Urteil des OLG Karlsruhe vom 27.10.2016

untersuchungshaft, psychiatrisches gutachten, wichtiger grund, dringender tatverdacht

OLG Karlsruhe Beschluß vom 27.10.2016, 3 Ws 708/16 (HEs 111/16); 3 Ws 709/16
Leitsätze
1. Ein Untersuchungshaftbefehl ist aufzuheben, wenn das Gericht nicht mit der gebotenen Terminsdichte sowie
nicht mit einer die Sitzungstage zeitlich ausschöpfenden Verfahrensgestaltung verhandelt.
2. Von einer bloß vorübergehende Überlastung einer Strafkammer kann nicht gesprochen werden, wenn das
Gericht aufgrund struktureller Defizite längerfristig unzureichend besetzt ist.
Tenor
1. Der Haftbefehl des Amtsgerichts L. vom 12. August 2015 und der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts -
2. Große Strafkammer - L. vom 30. September 2016 in Verbindung mit dem (Nichtabhilfe)Beschluss vom 4.
Oktober 2016 werden aufgehoben.
2. Die Haftbeschwerde des Angeklagten gegen den Haftfortdauerbeschluss vom 30. September 2016 ist damit
gegenstandslos.
Gründe
I.
1 Der Angeklagte wurde am 25.8.2015 festgenommen und befindet sich seither aufgrund Haftbefehls des
Amtsgerichts L. vom 12.8.2015 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Das seit Erhebung der Anklage am
24.11.2015 mit der Sache befasste Landgericht L. hat das Hauptverfahren durch Beschluss vom 27.1.2016
eröffnet und in der Folge ab dem 18.2.2016 die - ursprünglich auf fünf (zwei halbtägige und drei ganztägige)
Verhandlungstage anberaumte, letztlich 20 Termine umfassende - Hauptverhandlung durchgeführt, die
durch Beschluss vom 30.9.2016 wegen des Eintritts des Vorsitzenden in den Ruhestand ausgesetzt wurde.
Die Strafkammer hält mit weiterem Beschluss vom selben Tag die Fortdauer der Untersuchungshaft für
erforderlich. Der noch am 30.9.2016 eingelegten Haftbeschwerde des Angeklagten half sie durch Beschluss
vom 4.10.2016 nicht ab. Gleichzeitig verfügte der stellvertretende Vorsitzende die Vorlage der Akten an den
Senat zur Prüfung der Haftfortdauer gemäß §§ 121, 122 StPO. Die Generalstaatsanwaltschaft trägt mit
Schrift vom 10.10.2016 unter Verweis auf die Vorlageverfügung des Gerichts und den Vorlagebericht der
Staatsanwaltschaft L. vom 6.10.2016 auf die Fortdauer der Haft an. Der Verteidiger hat mit Schriftsätzen
vom 14.10., 21.10., 23.10. und 26.10.2016 die Haftbeschwerde ergänzend begründet.
II.
2 Die nach Aussetzung der begonnenen Hauptverhandlung (§ 121 Abs. 3 Satz 3 StPO) notwendig gewordene
besondere Haftprüfung durch den Senat (§ 121 Abs. 1 StPO) führt zur Aufhebung des Haftbefehls vom
12.8.2015 in Gestalt der Haftfortdauerentscheidung vom 30.9.2016.
3 1. Die allgemeinen Haftvoraussetzungen nach § 112 Abs. 1 StPO liegen allerdings weiterhin vor.
4 Dringender Tatverdacht hinsichtlich des dem Angeklagten im Haftbefehl zur Last gelegten vielfachen, zum
Teil bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge besteht nach Maßgabe
der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft L. vom 20.11.2015. Der vorläufigen Würdigung der Beweislage im
Rahmen des „Wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen“ tritt der Senat nach Lage der Akten und auf der
Grundlage der diesbezüglichen Ausführungen im Haftfortdauerbeschluss vom 30.9.2016, auf die Bezug
genommen wird, bei. Danach ist die Strafkammer im Rahmen der in der ausgesetzten Hauptverhandlung
durchgeführten, nicht abgeschlossenen Beweisaufnahme hinreichend tatsachengestützt und für den Senat
nachvollziehbar zu der vorläufigen Überzeugung gelangt, der dringende, insbesondere auf die Aussage des
Zeugen U. gestützte Tatverdacht habe sich - auch unter Berücksichtigung der ihm dafür in eigener Sache
gemäß § 31 BtMG gewährten Strafmilderung und punktuell bewusst falscher bzw. unvollständiger Angaben
des Zeugen - bestätigt.
5 Der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) ist nach wie vor gegeben.
6 Der mehrfach vorbestrafe und hafterfahrene Angeklagte, der u.a. in den Jahren 2001 und 2010 wegen
gravierender Betäubungsmitteldelikte zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden war, hat im Falle
seiner Verurteilung wegen der ihm nunmehr neuerlich zur Last gelegten Betäubungsmittelstraftaten mit
einer ganz erheblichen, deutlich nicht mehr im bewährungsfähigen Bereich liegenden Gesamtfreiheitsstrafe
zu rechnen. Die Staatsanwaltschaft hat zudem am 6.10.2016 gegenüber dem Landgericht beantragt, für die
neue Hauptverhandlung ein ergänzendes psychiatrisches Gutachten zum Vorliegen der materiellen
Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung einzuholen. Überdies droht ein Bewährungswiderruf in
anderer Sache. Den davon ausgehenden natürlichen Fluchtanreizen stehen aus den im
Haftfortdauerbeschluss vom 30.9.2016 genannten Gründen keine fluchthemmenden Umstände von
ausreichendem Gewicht gegenüber. Der Senat teilt die Auffassung der Strafkammer, dass der Angeklagte,
der neben der deutschen auch über die italienische Staatsangehörigkeit sowie über familiäre Bindungen in
Italien und in dortige Mafiastrukturen verfügt, sich ohne den Vollzug der Untersuchungshaft dem
Strafverfahren entziehen wird.
7 Mildere Maßnahmen zur Abwendung der Fluchtgefahr als die Anordnung und der Vollzug von
Untersuchungshaft scheiden hier daher aus.
8 2. Dessen ungeachtet sind der Haftbefehl des Amtsgerichts und die Haftfortdauerentscheidung des
Landgerichts aufzuheben, weil die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nicht mehr
im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO gerechtfertigt ist, nachdem das am 18.2.2016 gemäß § 121 Abs. 3 Satz 2
StPO begonnene Ruhen der Sechs-Monats-Frist mit der Aussetzung der Hauptverhandlung am 30.9.2016
geendet hat.
9 Nach § 121 Abs. 1 StPO darf vor dem Urteil der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über
sechs Monate hinaus nur dann aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der
besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zugelassen
haben und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Das in dieser Vorschrift zum Ausdruck kommende, das
gesamte Strafverfahren erfassende Gebot der Verfahrensbeschleunigung erfordert es auch, eine einmal
begonnene Hauptverhandlung zügig und unter Vermeidung unnötiger Verzögerungen zum Abschluss zu
bringen (Senat, Die Justiz 2000, 67), denn es obliegt in Haftsachen den Strafverfolgungsbehörden und
Gerichten, alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um eine baldige gerichtliche
Entscheidung über die einem Angeklagten vorgeworfene Tat herbeizuführen (vgl. BVerfGE 20, 45; StV 2006,
73; StV 2006, 703; StV 2015, 39). Kommt es zu sachlich nicht gerechtfertigten und vermeidbaren
erheblichen Verfahrensverzögerungen, die der Angeklagte nicht zu vertreten hat, so steht bereits die
Nichtbeachtung des Beschleunigungsgebots regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der
Untersuchungshaft entgegen. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten
und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit kommt es in erster Linie auf die durch objektive
Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die u.a. von der Komplexität der Rechtssache,
der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht
eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. An dessen zügigen Fortgang
sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft vollzogen wird. Allein
die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermag bei erheblichen, vermeidbaren
und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon
lange andauernden Untersuchungshaft dienen. So findet etwa der Vollzug von Untersuchungshaft von mehr
als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass des Urteils auch unter
Berücksichtigung der vorstehend genannten Abwägungskriterien nur in ganz besonderen Ausnahmefällen
seine Rechtfertigung (vgl. BVerfG, jeweils a.a.O.).
10 a) Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs ist bei einer Gesamtschau des vorliegenden Verfahrensablaufs
angesichts vermeidbarer eingetretener und bevorstehender Verzögerungen im gerichtlichen Verfahren dem
Erfordernis des Beschleunigungsgebots nicht mehr Genüge getan. Die von der Strafkammer vorgenommene
Terminierung der Hauptverhandlung und zuletzt auch die Dauer der einzelnen Sitzungstage wurden - im
Rahmen einer Gesamtbetrachtung - den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. In der Zeit
vom 18.2. bis 30.9.2016 fanden folgende Termine mit folgender Dauer statt:
11
1
18.02. 12:00 - 13:15 Uhr 1 Std. u. 15 Min.
2
08.03. 14:45 - 16:30 Uhr 1 Std. u. 45 Min.
3
22.03. 09:05 - 15:20 Uhr 6 Std. u. 15 Min.
4
29.03. 09:00 - 17:10 Uhr 8 Std. u. 10 Min.
5
01.04. 09:00 - 11:30 Uhr 2 Std. u. 30 Min.
6
15.04. 14:34 - 17:52 Uhr 3 Std. u. 18 Min.
7
09.05. 09:00 - 15:45 Uhr 6 Std. u. 45 Min.
8
17.05. 09:00 - 14:40 Uhr 5 Std. u. 40 Min.
9
24.05. 12:30 - 15:45 Uhr 3 Std. u. 15 Min.
10 27.05. 09:15 - 12:55 Uhr 3 Std. u. 40 Min.
11 17.06. 14:00 - 15:55 Uhr 1 Std. u. 55 Min.
12 21.06. 09:00 - 15:00 Uhr 6 Std.
13 05.07. 09:00 - 12:10 Uhr 3 Std. u. 10 Min.
14 19.07. 09:05 - 11:15 Uhr 2 Std. u. 10 Min.
15 22.07. 09:15 - 11:45 Uhr 2 Std. u. 30 Min.
16 10.08. 08:35 - 08:50 Uhr 15 Min.
17 12.09. 09:00 - 09:25 Uhr 25 Min.
18 20.09. 09:00 - 10:20 Uhr 1 Std. u. 20 Min.
19 22.09. 09.10 - 09.40 Uhr 30 Min.
20 30.09. 09.00 - 09.45 Uhr 45 Min.
12 Dies entsprach in einem Zeitraum von 32 Wochen einer Verhandlungsdichte von lediglich 0,63 Terminstagen
pro Woche. Selbst wenn die durch zwei Kurztermine (10.8. und 12.9.2016) überbrückte, insgesamt ca.
achtwöchige Urlaubsabwesenheit der Schöffinnen und des Berichterstatters unberücksichtigt bleibt (vgl.
BVerfG, StV 2008, 198), liegt die Verhandlungsdichte bei (nur) 0,83 Sitzungen pro Woche. Nachdem die
ursprünglich (bis zum 22.3.2016) geplante fünftägige Verhandlungsdauer sich angesichts des - weder
ausweislich des Sitzungsprotokolls noch des Haftfortdauerbeschlusses rechtsmissbräuchlichen -
Verteidigungsverhaltens des Angeklagten als unrealistisch erwiesen hatte, hätte die Kammer jedoch,
möglicherweise unter Beiordnung eines zweiten Verteidigers, umgehend durch eine vorausschauende, auch
größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlungsplanung mit hier deutlich mehr als einem
Verhandlungstag pro Woche das Verfahren beschleunigen und damit den geplanten Urlauben der
Verfahrensbeteiligten und dem Ruhestandseintritt des Vorsitzenden Rechnung tragen müssen (vgl. BVerfG,
StV 2008, 198; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, Rdn. 1a zu § 121 m.w.N.). Dabei hätte eine
Überlastung des Gerichts aufgrund parallel zu verhandelnder anderer Haftsachen allenfalls kleinere
Verfahrensverzögerungen rechtfertigen können (vgl. BVerfG, StV 2006, 73).
13 b) Darüber hinaus wäre eine effektive, die Sitzungstage zeitlich ausschöpfende und das Verfahren
entscheidend fördernde Gestaltung der Verhandlung geboten gewesen (vgl. BVerfG, StraFo 2013, 160; StV
2006, 73). Insoweit war insbesondere auch die Verhandlungsführung nach Ende der Urlaube der Schöffinnen
und des Beisitzers - am 20.9. und 22.9.2016 -, die letztlich in der Aussetzung der Hauptverhandlung am
30.9.2016 mündete, mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht zu vereinbaren.
14 Die Kammer hat in der Sitzung am 20.9.2016 (18. Verhandlungstag) u.a. den letzten noch nicht erledigten
bzw. beschiedenen Beweisantrag (vom 19.7.2016) zurückgewiesen und nach Entgegennahme eines Antrags
des Verteidigers auf sofortige Teileinstellung des Verfahrens gemäß § 206a StPO wegen Verstoßes gegen die
Umgrenzungsfunktion der Anklage und das Fair-trial-Prinzip die ganztägig geplante Verhandlung nach einer
Stunde und 20 Minuten unterbrochen. Gründe für diese - im Hinblick auf den nun unmittelbar
bevorstehenden Eintritt des Vorsitzenden in den Ruhestand besonders problematische - Unterbrechung
lassen sich weder dem Protokoll noch dem Haftfortdauerbeschluss vom 30.9.2016 oder der Stellungnahme
der Staatsanwaltschaft vom 6.10.2016 entnehmen; sie erhellen sich auch nicht aufgrund des Inhalts des
Antrags und der Anordnung des Vorsitzenden, mit welcher der Antrag zu Beginn der Sitzung vom
22.9.2016 unter Hinweis auf § 260 Abs. 3 StPO (vorläufig) zurückgewiesen wurde. Eine sofortige Beratung
und Bescheidung sowie eine anschließende Fortsetzung der Hauptverhandlung am 20.9.2016 wäre nach
Auffassung des Senats ohne Weiteres möglich und in der konkreten Verhandlungssituation auch geboten
gewesen, zumal seit dem 29.7.2016 bekannt war, dass der ursprünglich für den 21.9.2016 vorgesehene
zusätzliche Fortsetzungstermin wegen Verhinderung des Verteidigers nicht würde stattfinden können.
15 Am 22.9.2016 unterbrach die Kammer die Hauptverhandlung bereits nach nur 30 Minuten, nachdem der
Verteidiger, in (angekündigter) Reaktion auf die Ablehnung des Antrags vom 20.9.2016, sinngemäß den
weiteren Antrag gestellt hatte, das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 AEUV dem Europäischen
Gerichtshof (EuGH) die Frage zur Entscheidung vorzulegen, ob die Anklage vom 22.11.2015 aufgrund
teilweise unpräziser Tatzeitbeschreibungen - im Hinblick auf deren Umgrenzungs- und Informationsfunktion
und die damit zusammenhängende Gewährleistung einer effektiven Verteidigung - mit dem europäischen
Rechtsstaatsprinzip (Art. 2 EUV) unvereinbar sei. Am 30.9.2016 setzte die Kammer schließlich im Rahmen
einer 45-minütigen Hauptverhandlung, nachdem zu deren Beginn der Verteidiger (offensichtlich auf
Nachfrage) erklärt hatte, der Antrag bleibe aufrechterhalten, das Verfahren aus und verkündete den
Haftfortdauerbeschluss. In diesem Beschluss äußert sich die Strafkammer nicht dazu, warum es nicht
möglich war, das Verfahren noch vor dem oder am 30.9.2016 durch Urteil zu beenden. Dies erklärt sich
nicht etwa mit dem (nicht mehr beschiedenen) Antrag des Verteidigers vom 22.9.2016, der nur als
Anregung zu betrachten war, da der nicht letztinstanzlich entscheidenden Strafkammer gemäß Art. 267
Abs. 2 AEUV ein Vorlageermessen zustand (vgl. Wißmann in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 16.
Aufl. 2016, Rdn. 22 f. zu Art. 267 AEUV). Unabhängig davon ist Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens,
die Einheitlichkeit der Rechtsprechung der Gerichte der Mitgliedstaaten im Hinblick auf das EU-Recht
sicherzustellen. Im Rahmen der Vorlage entscheidet der EuGH über die Auslegung des primären und
sekundären Unionsrechts oder die Gültigkeit der Rechtsakte der Organe, Einrichtungen und sonstigen
Stellen der Europäischen Union. Das Vorabentscheidungsverfahren ermächtigt den Gerichtshof jedoch -
entgegen der Intention des Antrags vom 22.9.2016 - weder, die Verträge auf den Einzelfall anzuwenden,
noch über die Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Maßnahme mit den Verträgen zu entscheiden. Es gehört
nicht zu den Aufgaben des EuGH, im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens über die Auslegung
nationaler Vorschriften - hier des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO - zu befinden und zu entscheiden, ob deren
Auslegung durch das vorlegende Gericht richtig ist (vgl. Karpenstein in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht
der Europäischen Union, 59. Erg.Lfg. 2016, Rdn. 23 zu Art. 267 AEUV). Die Strafkammer hätte im Ergebnis
dem Antrag des Verteidigers vom 22.9.2016 nicht entsprechen müssen und - da ausweislich der
Haftfortdauerentscheidung vom 30.9.2016 ein weiteres gerichtliches Beweisprogramm nicht im Raum stand
- die Beweisaufnahme schließen und um die Schlussvorträge bitten können. Dass dem neue, umgehend zu
erwartende Verfahrens- oder Beweisanträge des Verteidigers entgegengestanden hätten, ist weder
ersichtlich noch von der Kammer eruiert worden.
16 c) Der dargelegte Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen hat dazu geführt, dass die
Hauptverhandlung gegen den Anklagten nach mehr als 7-monatiger Verhandlungsdauer nicht durch ein
Urteil beendet, sondern ausgesetzt wurde. Die neue Hauptverhandlung wird darüber hinaus gemäß
Verfügung des stellvertretenden Vorsitzenden vom 20.10.2016 erst am 16.1.2017 beginnen und am 31.1.,
7.2. und 14.2.2017 sowie weiteren, noch zu bestimmenden Terminen fortgesetzt werden. Die
Anberaumung auf einen früheren Zeitpunkt war nicht möglich, da die Strafkammer, deren Vorsitz vakant
ist, allein zwischen dem 7.11. und 5.12.2016 mit der Hauptverhandlung in fünf anderen umfangreichen
Haftsachen beginnen wird. Die damit vorhersehbare weitere Verzögerung aufgrund einer vom Staat zu
vertretenden, nicht nur kurzfristigen Überlastung des Gerichts steht einer bereits eingetretenen
Verfahrensverzögerung gleich (BVerfG, StV 2006, 73).
17 Dem Senat ist - wie dazu ergänzend anzumerken ist - die schon über einen längeren Zeitraum bestehende,
für die Bewältigung der anhängigen Strafsachen (Haft- und Nichthaftsachen) nicht ausreichende
Personalausstattung des Landgerichts bekannt. So musste die hier betroffene 2. Strafkammer bereits im
Februar 2014 durch die Bildung einer Hilfsstrafkammer entlastet werden, der vier erstinstanzliche
Haftsachen zugewiesen wurden. Seit Beginn des Jahres 2015 mussten zur weiteren Entlastung der 2.
Strafkammer einer anderen, voll ausgelasteten Strafkammer nach einem Turnus zusätzliche Verfahren
zugewiesen werden. Beide Entlastungsmaßnahmen hatten jeweils gravierende Folgen für die Bearbeitung
von Nichthaftsachen, die in einer zunehmenden Zahl von Fällen nicht mehr in angemessener Zeit
abgeschlossen werden können (vgl. zur Rechtsstaatswidrigkeit von Verfahrensverzögerungen in
Nichthaftsachen Senatsbeschluss vom 14.10.2016 - 3 Ws 684/16-HEs 104/16). Im vorliegend relevanten
Zeitraum vom 18.2. bis 30.9.2016 hat die 2. Strafkammer, die neben dem Vorsitzenden (0,75 AKA) mit 0,85
AKA an beisitzenden Richtern besetzt ist, welche zudem teilweise noch anderen Strafkammern zugewiesen
sind, an 46 Tagen ausschließlich Haft- und Unterbringungssachen verhandelt. Bei dieser Sachlage kann von
einer nur vorübergehenden Überlastung nicht mehr gesprochen werden, wie im Übrigen auch die schon
absehbare, oben erwähnte künftige Terminslage der Strafkammer bis Anfang des Jahres 2017 - allein in
Bezug auf bis zum jetzigen Zeitpunkt eingegangene Haftsachen - zeigt. Hier liegen - zumal bei einer
Gesamtbetrachtung von Haftsachen und Nichthaftsachen - eindeutig strukturelle Defizite vor, zu deren
Behebung der Haushaltsgesetzgeber (konkret: der Landtag von Baden-Württemberg) im Hinblick auf das
verfassungsrechtliche Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (Senat, a.a.O.) und insbesondere
auch zur Vermeidung der Aufhebung von Untersuchungshaftbefehlen verpflichtet ist.
18 Im hier gegebenen Fall kommt eine Fortdauer der seit 14 Monaten andauernden Untersuchungshaft des
Angeklagten angesichts der bereits eingetretenen und noch zu erwartenden erheblichen, dem Staat
zuzurechnenden Verzögerungen nicht mehr in Betracht. Die Schwere der dem Angeklagten zur Last
gelegten Taten und die im Raum stehende Straferwartung sind daneben im Zusammenhang mit § 121 StPO
ohne Bedeutung (BVerfG, StV 2007, 152).
III.
19 Die Haftbeschwerde des Angeklagten vom 30.9.2016 hat sich durch die Haftprüfungsentscheidung des
Senats erledigt, denn das Verfahren nach §§ 121, 122 StPO, das zu einer umfassenden Überprüfung der
Frage der Haftfortdauer führt, hat gegenüber der Haftbeschwerde Vorrang (BGH, NStZ-RR 2012, 285
m.w.N.).