Urteil des OLG Karlsruhe vom 21.03.2011

OLG Karlsruhe: therapie, auflage, strafvollstreckung, verfügung, behandlung, wahrscheinlichkeit, drogenabhängigkeit, persönlichkeit, kirche, werk

OLG Karlsruhe Beschluß vom 21.3.2011, 2 VAs 3/11
Leitsätze
Will die Vollstreckungsbehörde eine begonnene und bereits vorangeschrittene stationäre Drogentherapie durch die Versagung der Zurückstellung
allein wegen der Ungeeignetheit der vom Verurteilten gewählten Therapieeinrichtung abbrechen, muss sie ihre Entscheidung auf gewichtige
Gründe stützen, die die sehr hohe Wahrscheinlichkeit eines Therapiefehlschlags belegen.
Tenor
Auf den Antrag der Verurteilten N. S. werden die Bescheide der Staatsanwaltschaft M. vom 02.12.2010 und der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe
vom 27.01.2011 aufgehoben.
Die Staatsanwaltschaft M. wird angewiesen, die Antragstellerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden.
Der Gegenstandswert wird auf 3.000.- Euro festgesetzt.
Das Verfahren ist gebührenfrei. Von den insoweit erstandenen notwendigen Auslagen der Antragstellerin trägt die Staatskasse die Hälfte.
Die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
1
Die jetzt 35 Jahre alte Antragstellerin wurde durch das Urteil des Landgerichts M. vom 16.06.2010 wegen 118 Fällen des unerlaubten Erwerbs
von Betäubungsmitteln u.a. zu der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt, auf die 282 Tage Untersuchungshaft
angerechnet wurden. Die Vollstreckung dieser Strafe wurde durch den Bescheid der Staatsanwaltschaft M. vom 29.06.2010 gemäß § 35 BtMG
zur Durchführung einer stationären Drogentherapie zurückgestellt. Die Antragstellerin befand sich sodann nur vom 01.07.2010 bis zum
26.07.2010 in der Therapieeinrichtung, weil sie wegen wiederholter Regelverstöße disziplinarisch entlassen wurde. Mit Verfügung vom
30.09.2010 widerrief die Staatsanwaltschaft daraufhin die Zurückstellung. Der von der Antragstellerin dagegen eingelegte Antrag auf gerichtliche
Entscheidung blieb ohne Erfolg.
2
Mit Anwaltsschreiben vom 24.11.2010 begehrte die Antragstellerin, die am 04.11.2010 nach vorangegangener Entgiftungsbehandlung eine
stationäre Drogentherapie in einem Zentrum für Suchttherapie der Einrichtung Lebenswende e. V. in Frankfurt angetreten hatte, erneut die
Zurückstellung der Strafvollstreckung. Diesen Antrag lehnte die Staatsanwaltschaft M. mit dem Bescheid vom 02.12.2010 ab, weil die Einrichtung
für die Antragstellerin ungeeignet sei. Der hiergegen von der Antragstellerin selbst eingelegten, am 15.12.2010 zu den Akten gelangten
Vorschaltbeschwerde gab die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe keine Folge. Gegen diesen Bescheid wendet sich die Antragstellerin mit dem
am 15.02.2011 beim Oberlandesgericht eingekommenen Antrag auf gerichtliche Entscheidung.
II.
3
Der gemäß §§ 23ff. EGGVG zulässige Antrag ist begründet.
4
Der Vollstreckungsbehörde steht bei ihrer Entscheidung über die Zurückstellung der Strafvollstreckung zur Durchführung einer Drogentherapie
gemäß § 35 BtMG ein Ermessen und hinsichtlich der dabei zu prüfenden Tatbestandsvoraussetzungen, Kausalität der
Betäubungsmittelabhängigkeit für die abgeurteilten Taten und Therapiewilligkeit des Antragstellers (Körner BtMG, 6. Aufl., § 35 Rdnr. 299), ein
Beurteilungsspielraum zu. Gemäß § 28 Abs. 3 EGGVG hat der Senat die Entschließung der Vollstreckungsbehörde auf Rechtsfehler bei der
Anwendung gesetzlicher Bestimmungen, auf Ermessensfehler und darauf zu überprüfen, ob ihr ein zutreffend und vollständig ermittelter
Sachverhalt unter Einhaltung der Grenzen des Beurteilungsspielraums zugrunde gelegt ist (ständige Senatsrechtsprechung, z.B. StV 2002, 263).
5
Der Bescheid der Vollstreckungsbehörde, der in derjenigen Gestalt der Beurteilung durch den Senat unterliegt, die er durch das
Vorschaltverfahren gewonnen hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
6
Sind, wie im vorliegenden Falle, die Voraussetzungen des § 35 BtMG erfüllt, so ist der Vollstreckungsbehörde hinsichtlich der Rechtsfolge ein -
allerdings erheblich eingeschränktes (Senat in NStZ 2008, 566f) - Ermessen eröffnet; sie „kann“ die Strafvollstreckung zurückstellen. Orientieren
muss sich die Ermessensausübung am alleinigen Zweck der Regelung des § 35 BtMG, drogenabhängige Straftäter aus dem Bereich kleiner und
mittlerer Kriminalität im Interesse ihrer Rehabilitation zu einer notwendigen therapeutischen Behandlung zu motivieren (Senat 2 VAs 10/02, B.
vom 30.04.2002; Weber BtMG, 3. Auflage, § 35 Rdnr. 140). In diesem Zusammenhang unterliegt auch die Auswahl der Therapieform und der
Therapieeinrichtung der Entscheidung der Vollstreckungsbehörde. Der Verurteilte kann insoweit nur Vorschläge machen (Körner BtMG, 6.
Auflage. § 35 Rn 187; OLG Koblenz NStZ 1995, 294f). Bei dieser Auswahl muss die Vollstreckungsbehörde unter anderem die Persönlichkeit
und die Drogenkarriere des Verurteilten (Dauer und Art der Abhängigkeit, Therapien, Rückfälle, Vorstrafen etc.) berücksichtigen und danach
erwägen, ob die vom Verurteilten vorgeschlagene Therapieeinrichtung als geeignet erscheint, der Drogenabhängigkeit wirksam zu begegnen
(Senat NStZ-RR 2009, 122f.). Bei ihrer Entscheidung hat die Vollstreckungsbehörde allerdings auch der Offenheit des § 35 BtMG für
unterschiedliche Therapiekonzepte Rechnung zu tragen, die daraus resultiert, dass sich bislang keine allseits anerkannten Standards der
Behandlung von Drogensüchtigen durchsetzen konnten (zur begrenzten Prüfungskompetenz der Vollstreckungsbehörde zutreffend MK-
Kornprobst Strafgesetzbuch § 35 BtMG Rn 62 und 87 bis 89; Körner BtMG 6. Auflage § 35 Rn 128).
7
Vorliegend ist der Bescheid der Vollstreckungsbehörde deshalb zu beanstanden, weil sie ihrer Pflicht zu einer vollständigen
Sachverhaltsaufklärung hinsichtlich der Geeignetheit der von der Antragstellerin aufgesuchten Therapieeinrichtung nicht ausreichend
nachgekommen ist.
8
Der Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft lässt unberücksichtigt, dass sich die Antragstellerin zum Zeitpunkt seines Erlasses schon fast drei
Monate lang ohne Auffälligkeiten und - eigenem Bekunden zufolge - erfolgreich der stationären Therapie in der Einrichtung Lebenswende
unterzogen hat. Angesichts dieses gewichtigen Umstands durfte die Vollstreckungsbehörde die Eignung der Therapieeinrichtung nicht mit
allgemeinen Erwägungen verneinen und damit den Therapieabbruch auf unzureichender Grundlage herbeiführen. Will die
Vollstreckungsbehörde eine bereits begonnene und - wie hier - über fast drei Monate vorangeschrittene stationäre Drogentherapie durch die
Versagung der Zurückstellung allein wegen der Ungeeignetheit der Therapieform oder Therapieeinrichtung abbrechen, muss sie ihre
Entscheidung auf Gründe von solchem Gewicht stützen, die geeignet sind, die sehr hohe Wahrscheinlichkeit eines Therapiefehlschlags zu
rechtfertigen. Solche Gründe sind indessen nicht dargetan.
9
Soweit die angefochtenen Bescheide zur Begründung der Ungeeignetheit der Therapieeinrichtung maßgeblich darauf abheben, sie sei nicht
staatlich anerkannt und verlange auch keine Kostenzusage, handelt es sich um formale Kriterien von geringerem Belang (Körner BtMG 6. Aufl. §
35 Rn 123). Ihre Aussagekraft wird vorliegend noch dadurch gemindert, dass der Verteidiger der Antragstellerin beachtliche für die Qualität der
Einrichtung sprechende Referenzen u.a. zweier Strafkammervorsitzender des Frankfurter Landgerichts vorgelegt hat und nach Aktenlage nichts
dafür spricht, dass Seriosität und therapeutische Qualität der seit 1978 bestehenden, in Frankfurt und Hamburg tätigen, dem Diakonischen Werk
der evangelischen Kirche in Deutschland angehörenden Einrichtung zweifelhaft seien.
10 Um eine tragfähige Grundlage für ihre Entscheidung zu gewinnen und das Risiko zu vermeiden, durch eine Ladung zum Strafantritt mögliche
erste Erfolge der begonnenen Therapie zunichte zu machen, hätte sich die Vollstreckungsbehörde zumindest durch eine Anfrage nach dem
Therapiekonzept der Einrichtung und nach dem konkreten Therapieverlauf über die Frage der Eignung der Einrichtung kundig machen müssen
(MK-Kornprobst aaO Rn 89). Möglicherweise hätte sich ergeben, dass die Antragstellerin unter den Bedingungen der von ihr gewählten
Therapieeinrichtung durchaus das von der Vollstreckungsbehörde angezweifelte Maß an Verträglichkeit, Anstrengungsbereitschaft und
Unterordnungsbereitschaft für einen erfolgreichen Therapieverlauf entwickelt hat und dass sie sich gerade auf das Therapiekonzept dieser
Einrichtung einlassen konnte.
11 Die Erwägung der Vollstreckungsbehörde, dass die Antragstellerin unter den Bedingungen einer professionell betreuten Therapie nach kurzer
Zeit gescheitert sei und dass deshalb der Versuch einer Selbsthilfeeinrichtung keinen Erfolg verspreche, vermag die gebotene
Sachverhaltsklärung vorliegend nicht zu ersetzen. Es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, der diese Erwägung stützt, denn es hängt von
zahlreichen, vielfach nicht vorhersehbaren Umständen ab, ob eine Therapie erfolgreich sein wird (Thüringer OLG B. v. 25.01.2007 1 VAs 3/06 in
juris).
12 Die angefochtenen Bescheide waren deshalb aufzuheben. Bei ihrer neuen Entscheidung wird die Vollstreckungsbehörde die Rechtsauffassung
des Senats zu beachten haben.
III.
13 Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 30 Abs. 2 EGGVG; der Geschäftswert wurde nach §§ 30 Abs. 3 EGGVG, 30 Abs. 2 KostO bestimmt. Da die
Sache keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 29 Abs. 2 Nr. 2 und 2 EGGVG hat, kam eine Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht in
Betracht.