Urteil des OLG Karlsruhe vom 14.12.2016

dringender tatverdacht, vollstreckung der strafe, umwandlung der strafe, haftbefehl

OLG Karlsruhe Beschluß vom 14.12.2016, 2 Ws 343/16
Leitsätze
1. Die weitere (Haft-)Beschwerde ist nach § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO auch dann statthaft, wenn der Haftbefehl
nicht vollzogen wird.
2. Allein der Umstand, dass sich ein Beschuldigter in sein Heimatland zurückbegeben hat, lässt nicht den
Schluss zu, er wolle sich dem Strafverfahren in Deutschland entziehen.
3. Weisen die bisherigen Ermittlungen erhebliche Lücken auf, die durch umfangreiche Ermittlungsmaßnahmen,
unter anderem Rechtshilfeersuchen in andere Staaten, zu schließen sind, hat das (Haft-)Beschwerdegericht die
Entscheidung nicht zurückzustellen, sondern auf der bisherigen Grundlage zu entscheiden.
Tenor
Auf die weitere Beschwerde des Beschuldigten werden der Haftbefehl des Amtsgerichts Waldshut-Tiengen vom
1. Februar 2013 in der Fassung des Beschlusses vom 22. Mai 2015 sowie der Beschluss des Landgerichts
Waldshut-Tiengen vom 19. Juni 2015 aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschuldigten hieraus entstandenen notwendigen Auslagen
trägt die Staatskasse (§ 467 Abs. 1 StPO analog).
Gründe
A.
1 Die Staatsanwaltschaft Waldshut-Tiengen hat gegen den Beschuldigten einen Haftbefehl des Amtsgerichts
Waldshut-Tiengen erwirkt, in dem ihm zuletzt noch der bandenmäßige Handel mit Betäubungsmitteln in
nicht geringer Menge in 63 Fällen im Zeitraum von April 2007 bis 4.2.2010 vorgeworfen und der Haftgrund
der Fluchtgefahr angenommen wird.
2 Das Ermittlungsverfahren ist Teil eines größeren Ermittlungskomplexes, das die regelmäßige Lieferung von
Marihuana im jeweils zweistelligen Kilogrammbereich aus den Niederlanden über Deutschland in die
Schweiz im Zeitraum von April 2007 bis Anfang Februar 2010 zum Gegenstand hat. Mehrere der an der
Lieferkette beteiligten Personen wurden zwischenzeitlich rechtskräftig verurteilt. Nach dem Inhalt des
Haftbefehls soll die Lieferkette bei dem Beschuldigten ihren Anfang haben.
3 Der Beschuldigte befindet sich auf freiem Fuß. Er war zwar am 13.2.2013 in den Niederlanden
festgenommen worden. Seine Auslieferung nach Deutschland scheiterte jedoch daran, dass die
Staatsanwaltschaft Waldshut-Tiengen nicht die von den niederländischen Justizbehörden verlangte
Zustimmung zu einer Umwandlung der Strafe nach dem Übereinkommen über die Überstellung verurteilter
Personen vom 21.3.1983 im Rahmen einer Rücküberstellung zur Vollstreckung abgab.
4 Das Landgericht Waldshut-Tiengen hat mit dem angefochtenen Beschluss vom 19.6.2015 die Beschwerde
des Beschuldigten gegen den Haftbefehl zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die weitere Beschwerde des
Beschuldigten, mit der Einwendungen gegen den dringenden Tatverdacht und den Haftgrund erhoben
werden.
B.
5 Das Rechtsmittel ist zulässig und hat in der Sache (vorläufigen) Erfolg.
I.
6 Die weitere Beschwerde ist gemäß § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO statthaft. Der Senat folgt insoweit der wohl
herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur, dass diese Vorschrift die Überprüfung des Bestands
eines Untersuchungshaftbefehls unabhängig von dessen Vollzug zulässt (OLG Karlsruhe - 1. Strafsenat -
StRR 2011, 74; weitere Nachweise - auch zur Gegenmeinung - bei LR-Matt, StPO, 26. Aufl., § 310 Rn. 32 f.;
Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 310 Rn. 7). Aus der sprachlichen Fassung der Vorschrift, die nicht
an den Haftbefehl, sondern an die „Verhaftung“ anknüpft, kann im Hinblick darauf, dass dieser Begriff auch
in der Überschrift des den Untersuchungshaftbefehl regelnden 9. Abschnitt des Ersten Buchs der
Strafprozessordnung in der übergeordneten Bedeutung verwendet wird, keine Beschränkung auf den
vollzogenen Haftbefehl abgeleitet werden. Im Licht der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, nach der
auch ein nicht vollzogener Haftbefehl eine schwerwiegende Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit
darstellt (BVerfGE 53, 152), entspricht die weitergehende Auslegung trotz des Ausnahmecharakters der
Vorschrift dem Gesetzeszweck, den Rechtszug in Bezug auf den Beschuldigten besonders beschwerende
Maßnahmen zu erweitern (vgl. dazu auch die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zum Entwurf des
Gesetzes zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten vom
24.10.2006, mit dem der Anwendungsbereich des § 310 Abs. 1 StPO auf Arreste im Hinblick auf deren
potenziell existenzgefährdende Wirkung erweitert wurde, BT-Drs. 16/2021 S. 6)
II.
7 Das Rechtsmittel ist auch begründet.
8 Dem Senat ist auf der Grundlage des sich aus den vorgelegten Akten ergebenden Ermittlungsstandes eine
zuverlässige Beurteilung nicht möglich, ob die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft
gemäß § 112 StPO vorliegen. Dies betrifft das Vorliegen sowohl des dringenden Tatverdachts (§ 112 Abs. 1
Satz 1 StPO) als auch des Haftgrunds (§ 112 Abs. 2 StPO). Da eine Klärung der offenen Fragen kurzfristig
nicht zu erwarten ist, führt dies zur Aufhebung des Haftbefehls.
9 1. Bei Anwendung des rechtlich gebotenen Prüfungsmaßstabes kann nach dem derzeitigen Ermittlungsstand
bereits ein dringender Tatverdacht nicht bejaht werden.
10 a. Dringender Tatverdacht liegt vor, wenn nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis in seiner Gesamtheit
eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Beschuldigte als Täter oder Teilnehmer eine Straftat
begangen hat (allg. Meinung, vgl. etwa BVerfG NJW 1996, 1049, BGHSt 38, 276, 278; OLG Köln StV 1999,
156, 157; OLG Brandenburg StV 1996, 157). Bei der Prüfung des dringenden Tatverdachts hat der Richter
ein auf den Stand der Ermittlungen zum Zeitpunkt der Haftentscheidung bezogenes
Wahrscheinlichkeitsurteil dahingehend abzugeben, ob der Verfolgte sich schuldig gemacht hat. Dazu ist das
von den Ermittlungsbehörden zusammengetragene Tatsachenmaterial zu würdigen, wozu auch eine
Überprüfung und Bewertung der Beweiskraft der sich aus den Akten ergebenden Beweismittel gehört. Die
Anforderungen an die Überprüfung der Tatsachen und Beweismittel und die Art der Beweiserhebung sind
dabei umso höher anzusetzen, je schwächer deren Beweiskraft ist (LR-Hilger a.a.O., § 112 Rn. 20 f.; KK-Graf,
StPO, 7. Aufl., § 112 Rn. 8).
11 b. Während die Annahmen im Haftbefehl zu Zahl, Umfang und Abwicklung der verfahrensgegenständlichen
Rauschgiftgeschäfte von der Übernahme an der niederländisch-deutschen Grenze bis zur Übergabe an den
Abnehmer in der Schweiz insbesondere im Hinblick auf die Aussagen mehrerer deshalb teilweise auch
rechtskräftig verurteilter Tatbeteiligter, namentlich von Ö, N B und A B sowie K auf einer relativ
verlässlichen, mit der weiteren Beschwerde auch nicht in Frage gestellten Tatsachengrundlage beruhen,
bietet sich hinsichtlich der angenommenen Tatbeteiligung des Beschuldigten ein ganz anderes Bild. Insoweit
beruht der Tatverdacht nur auf wenigen, teilweise in ihrer Beweiskraft eingeschränkten Beweismitteln, die
deshalb besonders sorgfältiger Würdigung bedürfen.
12 aa. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Ö, von dem N B und K beliefert wurden, zwar eingeräumt hat,
das Marihuana aus den Niederlanden bezogen zu haben, dabei aber niemals den Beschuldigten als
Lieferanten bezeichnet hat.
13 (1) Zu den von Ö gemachten Angaben ergibt sich aus den Akten folgendes Bild:
14 Dem (hinsichtlich Ö seit 3.5.2011 rechtskräftigen) Urteil des Landgerichts W vom 3.3.2011 (1 KLs 14 Js
695/10) lässt sich entnehmen, dass Ö in dem gegen ihn und fünf weitere Angeklagte geführten Verfahren,
sich in einer (nicht bei den vorgelegten Akten befindlichen) schriftlichen Erklärung über seinen Verteidiger
hinsichtlich der Vorwürfe voll geständig gezeigt hatte, die allerdings nur elf über A B abgewickelte
Lieferungen von jeweils 15 Kilogramm und zuletzt einmal 22,5 Kilogramm Marihuana zwischen März 2009
und dem 4.2.2010 zum Gegenstand hatten (hinsichtlich der weiteren Tatvorwürfe ergibt sich nur aus dem
weiteren Urteil des Landgerichts W vom 24.9.2012 im Verfahren gegen N B u.a. - dort UA S. 36 -, dass
insoweit nach § 154 StPO verfahren wurde). Hinsichtlich der Herkunft des Marihuanas wird im Urteil eine
„unbekannte Lieferquelle“ (UA S. 13) zugrunde gelegt.
15 Danach wurde Ö noch mehrfach von der Polizei, am 22.5.2012 auch staatsanwaltlich (das Protokoll einer
dort angesprochenen weiteren Vernehmung vom 17.1.2012 befindet sich ebenfalls nicht bei den Akten), als
Beschuldigter vernommen, so am 31.5.2011, am 3.4.2012 am 21.9.2012 und am 18.1.2013. Schließlich
ergibt sich aus den weiteren Urteilen des Landgerichts W vom 24.9.2012 (2 KLs 14 Js 3698/11 - gegen N B
und A B sowie E T) und vom 2.7.2013 (2 KLs 14 Js 1304/10 - gegen M S), dass Ö in diesen Verfahren als
Zeuge gehört worden war.
16 In seinen polizeilichen Vernehmungen vom 31.5.2011, vom 3.4.2012 und vom 21.9.2012 räumte er nach
dem Hinweis auf Ermittlungsergebnisse der Polizei bzw. das zwischenzeitlich von N B abgelegte Geständnis
ein, N B und K regelmäßig mit Marihuana beliefert zu haben. Die hinsichtlich Zahl und Mengen
schwankenden Angaben stimmten dabei in den wesentlichen Zügen mit den Angaben N Bs und später auch
von K überein. Während er in den ersten beiden Vernehmungen nur zugab, das Rauschgift aus den
Niederlanden bezogen zu haben, gab er bei seiner staatsanwaltlichen Vernehmung am 22.5.2012
weitergehend an, dass das an N B (2007 und September 2008) gelieferte Marihuana immer aus derselben
Lieferquelle gestammt habe. Demgegenüber behauptete Ö, der auch die schweizerische Staatsbürgerschaft
besitzt und daher auf seinen Antrag zur Vollstreckung der Strafe aus dem Urteil des Landgerichts W vom
3.3.2011 in die Schweiz überstellt worden war, bei seiner Einvernahme am 18.1.2013 in der Schweiz, bei
er sich insgesamt wenig auskunftsbereit zeigte, zunächst, nicht mehr zu wissen, von wem in Holland er die
Ware bezogen habe. Später behauptete er, bei den Lieferanten habe es sich um „holländische Leute“
gehandelt, deren richtigen Namen er nicht kenne. Auf Vorhalt der Angaben von K, dass es wegen der
Qualität der Ware zu einem Treffen mit dem Lieferanten in den Niederlanden gekommen sei, bestätigte dies
Ö (unter Korrektur einiger Details), wobei er in diesem Zusammenhang wiederholt von dem (nicht den)
Lieferanten sprach, aber erneut betonte, der Lieferant sei Holländer. Auf die Frage nach dem Namen des
Lieferanten gab er an, den richtigen Namen nicht zu wissen und sich auch an den falschen Namen nicht
mehr erinnern zu können. Auf die weitere Frage, ob er von dieser Person das Material erhalten habe, das
„an K und so“ ging, antwortete Ö: „Nicht direkt. Aber er war der Verantwortliche für die Lieferungen an
mich. Es ging so. Ich habe mit ihm abgemacht und dann wurde alles erledigt. Aber wie weiß ich nicht.“ Auf
die nochmalige Frage nach dem Lieferanten entgegnete er schließlich, deshalb über den Lieferanten keine
Aussagen machen zu wollen, weil dies für ihn und seine Familie gefährlich werden könne.
17 Im Verfahren vor dem Landgericht W gegen A B, N B und E T (2 KLs 14 Js 3698/11) wurde Ö als Zeuge
vernommen. Dem Urteil vom 24.9.2012 lässt sich dazu entnehmen, dass seine Aussage inhaltlich in groben
Zügen seinen früheren Angaben zu den mit N B gemachten Geschäften entsprach. Nachdem zu der
Herkunft der Drogen in den Urteilsgründen über die Feststellung einer „unbekannten Lieferquelle in den
Niederlanden“ (UA S. 22) keine Aussagen getroffen werden, muss davon ausgegangen werden, dass Ö
hierzu keine Angaben machte.
18 In einer eidesstattlichen Versicherung vom 13.4.2016, die der Staatsanwaltschaft Waldshut-Tiengen am
17.6.2016 vorgelegt wurde, hat Ö schließlich bestritten, N B gegenüber den Beschuldigten als seinen
Lieferanten bezeichnet zu haben, und angegeben, niemals Marihuana von diesem bezogen zu haben.
19 (2) Gleichwohl schließt sich der Senat der im angefochtenen Beschluss vorgenommenen Bewertung an, dass
den Angaben Ös nicht gänzlich ein Beweiswert abgesprochen werden kann. Insoweit ist zunächst darauf
hinzuweisen, dass die vom Landgericht W als bewusst wahrheitswidrig eingestuften zeugenschaftlichen
Angaben den Widerruf früherer, andere Tatbeteiligte belastender Aussagen und das Bestreiten eines ihn
selbst belastenden Umstandes, nämlich der Gründe für den Besitz zweier Mobiltelefone in der
Untersuchungshaft, betrafen. Davon ausgehend kommt dem Umstand besondere Bedeutung zu, dass die
polizeiliche Vernehmung vom 18.1.2013 ersichtlich von dem Bemühen Ös gekennzeichnet war, nach
Möglichkeit keine Angaben zu machen, die die Lieferquelle belasteten. Dies ergibt sich insbesondere aus den
völlig unglaubhaften Äußerungen, nicht mehr zu wissen, von wem er das Rauschgift bezogen habe, bzw.
sich an die Namen des/der Lieferanten nicht mehr erinnern zu können. Vor diesem Hintergrund kommt aber
seiner Antwort auf die Frage des Vernehmungsbeamten, ob es sich bei der Person, die er zusammen mit K
2009 in T/Niederlande getroffen habe, um den Lieferanten gehandelt habe, besonderes Gewicht zu, als er
dann bestätigte, dass es sich bei dieser Person um den Verantwortlichen für die Lieferungen an ihn
gehandelt habe. Ähnliches gilt für die eidesstattliche Versicherung mit ihrem den Beschuldigten generell
entlastenden Inhalt, wenn in diesem Kontext der Umstand bestätigt wird, dass es sich bei dem
Beschuldigten um den „Taufpaten seines Sohnes“ handelt.
20 bb. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Annahme, dass es sich bei dem Beschuldigten um den
Lieferanten von Ö handelt, ist die Aussage des gesondert verfolgten N B.
21 (1) Dieser hat in mehreren polizeilichen Vernehmungen und in der gegen ihn und zwei weitere Angeklagte
geführten Hauptverhandlung vor dem Landgericht W eingeräumt, von dem insoweit ebenfalls geständigen Ö
zwischen April und Dezember 2007 elf Mal je 20 Kilogramm und im September 2008 noch einmal 23
Kilogramm Marihuana übernommen und an den gesondert verfolgten K in der Schweiz mit
Gewinnerzielungsabsicht veräußert zu haben. Bei seinen polizeilichen Vernehmungen am 14.12.2011,
11.1.2012 und 29.11.2012 - zuvor war er auf die Vorschrift des § 31 BtMG hingewiesen worden - gab er
von Ö stammende Äußerungen über dessen Lieferquelle wieder. Danach habe Ö das Marihuana immer von
einem „A M aus Holland“ bezogen. Außerdem habe Ö zum Schluss hin davon gesprochen, bei M ca. 800.000
EUR (nach dem Zusammenhang aus den auf Kommission abgewickelten Betäubungsmittelgeschäften)
Schulden zu haben. Obwohl N B dem Lieferanten Ös nach seinen Angaben nie persönlich begegnet war,
konnte er aufgrund eines Hochzeitsbilds, das ihm Ö gezeigt habe, eine Personenbeschreibung abgeben (ca.
40 bis 45 Jahre, ziemlich dick, Glatze). Am 22.1.2013 wurden N B von der Polizei 21 (Porträt-)Lichtbilder
vorgelegt. Wer die darauf abgebildeten Personen sind, lässt sich anhand der vorgelegten Akten nicht
vollständig nachvollziehen. Aus der den Lichtbildern beigefügten Übersicht ergibt sich, dass es sich jedenfalls
teilweise um der Tatbeteiligung Verdächtige handelte. Unter den Lichtbildern - die abgebildeten Personen
haben im Übrigen wenig Ähnlichkeit untereinander - befanden sich an Position 1 und 21 zwei aus den
Jahren 2004 und 2011 stammende Bilder des Beschuldigten, die jedenfalls insoweit von der zuvor
abgegebenen Personenbeschreibung N Bs abweichen, als der Beschuldigte keine Glatze, wenn auch über der
Stirn zunehmend zurückweichende Haare hatte. Gleichwohl erkannte N B auf beiden Bildern die Person
wieder, die ihm von Ö auf einem Foto als A M gezeigt hatte.
22 (2) Die vorstehend wiedergegebenen Angaben würden zwar - ihre Richtigkeit unterstellt - den dringenden
Tatverdacht gegen den Beschuldigten begründen. Die von der Verteidigung dabei vorgebrachten
Einwendungen gegen den Beweiswert der Identifizierung des Beschuldigten als der (angeblich) von Ö
bezeichneten Person stellen sich letztlich als unerheblich dar, ohne dass es (was nach Aktenlage zweifelhaft
erscheint) darauf ankommt, ob die Lichtbildvorlage an N B am 22.1.2013 und deren Dokumentation den
dazu in der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen (vgl. dazu BGH NJW 2012, 791; NStZ-RR 2008,
148; StraFo 2016, 154; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 5.4.2016 - 1 (3) Ss 188/15, juris) genügen. Denn
insoweit wird verkannt, dass die Identifizierung unabhängig von dem Wiedererkennen bei der
Lichtbildvorlage auch aufgrund der weiteren Angabe, dass es sich bei der von Ö bezeichneten Person um
den Taufpaten seines Sohnes handeln soll, möglich ist. Insoweit erscheint es allerdings zweifelhaft, ob der
polizeiliche Vermerk vom 24.1.2013 eine ausreichende Grundlage für eine Verbindung zum Beschuldigten
liefert. Danach wurden bei der Auswertung zweier bei Ö sichergestellter Mobiltelefone drei jeweils mit
„Kirve“ (der türkischen Bezeichnung für den Taufpaten bei der Beschneidung) bezeichneten Einträge mit
Telefonnummern mit der Vorwahl 0031 für die Niederlande festgestellt. Soweit bezüglich eines dieser
Anschlüsse in dem Vermerk festgehalten ist, dass sich durch „Abklärungen“ ergeben haben soll, dass dieser
von dem Beschuldigten benutzt wurde bzw. auf ihn registriert war, kann dies nicht nachvollzogen werden,
da sich weitere Informationen zu Art, Inhalt und Ergebnis der diesbezüglichen Ermittlungen nicht bei den
Akten befinden. Ein weiterer Eintrag enthielt zwar den Zusatz „m“, was auf den Beschuldigten hindeutet.
Eine ergänzende Abklärung, ob dieser und der weitere im Mobiltelefon Ös eingetragene Anschluss dem
Beschuldigten zugerechnet werden kann, ist jedoch entweder nicht erfolgt oder das Ergebnis nicht zu den
Akten gelangt. Die Verbindung zu dem Beschuldigten ergibt sich jedoch jedenfalls aus der Angabe Ös in
seiner eidesstattlichen Versicherung vom 13.4.2016, in der der Beschuldigte als Taufpate des Sohnes von Ö
bezeichnet wird.
23 (3) Indes ist auch bei der Bewertung der Angaben von N B aus mehreren Gründen besondere Sorgfalt
geboten. Zum einen ist in den Blick zu nehmen, ob sich N B durch seine Aussage in dem gegen ihn
gerichteten Verfahren im Hinblick auf § 31 BtMG Vorteile versprochen und vor diesem Hintergrund einen
Nichtbeteiligten möglicherweise zu Unrecht belastet haben könnte (BGH NStZ-RR 2012, 52; OLG Naumburg
StraFo 2014, 76). Zum anderen ist N B hinsichtlich der von ihm wiedergegebenen Äußerungen Ös eine
bloße Auskunftsperson vom Hörensagen, was den Beweiswert ebenfalls einschränkt (BGH StV 2016, 774;
wistra 2013, 400; StV 2011, 270; 2003, 604; NStZ 2002, 636; Beschluss vom 4.3.2003 - 4 StR 543/02,
juris). Dies gilt umso mehr, als die eigentliche Auskunftsquelle, Ö, zu keinem Zeitpunkt die Angaben N Bs
bestätigt hat, im Gegenteil mittlerweile in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 13.4.2016 N B in vollem
Umfang der Lüge bezichtigt.
24 Soweit Ö in seiner eidesstattlichen Versicherung die Aussage N Bs im Hinblick auf dessen Angabe, das von Ö
gezeigte Bild sei ein Hochzeitsbild gewesen, mit der Behauptung in Zweifel zu ziehen sucht, der
Beschuldigte sei nicht auf seiner (Ös) Hochzeit Jahr 2008 gewesen, ist dies bei vorläufiger Bewertung
allerdings nicht geeignet, die Beweiskraft zu erschüttern. Denn soweit N B in seiner Vernehmung am
14.12.2011 angegeben hat, „Ich habe sein Hochzeitsfoto gesehen“, deutet dies nach dem Zusammenhang
darauf hin, dass es sich um ein Bild von der Hochzeit des Beschuldigten gehandelt haben dürfte.
25 Für die Klärung der Frage, inwieweit die belastende Aussage durch die Hoffnung auf Strafmilderung
beeinflusst worden sein kann, ist es zunächst unerheblich, dass sich die Angaben N Bs zu dem Hintermann
von Ö ausweislich der Gründe des Urteils des Landgerichts W vom 24.9.2012 auf die vom Landgericht gegen
ihn verhängte Strafe im Ergebnis nicht ausgewirkt haben. Denn N B könnte bei seinen Angaben, die
erstmals in der polizeilichen Vernehmung am 14.12.2011, also zeitlich deutlich vor der Hauptverhandlung in
eigener Sache, erfolgt sind, gleichwohl in der Erwartung gehandelt haben, sich (auch) dadurch eine
Strafmilderung zu verdienen. Zwar ist N B auch in Vernehmungen, die nach Eintritt der Rechtskraft
hinsichtlich seiner eigenen Verurteilung lagen, bei seiner Darstellung geblieben. Dies ließe sich im Fall einer
wahrheitswidrigen Belastung aber auch damit erklären, dass er damit die Aufdeckung einer dann falschen
Verdächtigung mit dem Risiko weiterer strafrechtlicher Verfolgung verhindern wollte.
26 Für die Richtigkeit der Angaben N Bs spricht zwar, dass seine Aussagen zum Ablauf der mit Ö und K unter
Mithilfe weiterer Personen abgewickelten Drogengeschäfte weithin Bestätigung gefunden haben. So haben
Ö und K die sie belastenden Angaben letztlich im Wesentlichen bestätigt. Zudem ließ sich - wie sich aus den
Urteilen des Landgerichts W vom 3.11.2010 (1 KLs 14 Js 695a/10 gegen A B UA S. 13) und vom 3.3.2011 (1
KLs 14 Js 695/10 gegen Ö u.a. UA S. 29) ergibt - aufgrund der Auswertung von Kreditkartendaten ein
Bewegungsprofil Ös erstellen, das sich hinsichtlich der Aufenthalte in den Niederlanden und in der Schweiz
mit der Aussage N Bs in Einklang bringen ließ. Im Gegensatz zu den Angaben zu der Beteiligung weiterer
Personen - namentlich von Ö und K - an seinen eigenen Taten wird die Glaubwürdigkeit indes nicht dadurch
erhöht, dass sich N B mit ihnen zwangsläufig selbst belastete. Zudem erlauben die vorgelegten Akten dem
Senat gerade hinsichtlich der den Beschuldigten belastenden Angaben keine umfassende Beurteilung ihrer
Zuverlässigkeit. Insoweit ist darauf zu verweisen, dass N B in seiner polizeilichen Vernehmung vom
29.11.2012 angegeben hatte, nicht allein von Ö, sondern auch von den gesondert verfolgten E T und „Du“,
die von Ö als Kuriere für die Überbringung der Drogen von der niederländisch-deutschen Grenze nach
Süddeutschland und in die Schweiz beauftragt gewesen sein sollen, gehört zu haben, dass das Marihuana
von A M aus Holland stamme, und E T zudem geäußert habe, in einem Lager von A M gewesen zu sein und
dort sehr große gelagerte Mengen gesehen zu haben. Hinsichtlich „Du“ lässt sich mangels entsprechender
Unterlagen nur aus der Zusammenschau der Urteile des Landgerichts W vom 3.11.2010 (1 KLs 14 Js
695a/10 gegen A B, dort UA S. 7) und vom 24.9.2012 (2 KLs 14 Js 3698/11 gegen N B u.a., UA S. 24 f.)
mutmaßen, dass es sich dabei um den - jedenfalls zunächst flüchtigen - Tatbeteiligten R Du bzw. Do handelt;
ob er zu den Angaben N Bs befragt wurde, ergibt sich aus der Akte nicht. Bezüglich E T steht zwar aufgrund
seiner rechtskräftigen Verurteilung durch das Landgericht W vom 24.9.2012 fest, dass dieser bei elf der
zwölf von N B zwischen April und Juli 2007 und im September 2008 abgewickelten Rauschgiftgeschäfte als
Kurier eingesetzt war. Darüber hinaus ergibt sich aus dem Urteil vom 24.9.2012 nur, dass er im dortigen
Verfahren keine Angaben gemacht hat. Im Übrigen lässt sich lediglich dem Schriftsatz des vormaligen
Verteidigers des Beschuldigten vom 30.1.2015 entnehmen, dass E T am 30.3.2010 verantwortlich
vernommen worden sein soll und dabei die Darstellung N Bs bestritten haben soll.
27 Der Senat kann zwar nachvollziehen, dass die Aufspaltung des umfangreichen Ermittlungskomplexes auf
verschiedene Verfahren es erschwert, alles für das jeweilige Verfahren relevante Material aus anderen
Verfahren zusammenzutragen. Gleichwohl wäre es schon angesichts des Umstandes, dass die
Beschwerdegerichte keinen Überblick über das Gesamtverfahren haben können, jedenfalls anlässlich der
Vorlage der Akten zur Entscheidung über die Haftbeschwerde die Aufgabe der Staatsanwaltschaft gewesen,
die Akten dem aktuellen Ermittlungsstand anzupassen und zu vervollständigen (vgl. LR-Hilger a.a.O, § 112
Rn. 20).
28 Angesichts der offensichtlich zentralen Bedeutung der Aussage N Bs in diesem Punkt ist es nach der
Auffassung des Senats zudem nicht recht verständlich, weshalb sich die Ermittlungsbehörden bislang mit
den nur jeweils wenige Sätze umfassenden Angaben zu der Rolle des Beschuldigten in den Vernehmungen
vom 14.12.2011 und vom 29.11.2012 zufrieden gegeben haben, ohne den Versuch zu unternehmen, den
Kontext der angeblichen Äußerungen weiter aufzuklären. Für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit wären
dabei sowohl Art und Häufigkeit der Kontakte zwischen N B einerseits und Ö, E T und „Du“ andererseits und
sonstige Informationen, die eine Beurteilung des Verhältnisses zwischen diesen Personen und damit der
Plausibilität der von N B behaupteten - besonders der Ö zugeschriebenen - Äußerungen erlauben, von
Bedeutung. Außerdem wäre zu beleuchten, in welcher Gesprächssituation Ö die ihm zugeschriebenen
Äußerungen gemacht haben soll und insbesondere, ob er sie von sich aus gemacht hat oder sie von N B
angestoßen wurden. Ohne diese Informationen ist eine verlässliche Beurteilung des Wahrheitsgehalts der Ö
zugeschriebenen Äußerung nicht möglich.
29 Auf der Grundlage des dem Senat vorgelegten Tatsachen- und Beweisstoffes sind danach die Angaben N Bs
für sich genommen derzeit nicht geeignet, einen Tatverdacht gegen den Beschuldigten in dem für den Erlass
eines Haftbefehls erforderlichen Grad zu begründen.
30 cc. Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand findet sich auch in der Aussage des weiteren Tatbeteiligten K
kein selbständiger Beleg für den im Haftbefehl erhobenen Tatvorwurf gegen den Beschuldigten.
31 (1) K, der Abnehmer des von Ö gelieferten Marihuanas in der Schweiz, hat zwar - insoweit in
Übereinstimmung mit den Angaben von Ö in dessen Vernehmungen am 3.4.2012 und am 18.1.2013 - in
seinen im Weg der Rechtshilfe in der Schweiz erfolgten Vernehmungen am 12.12.2012 und am 1.7.2013
bekundet, sich im Sommer 2009 in den Niederlanden gemeinsam mit N (Ö) und M (vermutlich Su) mit einem
Mann getroffen zu haben, um über die schlechte Qualität der gelieferten Drogen und die aus der Belieferung
stammenden Schulden von K (nach der Darstellung Ö war allein Letzteres Anlass des Treffens) zu sprechen.
K beschrieb diesen Mann als einen ca. 40 Jahre alten Türken von sportlicher Statur mit langen, dunklen
Haaren, der von den anderen „T“ (phon., C?) bzw. „Tsch“ (phon., Ca?) genannt worden sei und sich „wie der
Chef“ aufgeführt habe. Bei seiner Beschreibung blieb K auch auf Vorhalt der von N B zuvor (am 14.12.2011)
abgegebenen Personenbeschreibung; bei einer Vorlage von insgesamt zwölf (Porträt-)Lichtbildern, unter
denen sich das aus dem Jahr 2004 stammende des Beschuldigten befand, erkannte er den Beschuldigten
nicht wieder. Im Weiteren ist zu den Angaben von K im Protokoll der Vernehmung vom 12.12.2012
festgehalten:
32
„[…] Man hat mir gesagt, dass dieser für N wie ein Bruder sei, aber nicht im Sinne von blutsverwandt.
33
[Frage des Vernehmenden:] Wurde erwähnt, dass dieser Mann der Taufpate sei von Ns Sohn?
34
Ja, das stimmt, man kann es so beschreiben. Das ist eine Art Tradition, die man in der westlichen Welt nicht
erklären kann.“
35 In der weiteren Vernehmung vom 1.7.2013 bezeichnet K die Kontaktperson dann von sich aus als Taufpate
des Sohnes von N.
36 (2) Auch zur Bewertung dieser Aussage liefern die vorgelegten Akten nicht alle erforderlichen
Informationen. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich aus dem Vernehmungsprotokoll vom 12.12.2012
ergibt, dass sich K zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz unter dem Vorwurf der Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz in Untersuchungshaft befand. Ob er sich vor diesem Hintergrund Vorteile durch
seine Angaben zu dem Hintermann seiner Betäubungsmittelgeschäft versprochen haben könnte und sich
daraus ein Anreiz für unrichtige Angaben ergab, vermag der Senat jedoch nicht zu beurteilen, weil sich aus
den Akten nähere Einzelheiten zu dem gegen K in der Schweiz erhobenen Tatvorwurf und zum Gang und
Ausgang des dortigen Verfahrens nicht ergeben.
37 Unabhängig davon bildet die Aussage von K auch inhaltlich derzeit keine hinreichende Grundlage für die
Annahme, bei der Person, mit der er 2009 in den Niederlanden zusammentraf, habe es sich um den
Beschuldigten gehandelt.
38 Die von K abgegebene Personenbeschreibung reicht zur Identifizierung nicht aus. Die von ihm angegebenen
Namen, mit denen die Kontaktperson angeredet worden sein soll, stellen ebenfalls keine Verbindung zu dem
Beschuldigten her. Bei der Lichtbildvorlage konnte K den Beschuldigten nicht identifizieren, auch wenn dies
durch den Umstand relativiert wird, dass es sich zum einen um einen einmaligen, lange zurückliegenden
Kontakt gehandelt hatte und zum anderen das vorgelegte Lichtbild vom Beschuldigten einige Jahre vor dem
Zusammentreffen gefertigt worden war.
39 Eine eindeutige Zuordnung ist danach - wie in der Aussage von N B - nur über die von K beschriebene
besondere persönliche Beziehung, in der der Kontaktmann zu Ö stehen soll, möglich. Abgesehen von der
Unschärfe der Beschreibung der Art dieser Beziehung in der ersten Vernehmung von K, ist aber nach dem
Inhalt der Vernehmungen offen, ob der Aussage diesbezüglich ein eigenständiger Beweiswert für die
Annahme zukommt, dass der Beschuldigte die Kontaktperson im Jahr 2009 und damit der Lieferant des
Marihuanas an Ö war. Denn die Formulierung in der Vernehmung von K vom 12.12.2012, „man
[Hervorhebung durch den Senat] hat mir gesagt“, lässt auch die Möglichkeit offen, dass N B lediglich die von
Ö erhaltene Information über den Lieferanten an K weitergegeben hatte und K daraus nur den Schluss zog,
er habe es bei dem Treffen 2009, bei dem er nach den geschilderten Umständen mit dem Lieferanten Ös
zusammentraf, mit dem Taufpaten des Sohnes von Ö zu tun gehabt. In diesem Fall würde die Aussage von K
nur bestätigen, dass Ö die ihm von N B zugeschriebenen Äußerungen über seinen Lieferanten tatsächlich
getätigt hat, ein unabhängiger Beleg für ihre inhaltliche Richtigkeit wären sie aber nicht.
40 dd. A S schließlich hatte in mehreren Vernehmungen durch die niederländischen Justizbehörden als
Verdächtiger umfangreiche Angaben gemacht, bei denen er zahlreiche Personen der Verstrickung in den
Anbau und Handel mit Betäubungsmitteln bezichtigte. In Bezug auf den Beschuldigten behauptete er dabei,
dieser habe im Tatzeitraum von ihm und anderen Personen unverarbeitetes Cannabis in großen Mengen -
die Rede war von insgesamt ca. 700 bis 800 Kilogramm ungetrocknetem Pflanzenmaterial - bezogen.
41 Dieser Aussage - die inhaltliche Richtigkeit der den Beschuldigten belastenden Angaben unterstellt - kommt
allerdings von vornherein nur ein mittelbarer Beweiswert zu, weil sich daraus zwar eine tiefgehende
Verstrickung des Beschuldigten in den Handel mit Cannabis, nicht aber ein direkter Beleg für seine
Beteiligung gerade an den verfahrensgegenständlichen Taten ergibt.
42 Im Übrigen ist auch hier darauf hinzuweisen, dass die isolierte Aussage A S ohne Kenntnis der
Zusammenhänge eine Beurteilung der Glaubwürdigkeit der belastenden Angaben kaum zulässt. Die
Staatsanwaltschaft Waldshut-Tiengen hat zwar in einem Rechtshilfeersuchen vom 4.3.2013 die
niederländischen Justizbehörden um Vernehmung von A S und weiterer von ihm in seinen Vernehmungen
benannter Personen in Gegenwart deutscher Ermittlungsbeamter ersucht, darunter von P (oder: B), bei dem
es sich um die „rechte Hand“ des Beschuldigten bei der Abwicklung von Betäubungsmittelgeschäften
gehandelt haben soll. Zu welchem Ergebnis dieses Ersuchen geführt hat, lässt sich jedoch den vorgelegten
Akten nicht entnehmen. Im Hinblick auf die von A S gegenüber den niederländischen Behörden aufgestellte
Behauptung verwundert es zudem, dass die deutschen Ermittlungsbehörden nach Aktenlage nicht bei der
niederländischen Justiz Erkundigungen dazu eingeholt haben, ob in den Niederlanden auf der Grundlage der
Aussage A S oder aus anderem Grund Ermittlungen gegen den Beschuldigten eingeleitet wurden und zu
welchem Ergebnis diese gegebenenfalls geführt haben.
43 Wegen der aufgezeigten Lücken vermag auch die Zusammenschau der vorgenannten Beweismittel nach der
Bewertung des Senats zum jetzigen Zeitpunkt keinen Tatverdacht von dem in § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO
vorausgesetzten Grad zu begründen.
44 2. Darüber hinaus erlaubt der Inhalt der vorgelegten Akten auch keine abschließende Prüfung, ob ein
Haftgrund gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 StPO besteht.
45 Soweit Haftbefehl und der diesen bestätigende landgerichtliche Beschluss vom 19.6.2015 von Fluchtgefahr
(§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) ausgehen, ist der dort vorgenommenen Bewertung im Ausgangspunkt
beizupflichten, dass eine besonders hohe Straferwartung - wie im vorliegenden Fall - die Annahme, der
Beschuldigte werde sich nicht dem Verfahren stellen, nahe legt. Indes können die zu erwartenden
Rechtsfolgen allein die Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen; sie sind lediglich, aber auch nicht
weniger, als der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der Straferwartung folgender Fluchtanreiz
unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Beschuldigte werde diesem
wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden. Auf dieser Grundlage sind die auf eine Flucht hindeutenden
Umstände gegen diejenigen Tatsachen abzuwägen, die einer Flucht entgegenstehen. Je höher die konkrete
Straferwartung ist, umso gewichtiger müssen die den Fluchtanreiz mindernden Gesichtspunkte sein (Senat
Die Justiz 2010, 374; KG NStZ-RR 2014, 374; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 112 Rn. 24 f.).
46 Bei Anwendung dieses rechtlichen Maßstabs kommt dem Umstand besondere Bedeutung zu, dass es sich bei
dem Beschuldigten um einen türkischen Staatsangehörigen handelt, der jedenfalls im Tatzeitraum seinen
Wohnsitz in den Niederlanden hatte. Zwar ergibt sich aus den polizeilichen Vermerken vom 21.2.2013 und
vom 10.1.2014, dass der Beschuldigte unter seiner damaligen Meldeadresse in den Niederlanden nicht
(mehr) gewohnt haben und unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Auslieferungshaft in den
Niederlanden in die Türkei ausgereist sein soll. Der daraus vom Landgericht Waldshut-Tiengen im
angefochtenen Beschluss gezogene Schluss, der Beschuldigte habe sich damit dem Verfahren in Deutschland
entziehen wollen, beruht jedoch auf einer unvollständigen Tatsachengrundlage. Allein der Umstand, dass
sich ein Beschuldigter in sein Heimatland zurückbegibt, reicht insoweit nicht aus, wenn sich nicht aus den
Umständen der Wille des Beschuldigten ergibt, sich dem Verfahren nicht stellen zu wollen (OLG Celle StraFo
2009, 204; OLG Hamm StV 2005, 35; OLG Dresden StV 2007, 587). Dazu wäre in den Blick zu nehmen
gewesen, ob der Beschuldigte durch seine Ausreise in die Türkei für die deutsche Justiz unerreichbar
geworden ist. Dies läge dann eher fern, wenn er in der Türkei (oder erneut in den Niederlanden) einen
festen Wohnsitz begründet hat, an dem er für Ladungen erreichbar ist, während im umgekehrten Fall die
Annahme, dass der Beschuldigte sich verborgen hält (Haftgrund gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO), naheliegt.
Eine diesbezügliche Abklärung - sei es über die Verteidiger, sei es im Weg der Rechtshilfe - ist aber ersichtlich
nicht erfolgt.
47 3. Zur Schließung der vorstehend aufgezeigten Lücken im vorgelegten Tatsachen- und Beweisstoff sind
umfangreiche weitere Ermittlungsmaßnahmen angezeigt, die nach Lage der Dinge Rechtshilfeersuchen in
die Niederlande, und in die Schweiz (Nachvernehmung K), möglicherweise auch in die Türkei (Aufenthalt des
Beschuldigten), erforderlich machen. Im Hinblick auf den damit voraussichtlich nicht unerheblichen zeitlichen
Aufwand, würde die Zurückstellung der Entscheidung zu einer unangemessenen Verzögerung führen (LR-
Hilger a.a.O., § 112 Rn. 20).