inwieweit dieser zur vollständigen
oder zumindest zur teilweisen Erfüllung seiner Verpflichtungen in der Lage war. Erst aus dieser
Gegenüberstellung lässt sich der Betrag, den der Täter mindestens hätte zahlen können, und damit
zugleich der Schuldgehalt der Tat, ermitteln. Um eine Überprüfung der Leistungsfähigkeit zu ermöglichen,
sind die Beurteilungsgrundlagen – möglichst genau beziffert – darzulegen. Dazu gehören neben
Angaben zur Höhe der Einkünfte die sonstigen Verpflichtungen des Täters, namentlich weitere
Unterhaltsverpflichtungen, die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen Aufwendungen, sonstige
Lasten sowie der ihm – ohne Gefährdung des eigenen Existenzminimums – zuzugestehende Eigenbedarf
bzw. Selbstbehalt (vgl. OLG Hamm in NStZ 2008, 342; OLG München, a. a. O.; Lackner/Kühl, a. a. O.;
Fischer, StGB, 57. Aufl., § 170 Rdn 8; OLG Koblenz, Beschluss vom 1. September 1994 – 1 Ss 274/94 -;
Lenckner, a. a. O., Rdn 22).
Auch hinsichtlich dieser Kriterien erweisen sich die Feststellungen des Landgerichts als lückenhaft. Zwar
wird das monatliche Nettoeinkommen des Angeklagten in der Zeit von April 2007 bis Mai 2008 aufgelistet.
Nicht erörtert hat die Strafkammer jedoch etwaige zu dessen Erzielung notwendige berufsbedingte
Aufwendungen, beispielsweise Fahrtkosten zur Erreichung der Arbeitsstelle (vgl. BGH in NJW 2002,
1269).
Unerörtert gelassen hat das Landgericht ferner das Bestehen möglicher sonstiger
Unterhaltsverpflichtungen. So war im Mai 2008, und mithin noch innerhalb des vom Landgericht
angenommenen Tatzeitraums (April 2007 bis Mai 2008), aus der zweiten Ehe des Angeklagten ein
weiteres Kind hervorgegangen. Zu prüfen gewesen wäre in diesem Zusammenhang ferner, ob und in
welcher Höhe der Angeklagte neben seinen beiden leiblichen Kindern auch seiner zweiten Ehefrau, mit
der er im November 2007 die Ehe geschlossen hatte, unterhaltspflichtig war. Diesem Umstand kam
zudem hinsichtlich der subjektiven Tatseite Bedeutung zu, da der Angeklagte seine behauptete
mangelnde Leistungsfähigkeit gegenüber dem Kind J. F. unter anderem damit begründet hatte, auch
seiner zweiten Ehefrau gegenüber zum Unterhalt verpflichtet gewesen zu sein. Ein Irrtum über das
Bestehen einer Unterhaltspflicht und über die Rangfolge von Unterhaltsberechtigten ist Tatbestandsirrtum.
Auch die irrige Annahme, dass die eigene Leistungsfähigkeit eingeschränkt sei, kann einen
Tatbestandsirrtum darstellen (vgl. Lackner/Kühl, a. a. O., Rdn 11; Fischer, a. a. O., Rdn 12; Lenckner, a. a.
O., Rdn 33 a)).
Den monatlichen Selbstbehalt des Angeklagten hat das Landgericht ohne nähere Begründung mit 900 €
beziffert. Die Bemessung des notwendigen Selbstbehalts ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Die
Festsetzung ist demnach im Revisionsverfahren nur begrenzt nachprüfbar. Insbesondere ist es dem
Tatrichter nicht verwehrt, den Selbstbehalt an Hand gängiger Tabellen und Leitlinien zu bestimmen, wenn
die Richtwerte der zugrundeliegenden Norm entsprechen und mit der Lebenserfahrung übereinstimmen,
und wenn die Umstände des Einzelfalls hinreichend berücksichtigt sind. Nur unter diesen
Gesichtspunkten ist die Berechnung des Selbstbehalts im Revisionsverfahren zu überprüfen (vgl. OLG
Zweibrücken in StV 1986, 531, 532). Woran sich die Strafkammer vorliegend orientiert hat, lassen die
Urteilsgründe jedoch nicht erkennen.
Nähere Angaben fehlen schließlich auch zu den von dem Angeklagten auf ca. 15.000 bis 25.000 €
geschätzten Schulden, so dass der Senat nicht zu überprüfen vermag, ob und in welchem Umfang diese
möglicherweise einkommensmindernd zu berücksichtigen waren. Dies hat nach einer umfassenden
Interessenabwägung zu geschehen, wobei es insbesondere auf den Zweck der Verbindlichkeiten, den
Zeitpunkt und die Art ihrer Entstehung sowie die Kenntnis des Unterhaltsverpflichteten über seine
Unterhaltsschuld ankommt (vgl. BGH in NJW-RR 1996, 321).
Aufgrund der aufgezeigten Lückenhaftigkeit konnte das Urteil auf die Sachrüge hin keinen Bestand
haben. Die zugleich erhobene Verfahrensrüge war indes mangels näherer Begründung nach § 344 Abs.
2 Satz 2 StPO unzulässig.
Gemäß § 354 Abs. 2 StPO hat der Senat die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die
Vorinstanz zurückverwiesen. Die Entscheidung entspricht dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft.
Für die neuerliche Verhandlung bleibt darauf hinzuweisen, dass das Tatgericht nach § 264 StPO die in
der Anklage bezeichnete Tat so, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt,
abzuurteilen hat und aufgrund allseitiger Kognitionspflicht gehalten ist, deren Unrechtsgehalt voll
auszuschöpfen, sofern dem keine rechtlichen Hindernisse entgegen (vgl. BGHSt 25,72; Meyer-Goßner,
StPO, 53. Aufl., § 264 Rdn 9 und 10). Für die als Dauerstraftat anzusehende Unterhaltspflichtverletzung
bedeutet dies, dass sowohl das erstinstanzliche als auch das Berufungsgericht das Verhalten des
Angeklagten bis zur letzten tatrichterlichen Verhandlung über die Schuldfrage zu überprüfen haben,
soweit auch nur eine Einzelhandlung bereits im Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses begangen war (vgl.
BayObLGSt 1977, 39; Lenckner, a. a. O., Rdn 36; Beschlüsse des Senats vom 2. September 2003 – 2 Ss
184/03 – m. w. N. und vom 15. März 2001 – 2 Ws 166/01).
In der Anklageschrift vom 24. Februar 2009 wird dem Angeklagten Unterhaltspflichtverletzung „seit dem 1.
April 2007“ zur Last gelegt. Hinsichtlich des davor liegenden Zeitraums wurde die Strafverfolgung nach
den §§ 154, 154 a StPO beschränkt. Die neu mit der Sache befasste Berufungskammer wird demzufolge –
wenn auch unter Beachtung des Verbots der Schlechterstellung aus § 331 Abs. 1 StPO – die finanzielle
Leistungsfähigkeit des Angeklagten für den gesamten Zeitraum von April 2007 bis zu der vor ihr
ablaufenden Hauptverhandlung zu überprüfen und zu erörtern haben.
Zu dem dafür bedeutsamen Vorhalt des Landgerichts, der Angeklagte habe sich gegen die als
unberechtigt angesehene Kündigung durch die Firma St. im Mai 2008 nicht zur Wehr gesetzt und dabei
die Verschlechterung seiner Einkommenssituation in Kauf genommen, ist anzumerken, dass daraus nur
dann ein strafrechtlich relevanter Vorwurf herzuleiten wäre, wenn eine etwaige Kündigungsschutzklage
aller Voraussicht nach auch tatsächlich Erfolg gehabt und der Angeklagte damit seinen Arbeitsplatz
behalten bzw. wiedererhalten hätte. Zu den nachfolgenden Zeiten der Arbeitslosigkeit und der
Arbeitssuche (Seite 3 UA) gilt, dass Leistungsfähigkeit des Täters sich auch aus erzielbaren, wenn auch
tatsächlich nicht erzielten Einkünften ergeben kann. In diesem Fall sind jedoch die
Beschäftigungsmöglichkeiten sowie die Beträge festzustellen, die er durch zumutbare Arbeit hätte
verdienen können. Die bloße Feststellung, er habe sich pflichtwidrig nicht als arbeitsuchend gemeldet
bzw. keine genügenden eigenen Anstrengungen unternommen, reicht für sich nicht aus. Vielmehr ist
darzulegen, dass und gegebenenfalls in welchem Umfang dies bei pflichtgemäßem Verhalten zu
zumindest teilweiser Leistungsfähigkeit geführt hätte (vgl. BayObLG in NStZ-RR 2002, 11).