Urteil des OLG Karlsruhe vom 28.01.2002

OLG Karlsruhe: haftbefehl, untersuchungshaft, dringender tatverdacht, beschleunigungsgebot, vollstreckung, vollzug, fluchtgefahr, ermittlungsverfahren, unterbrechung, erstellung

OLG Karlsruhe Beschluß vom 28.1.2002, 3 Ws 15/02
Untersuchungshaft: Beschleunigungsgebot bei Überhaft
Tenor
Auf die weitere Beschwerde des Beschuldigten werden der Beschluss des Landgerichts Mannheim vom 03. Januar 2002 und der Haftbefehl des
Amtsgerichts Mannheim vom 17. Dezember 2001 aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens über die Beschwerde und die weitere Beschwerde sowie die dem Beschuldigten insoweit erwachsenen notwendigen
Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
1
Der Beschuldigte, gegen den die Staatsanwaltschaft Mannheim seit Juli 1999 ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Betruges u.a. führt,
befand sich seit seiner Festnahme am 09.03.2000 zunächst aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Mannheim vom 19.01.2000 in
Untersuchungshaft. Mit seit 14.12.2000 vollzogenem Beschluss des Amtsgerichts vom 12.12.2000 wurde die Untersuchungshaft zur Verbüßung
der restlichen Freiheitsstrafe von 603 Tagen aus dem Urteil des Amtsgerichts Frankfurt/Main vom 25.11.1998 unterbrochen. Das Ende der derzeit
vollstreckten Strafe wird voraussichtlich am 08.08.2002 sein.
2
Nachdem das Amtsgericht Mannheim auf Antrag der Staatsanwaltschaft am 17.12.2001 einen neuen, dem derzeitigen Verfahrensstand
angepassten Haftbefehl erlassen und dem Beschuldigten eröffnet hatte, legte dieser am selben Tag dagegen Beschwerde ein mit dem Ziel, den
Haftbefehl aufzuheben. Das Amtsgericht half der Beschwerde mit Entschließung vom 17.12.2001 nicht ab. Mit Beschluss vom 03.01.2002 verwarf
das Landgericht - Wirtschaftsstrafkammer 2 - Mannheim die Haftbeschwerde als unbegründet. Der Beschuldigte erhob hiergegen weitere
Beschwerde mit Verteidigerschriftsatz vom 07.01.2002. Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat am 18.01.2002 auf die Verwerfung der
weiteren Beschwerde, der das Landgericht am 09.01.2002 nicht abgeholfen hat, angetragen.
II.
3
Das Rechtsmittel des Beschuldigten erweist sich als zulässig und begründet.
4
Die weitere Beschwerde gegen den nicht vollzogenen und zur Überhaft notierten Haftbefehl ist statthaft, da der angefochtene Beschluss die
Verhaftung betrifft (§ 310 Abs. 1 StPO). Ein solcher Fall liegt vor, wenn durch ihn unmittelbar entschieden wird, ob der Beschwerdeführer in
Untersuchungshaft zu nehmen oder zu halten ist (BGHSt 26, 270). Diese Voraussetzung ist hier gegeben. Denn der zum Vollzug vorgemerkte
Haftbefehl entfaltet seine freiheitsentziehenden Wirkungen sofort und ohne weitere gerichtliche Anordnung, wenn die Strafhaft endet oder der
Freiheitsentzug z.B. durch eine Beurlaubung unterbrochen werden soll (OLG Karlsruhe Die Justiz 1980, 208).
5
Dass der Beschuldigte der ihm im Haftbefehl zur Last gelegten Straftaten dringend verdächtig ist, hat der Senat - unter Bezug auf die frühere
Haftgrundlage - bereits in seinem nach § 121 Abs. 1 StPO ergangenen Beschluss vom 18.09.2000 - 3 HEs 188/00 - geprüft und bejaht. Dies gilt
auch für die in den neuen Haftbefehl zusätzlich aufgenommenen Tatvorwürfe; insoweit nimmt der Senat auf die zutreffenden Gründe des
Beschlusses der Wirtschaftsstrafkammer Bezug.
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Mit Recht hat das Landgericht die Haftgründe der Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 Nrn. 2,3 StPO) aus den im Haftbefehl
dargelegten Gründen vorliegend als gegeben erachtet. Gerade wegen der fortbestehenden Beziehungen des Beschuldigten in sein früheres
Heimatland Rumänien ist das Ausmaß der Fluchtgefahr besonders hoch einzuschätzen. Hiergegen hat der Beschwerdeführer auch nichts
erinnert.
7
Der Haftbefehl kann jedoch nicht aufrechterhalten werden, weil dies zu der Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu
erwartenden Strafe außer Verhältnis stehen würde. Bei der Prüfung, ob die Aufrechterhaltung des Haftbefehls noch mit dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO) in Einklang steht, ist nämlich zu beachten, dass dieses Prinzip der Dauer der
Untersuchungshaft und damit auch dem durch Überhaftnotierung zum Vollzug vorgemerkten Haftbefehl unabhängig von der zu erwartenden
Strafe Grenzen setzt und sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Beschuldigten gegenüber dem staatlichen Interesse an einer wirksamen
Strafverfolgung mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft regelmäßig vergrößern wird (BVerfGE 53, 152). Diesem Gesichtspunkt kann bei
Verstößen gegen das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG herzuleitende Beschleunigungsgebot auch dann Bedeutung zukommen, wenn bei
Vollstreckung von Strafhaft der Haftbefehl lediglich zur Überhaft notiert ist (OLG Stuttgart StV 1990, 213; OLG Düsseldorf StV 1991, 474; OLG
Frankfurt/Main StV 1994, 665; KG Beschl. vom 02.12.1999 - 4 Ws 291/99 - bei juris Rechtsprechung; OLG Bremen StV 2000, 35). Die
Notwendigkeit für eine beschleunigte Durchführung des Verfahrens ergibt sich daraus, dass der Beschuldigte aufgrund der Überhaftnotierung
nach § 122 StVollzG den durch den Zweck der Untersuchungshaft gebotenen Freiheitsbeschränkungen unterliegt und nicht die nach den
Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes vorgesehenen Vollzugslockerungen erhalten kann (OLG Frankfurt/Main a.A. O.; OLG Bremen a.A. O.;
Boujong in KK StPO 4. Aufl. § 119 Rdnr. 18). Auch die nur angeordnete, aber nicht vollzogene Untersuchungshaft ist auf das sachlich vertretbare
Mindestmaß zu beschränken (OLG Stuttgart a.a.O.). Dabei ist zu bedenken, dass ein Beschuldigter nicht deshalb in Untersuchungshaft
verbleiben kann, damit die Aufklärung weiterer Straftaten gesichert wird, wenn für diese weder ein dringender Tatverdacht noch ein Haftbefehl
gegen ihn besteht (BVerfG NJW 1992, 1749).
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Die vom Senat vorgenommene Prüfung ergibt, dass das Ermittlungsverfahren nach Unterbrechung der Untersuchungshaft zwecks Vollstreckung
der rechtskräftig erkannten Freiheitsstrafe nicht in der in Haftsachen gebotenen Weise gefördert worden ist. Bei dieser Bewertung hat der Senat
nicht außer Acht gelassen, dass das Verfahren als besonders umfangreich und komplex einzustufen ist und sichergestellte Unterlagen in großer
Menge zu sichten und auszuwerten waren. Den Ermittlungsbehörden kann auch nicht vorgeworfen werden, dass nicht während des ganzen seit
14.12.2000 verstrichenen Zeitraums Ermittlungshandlungen getätigt wurden. Jedoch betrafen in einem Zeitraum von mehreren Monaten
(Frühjahr 2001) die von der Landespolizeidirektion K. ergriffenen Aufklärungsmaßnahmen ganz überwiegend Sachverhaltskomplexe, die allein
dem weiteren Beschuldigten F. zur Last gelegt werden wie z.B. der Komplex "Bluetec-Media". Durch solche Ermittlungen ist aber das Verfahren
gegen den Beschuldigten H. nicht gefördert worden. Nach Durchsicht der diesbezüglichen Verfahrensakten stellt der Senat fest, dass nach der
vom Verteidiger am 04.04.2001 initiierten staatsanwaltlichen Vernehmung des Beschuldigten zur Sache (15. bis 17.05.2001) bedeutende
Ermittlungshandlungen gegen den Beschuldigten nicht mehr getätigt wurden, die einer raschen Erstellung des kriminalpolizeilichen
Abschlussberichts und der Fertigung einer Anklageschrift noch im Herbst 2001 entgegengestanden hätten. Der Abschluss des
Ermittlungsverfahrens zu diesem Zeitpunkt wäre geboten gewesen, auch wenn die Ermittlungen gegen die sich inzwischen auf freiem Fuß
befindenden weiteren Beschuldigten zu den den Beschuldigten H. nicht betreffenden Tatvorwürfen noch nicht vollständig abgeschlossen waren.
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Bei dieser Sachlage ist die Aufrechterhaltung des Haftbefehls über einen Zeitraum von mehr als 22 Monaten nach dessen Eröffnung - wobei er
fast neun Monate lang vollzogen wurde - nicht mehr hinnehmbar. Das Unterlassen des möglichen Abschlusses der Ermittlungen ist mit dem
Beschleunigungsgebot nicht zu vereinbaren. Der Senat hat daher die angefochtene Beschwerdeentscheidung des Landgerichts sowie den
Haftbefehl aufgehoben.
III.
10 Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.