Urteil des OLG Karlsruhe vom 25.02.2006
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OLG Karlsruhe Beschluß vom 25.2.2006, 16 UF 160/05
Elterliche Sorge: Entziehung des Personensorgerechts bei Kindesmisshandlung
Tenor
1. Auf die Beschwerden der Beteiligten Ziffer 4 und 5 wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht -
Mannheim vom 30.05.2005 (AZ: 3 F 57/05) mit folgender Maßnahme aufgehoben:
Den Eltern wird aufgegeben, die Beratung bei einer psycho-sozialen Beratungsstelle, etwa dem … e.V., weiter zu
führen und — sobald sie das Kind M. in ihrer dauernden Obhut haben - dieses für die Dauer eines Jahres in
Abständen von zwei Monaten einem Kinderarzt vorzustellen.
Der Antrag des Jugendamtes der Stadt Mannheim wird im Übrigen zurückgewiesen.
2. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Die außergerichtlichen Kosten der Beteiligten werden nicht erstattet.
3. Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.000 EUR festgesetzt.
Gründe
A.
1
Gegenstand des Verfahrens ist die Entziehung der Personensorge auf Antrag des Stadt Jugendamtes
Mannheim für das am … geborenen Kind M. Dem liegt folgender Sachverhalt zu Grunde:
2
Die Beteiligten Ziffer 4 und 5 (im Folgenden Mutter und Vater) sind die nicht verheirateten Eltern des Kindes.
Bei einer ärztlichen Untersuchung des Jungen am 13.12.2004 bei Dr. med. … stellte dieser Hämatome an den
Oberarmen des Jungen und ein kleines Hämatom am linken Augenrand fest. Nach einer anfänglicher
Weigerung stellte die Mutter den Jungen am gleichen Tage auf Verlangen des Kinderarztes in der Kinderklinik
vor, nachdem Dr. … mit einer Anzeige gedroht hatte. In der Kinderklinik wurden sodann weitere Kratzspuren
am Kopf des Säuglings, eine metaphysäre Absprengung der distalen Tibia links sowie abgeheilte
Rippenfrakturen der seitlich der Wirbelsäule gelegenen Rippen 3 bis 6 rechts festgestellt.
3
Am 23.12 2004 wurde M. durch das JA in Obhut genommen und in eine Bereitschaftspflegestelle gegeben. Mit
Beschluss vom 04.02.2005 hat das Amtsgericht den Eltern gemäß § 1666, 1666a BGB vorläufig die
Personensorge entzogen und auf das JA der Stadt … übertragen. Seit August 2005 befindet er sich bei einer
Dauerpflegefamilie.
4
Die Eltern haben nach Darstellung der beteiligten Ärzte und des Jugendamtes nach der Aufnahme des Kindes
in der Kinderklinik bis zu ihrer gerichtlichen Anhörung unterschiedliche Angaben darüber gemacht, wie diese
Verletzungen entstanden sein könnten. Für die insoweit ärztlicherseits getroffenen Feststellungen wird auf die
Arztberichte und Bescheinigungen vom … sowie die gerichtlichen Protokolle verwiesen. Das JA hat sich mit
Bericht vom 02.02.2005 und 19.05.2005 geäußert.
5
Die Eltern sind der beantragten Entziehung der elterlichen Sorge mit Schriftsatz vom … entgegengetreten. Eine
Kindesmisshandlung liege nicht vor. Die Verletzungen seien Folge von Unfällen. Das Amtsgericht hat die
Eltern und die Vertreter des JA am … angehört. Insoweit wird auf das Protokoll vom gleichen Tage verwiesen.
6
Mit Beschluss vom 10.03.2005 holte das Amtsgericht ein Sachverständigengutachten zur Ursache der
Verletzungen bei Prof. Dr. med. …, Institut für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin …, ein. Auf das Gutachten
vom … wird Bezug genommen. Eine/n Verfahrenspfleger/in hat das Amtsgericht nicht bestellt.
7
Mit dem angegriffenen Beschluss vom 30.05.2005 hat das Amtsgericht den Sorgerechtsentzug bestätigt und
weiter in Ziffer 3 des Beschlusses angeordnet, dass der Pfleger dafür Sorge zu tragen habe, dass beide
Elternteile – ggf. auch erst nach 17 Uhr – ausreichend Möglichkeit zum persönlichen Umgang mit dem Kind
haben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Ermittlungen hätten ergeben, dass die Eltern
das Kind so gravierend misshandelt hätten, dass eine derzeitige Rückführung des Kindes in den elterlichen
Haushalt nicht möglich sei, wenn auch zu Gunsten der Eltern unterstellt werde, dass sie keine vorsätzlichen
Körperverletzungen begangen hätten. Es bestehe auch keine Möglichkeit, durch Einsatz staatlicher Hilfen das
Kind bei seinen Eltern zu lassen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe des Beschlusses
Bezug genommen. Einen im Verfahren 3 F 95/05 gestellten Antrag der Eltern auf Herausgabe des Kindes hat
es ebenfalls mit Beschluss vom 30.05.2005 zurückgewiesen. Einen vom JA mit Schriftsatz vom 13.05.2005
gestellten Antrag auf Entziehung auch der Vermögenssorge führt das Amtsgericht in einem getrennten
Verfahren. Hierüber ist bislang nicht entschieden. Mit Beschluss vom 15.07.2005 hat das Amtsgericht ferner
im Verfahren 3 F 257/05 vorläufig angeordnet, dass der Mutter einmal wöchentlich von donnerstags 17 bis 18
Uhr Umgang zu gewähren ist.
8
Gegen den ihnen am 09.06.2001 zugestellten Beschluss hat der Vater mit Schriftsatz vom 05.07.2005 -
eingegangen beim OLG am 07.07.2005 - Beschwerde eingelegt, die er mit Telefax vom 08.08.2005 –
eingegangen beim OLG am gleichen Tage - und vom 13.09.2005 begründet hat und mit der er eine Aufhebung
des amtsgerichtlichen Beschlusses – hilfsweise die Bestellung eines anderen Pflegers - beantragt.
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Er macht im Wesentlichen geltend, es lägen keine vorsätzlichen Kindesmisshandlungen vor. Die endgültige
Entziehung des Personensorgerechtes verstoße gegen Art. 8 MRK. Er führt seit dem 05.07.2005 Gespräche
bei der psychologischen Beratungsstelle des … e.V. (Bescheinigung vom 08.09.2005 AS II, 149).
10 Die Mutter hat mit Schriftsatz vom 04.07.2005 - eingegangen beim OLG am 07.07.2005 - ebenfalls
Beschwerde eingelegt, mit der sie eine Aufhebung des amtsgerichtlichen Beschlusses beantragt. Seit dem
27.07.2005 führt sie Einzelgespräche bei der psychologischen Beratungsstelle des … e.V.
11 Das Jugendamt ist den Beschwerden der Eltern entgegengetreten.
12 Das Jugendamt hat gegen den ihm am 29.06.2005 zugestellten Beschluss Beschwerde gegen Ziffer 3 des
amtsgerichtlichen Beschlusses eingelegt. Diese Beschwerde wurde bei der Anhörung am 13.10.2005
zurückgenommen. Es ist der Ansicht, dass zum dauerhaften Schutz des Kindes und zur Bewahrung und
Sicherung seines Wohlergehens eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie auszuschließen sei, da diese ihrer
Garantenpflicht nicht nachgekommen sei.
13 Der Senat hat mit Beschluss vom 29.08.2005 eine Verfahrenspflegerin bestellt, die sich mit Schriftsätzen vom
… geäußert hat.
14 Der Senat hat am 13.10.2005 die Eltern, die Vertreter des JA und die Verfahrenspflegerin angehört. Von einer
Anhörung des Kindes wurde im Hinblick auf dessen Alter abgesehen. Insoweit wird auf das Protokoll vom …
verwiesen.
15 Der Senat hat sodann mit Beschluss vom 13.10.2005 durch den Sachverständigen Prof. Dr. … ein Gutachten
zur Erziehungsfähigkeit der Eltern erstellen lassen, welches mit Datum vom 06.01.2006 vorgelegt worden ist.
16 Die namentlich nicht bekannten Pflegeltern haben sich – anwaltlich vertreten – mit Schriftsatz vom 07.12.2005
geäußert.
II.
17 Die nach §§ 621e Abs.1, 3, 621 Nr.1, 621a ZPO, 19, 20 FGG zulässigen Beschwerden der Eltern sind
begründet.
18 Nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand liegen die Voraussetzungen für eine Entziehung des
Personensorgerechts nicht vor.
19 Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes durch missbräuchliche Ausübung der
elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern gefährdet,
so hat das Familiengericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen (§ 1666 Abs.1
BGB). Das BVerfG hat hierzu in einer Entscheidung vom 21.06.2002 (FamRZ 2002, 1021) ausgeführt:
20 Nach Art. 6 II S. 1 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern. In dieses Recht
darf der Staat grundsätzlich nur im Rahmen des staatlichen Wächteramtes (Art. 6 II S. 2 GG) eingreifen.
Eingriffe in das Elternrecht sind insbesondere dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn das Wohl des
Kindes durch die Sorgerechtsausübung der Eltern gefährdet wird. Jede zum Zwecke der Abwendung einer
Kindeswohlgefährdung getroffene staatliche Maßnahme muss allerdings den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit beachten (vgl. BVerfGE 72, 122, 137 = FamRZ 1986, 871; BVerfGE 76, 1, 50 f. = FamRZ
1988, 36 [LSe], m.w.N.).
21 Darüber hinaus regelt und begrenzt Art. 6 III GG einen bestimmten, aufgrund des staatlichen Wächteramts in
Betracht kommenden Eingriff in das Elternrecht: Eine Trennung des Kindes von seinen erziehungsberechtigten
Eltern ist gegen deren Willen nur aufgrund eines Gesetzes und nur dann möglich, wenn diese versagen oder
wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen (vgl. BVerfGE 24, 119, 138 f. = FamRZ 1968,
578). Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben sind im Zusammenhang mit dem Elternrecht des Art. 6 II S. 1
GG zu sehen. Für die leiblichen Eltern ist die Trennung von ihrem Kind der stärkste vorstellbare Eingriff in ihr
Elternrecht, der nur bei strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mit dem GG vereinbar ist
(vgl. BVerfGE 60, 79, 89, 91 = FamRZ 1982, 567; BVerfGE 79, 51, 60 = FamRZ 1989, 31).
22 Eine solche, vom Familiengericht festzustellende Gefährdung erfordert eine
23 „... gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung des
Kindes eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt ...“ (BGH FamRZ 56, 350).
24 Der Entzug des Personensorgerechtes als Bestandteil der elterlichen Sorge darf nur als außergewöhnliches
Mittel angeordnet werden, wenn andere Maßnahmen zur Beseitigung der Kindeswohlgefährdung nicht in Frage
kommen. Die Beurteilung, ob eine solche Situation vorliegt, erfordert eine Prognose, deren Grundlage in der
Regel aus Vorfällen in der Vergangenheit gebildet wird.
25 1. Die konkreten Anhaltspunkte für eine gesundheitliche Gefährdung von M. reduzieren sich auf dasjenige, was
bis zur Einrichtung der Bereitschaftspflege von M. festzustellen war, d.h. die im Dezember 2004 ersichtlichen
Verletzungen. Hierzu hat der Sachverständige … festgestellt, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nach der
Geburt des Kindes am 22.10.2004 verursacht worden sind.
26 2. Den Eltern wird in diesem Zusammenhang insbesondere vorgeworfen, dass sie keine nachvollziehbare
Erklärung für das Zustandekommen der Verletzungen, insbesondere der Schienbeinabsprengung gegeben
haben und dass sich ihre Erklärungen in Vermutungen erschöpft haben und das sie insbesondere die
Verantwortung für die Verursachung der festgestellten Verletzungen nicht vorbehaltlos übernommen haben.
Hierauf allein lässt sich indessen nicht die Prognose stützen, dass es auch in Zukunft zu Misshandlungen des
Kindes kommen wird.
27 a) Nach dem Ergebnis der Ermittlungen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Eltern M. im Sinne
einer vorsätzlichen Verursachung der festgestellten Verletzungen misshandelt haben. Anhaltspunkte hierfür
haben sich nicht ergeben. Vielmehr geht der Senat aufgrund der angestellten Ermittlungen davon aus, dass die
Verletzungen die Folge eines unsachgemäßen, nicht kleinkindgerechten Umgangs mit dem Kind in seinen
ersten Lebenswochen gewesen sind, wobei die konkrete Ursache rückwirkend angesichts der Vielzahl der
hierfür in Frage kommenden Erklärungen kaum ermittelt werden kann.
28 b) Ist dies aber so, so kann hieraus nicht abgeleitet werden, die Eltern seien grundsätzlich nicht
erziehungsgeeignet und ihre Kind müsse zu seinem eigenen Schutz für immer von ihnen getrennt werden.
Einzelne Erziehungsfehler reichen zur Rechtfertigung einer Trennung von Eltern und Sohn nicht aus. Nicht
jedes Versagen der Eltern berechtigt den Staat, diese von der Pflege und Erziehung ihres Kindes
auszuschalten oder gar selbst diese Aufgabe zu übernehmen. Vielmehr setzen Maßnahmen nach §§ 1666,
1666a BGB ein schwerwiegendes Fehlverhalten und entsprechend eine erhebliche Gefährdung des
Kindeswohls voraus. Die festgestellten Verletzungen haben trotz ihrer Schwere insgesamt betrachtet nicht das
Gewicht, um eine erhebliche Gefährdung von M. für die Zukunft befürchten zu lassen. Kindesmisshandlungen
in der hier vorliegenden Form sind nicht per se „Wiederholungstaten“. Es spricht nichts dagegen, dass sich die
Eltern das vorliegende Verfahren zur Lehre gereichen lassen und in Zukunft — ggf. auch unter sachkundiger
Anleitung — sorgfältiger und kindgerechter mit M. umgehen.
29 c) Der Senat sieht sich in dieser Einschätzung durch die Ausführungen des Sachverständigen … bestätigt.
Dieser ist zu dem Ergebnis gelangt, dass keine grundsätzlichen Zweifel gegen die Erziehungsfähigkeit der
Eltern bestehen.
30 3. Schließlich bestimmt auch § 1666a BGB, dass Maßnahmen, die mit einer Trennung des Kindes von der
elterlichen Familie verbunden sind, nur zulässig sind, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht
durch öffentliche Hilfen begegnet werden kann. Insbesondere darf — was das Jugendamt durch die ebenfalls
beantragte Entziehung auch der Vermögenssorge anstrebt — die gesamte Personensorge nur entzogen
werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind (§ 1666a Abs.3 BGB).
31 Hierzu ist seitens des Amtsgerichts und des Jugendamtes nichts Konkretes erwogen worden. Es erscheint
dem Senat durchaus möglich, durch eine intensive ärztliche Kontrolle verbunden mit therapeutischer Beratung
der Eltern — wie sie der Senat den Eltern gemäß § 1666 a BGB auch aufgibt — eine Situation zu schaffen, die
eine weitere Gefährdung des Kindes durch Vorfälle ähnlicher Art ausschließt. Die Eltern haben gegenüber dem
Sachverständigen ihre Bereitschaft signalisiert, sich in ihrem Erziehungsverhalten nicht nur beraten, sondern
sich auch kontrollieren zu lassen.
32 Der Senat ist mit der Verfahrenspflegerin der Ansicht, dass es unverständlich ist, dass die Eltern in diesem
Zusammenhang vom JA nicht auf anderweitige Beratungsangebote und Hilfen hingewiesen worden sind. Die
hierfür vom Vertreter des JA während der Anhörung hierzu gegebene Erklärung, die Eltern hätten keine
verlässlichen Angaben über die Ursache der Verletzungen gemacht, deshalb habe man sie nicht beraten
können, ist nicht nachvollziehbar. Nach den Angaben der Beteiligten ist davon auszugehen, dass es letztmals
Anfang Februar 2005 zu einem persönlichen Kontakt zwischen den Eltern und dem Vertreter des JA
gekommen ist. Danach haben sich offenbar die Fronten verhärtet, wozu auch die Einschaltung eines Anwaltes
auf Seiten der Eltern beigetragen haben mag. Das Amtsgericht seinerseits hat es unterlassen, die nach § 50
Abs.2 Nr.2 FGG zur Unterstützung des Kindes gebotene Bestellung eines Verfahrenspflegers für das Kind
vorzunehmen. Vor dem Hintergrund dieser Versäumnisse kann den Eltern nicht vorgeworfen werden, dass sie
nicht frühzeitiger ihnen erst später durch die Verfahrenspflegerin bekannt gegebene beratende Hilfestellungen in
Anspruch genommen haben.
33 4. Besorgnis erregend ist, dass das Jugendamt offenbar wie selbstverständlich davon ausgeht, dass eine
Rückführung des Kindes in seine Herkunftsfamilie ausgeschlossen ist. So enthält der Hilfeplan vom
06.10.2005 (AS II, 311) keinerlei Konzept für eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie (Ziffer 2.3) und spricht in
Ziffer 5 klar aus. dass „... eine Rückführung M. in seine Herkunftsfamilie auf Dauer nicht möglich ...“ ist.
Bereits am 04.02.2005 hat der Pfleger des JA erklärt, dass die Eltern „das Kind nicht mehr bekommen“
(Angabe der Mutter bei der Anhörung am 13.10.2005, vgl. Protokoll S. 5 = AS II, 203).
34 Der EuGH hat hierzu in einer Entscheidung vom 08.04.2004 (FamRZ 2005, 585) ausgeführt (in der
Entscheidung vom 26.02.2004 = FamRZ 2004, 1456 wird dies als „ständige Spruchpraxis“ bezeichnet):
...
35 90. Der Umfang des den innerstaatlichen Behörden zustehenden Beurteilungsspielraums ist abhängig von der
Natur der zugrunde liegenden Angelegenheiten und der Bedeutung der infrage stehenden Interessen. Zwar
,
Notwendigkeit der Inpflegenahme eines Kindes, jedoch muss der Gerichtshof im Einzelfall davon überzeugt
sein, dass die vorliegenden Umstände eine Herausnahme des Kindes rechtfertigen. Der bekl. Staat hat zudem
nachzuweisen, dass vor der Durchführung einer solchen Maßnahme deren Auswirkungen auf Eltern und Kind
und mögliche Alternativen zur Inpflegenahme des Kindes sorgfältig geprüft wurden (K. u. T/Finnland, a.a.O.,
Ziff. 166; Kutzner/Deutschland, a.a.O., Ziff. 67; P, C. und S./Großbritannien, Urteil v. 16.07.2002 - Beschwerde
Nr. 5647/00 -, Ziff. 116, EuGHMR 2002-VI).
.
schwerwiegenden Eingriff dar. Deshalb kann ein Säugling unmittelbar nach seiner Geburt nur aus
außergewöhnlich zwingenden Gründen ohne vorherige Anhörung der Eltern und gegen den Willen der Mutter
aus deren Obhut genommen werden (K. u. T./Finnland, a.a.O., Ziff. 168).
37 92. Nach erfolgter staatlicher Inobhutnahme ist ein strengerer Prüfungsmaßstab (stricter scrutiny) bei jeglichen
weiteren Beschränkungen anzulegen, z.B. bei Einschränkungen des Sorge- und Umgangsrechts der Eltern und
bei gesetzlichen Vorkehrungen zur Gewährleistung eines effektiven Schutzes der Rechte von Eltern und
Kindern auf Achtung ihres Familienlebens. Solche weitergehenden Beschränkungen beinhalten die Gefahr,
dass familiäre Beziehungen zwischen den Eltern und einem kleinen Kind endgültig abgebrochen werden (vgl.:
Elsholz/Deutschland (GK), Urteil v. 13.07.2000 - Beschwerde Nr-25735/94 -, Ziff. 49, EuGHMR 2000-VIII =
FamRZ 2001, 341; Kutzner/Deutschland, a.a.0., Ziff. 67; Sahin/Deutschland, a.a.0., Ziff. 65).
38 93. Die Inpflegenahme eines Kindes stellt grundsätzlich eine vorübergehende Maßnahme dar, die zu beenden
ist, sobald die Umstände dies erlauben. Alle Durchführungsmaßnahmen haben mit dem anzustrebenden Ziel
der Zusammenführung von leiblichen Eltern und ihrem Kind in Einklang zu stehen (vgl.: Johansen/Norwegen,
a.a.O., S. 1008 - 1009, Ziff. 78; E. B./ Italien, Urteil v. 16.11.1999 - Beschwerde Nr. 31127/96 -, Ziff. 69) ...
39 Diesen Anforderungen genügt die Vorgehensweise des JA nicht.
40 5. Es ist schließlich darauf hinzuweisen, dass es nicht Sinn und Zweck der Entziehung des
Personensorgerechts ist, einem Kind „bessere Lebensbedingungen“ zu verschaffen. Es geht nicht darum, ob
M. bei seinen leiblichen Eltern besser aufgehoben ist als bei den Pflegeeltern. Der Staat ist nur berechtigt, in
das Eltern-Kind-Verhältnis einzugreifen, wenn dies zur Abwehr unmittelbar drohender, erhebliche Gefahren für
das Kind geboten ist, nicht bereits dann, wenn es für das betroffene Kind zweckmäßig oder wünschenswert
sein mag.
41 6. Die vom Amtsgericht angeordnete Entziehung der Personensorge ist daher jedenfalls zum gegenwärtigen
Zeitpunkt nicht mehr geboten. Der Beschluss ist deshalb aufzuheben und der entsprechende Antrag des
Jugendamtes im Übrigen zurückzuweisen.
42 Eine Entscheidung über eine sofortige Rückführung des Kindes zu den Eltern und die weitere Ausgestaltung
des Umgangsrechtes ist damit nicht verbunden, da diese nicht Gegenstand des Verfahrens ist. Insoweit kann
jedoch auf die Ausführungen des Sachverständigen verwiesen werden.
III.
43 Einer Entscheidung über die Gerichtskosten im Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil solche nicht
angefallen sind, denn es kann davon ausgegangen werden, dass die Beschwerde der Antragsgegnerin im
Interesse des Kindes eingelegt worden ist (§ 131 Abs. 2 KostO).
44 Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten folgt aus § 13 a Abs. 1 Satz 1 FGG.
45 Gem. § 31 Abs. 1 Satz 1, 131 Abs. 2, 30 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1, 161 KostO ist der Geschäftswert
auf den Regelsatz von 3.000 EUR festzusetzen. Gründe für eine Anhebung oder Absenkung des
Regelstreitwertes bietet der vorliegende Sachverhalt nicht. Da das Rechtsmittel im Jahre 2001 eingelegt
worden ist, hat die Festsetzung des Gegenstandswertes in DM zu erfolgen.
46 Die Voraussetzungen für eine Zulassung der weiteren Beschwerde (§ 621e Abs. 2 Satz 1 S.1 ZPO a.F.) liegen
nicht vor.