Urteil des OLG Karlsruhe vom 11.04.2005
OLG Karlsruhe: grenzabfertigung, innerstaatliches recht, grenzübertritt, entziehung, vollziehung, zone, aussetzung, strafrecht, begriff, hauptsache
OLG Karlsruhe Beschluß vom 11.4.2005, 3 Ws 99/05; 3 Ws 100/05
Anwendbarkeit deutschen Rechts bei Straftaten auf einer vorgeschobenen deutschen Grenzabfertigungsstelle in der Schweiz
Leitsätze
Straftaten, die auf einer vorgeschobenen deutschen Grenzabfertigungsstelle in der Schweiz aus Anlass der Grenzkontrolle oder in einem sonstigen
engen sachlichen Zusammenhang mit dem Grenzübertritt begangen werden (hier: Trunkenheitsfahrt bei der beabsichtigten Einreise) unterfallen
dem Begriff der Grenzabfertigung im Sinne des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen
Eidgenossenschaft über die Einrichtung nebeneinanderliegender Grenzabfertigungsstellen und die Grenzabfertigung in Verkehrsmitteln während
der Fahrt vom 01.06.1961 (BGBl. II, 1962, 879), geändert durch das Abkommen vom 12.04.1989 (BGBl. II 1991, 292), mit der Folge, dass nach Art. 4
Abs. 1 des Abkommens deutsches Recht Anwendung findet.
Tenor
1. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts K. vom 23. Februar 2005 aufgehoben.
Es verbleibt damit bei der mit Beschluss des Amtsgerichts K. vom 23. Juni 2004 (10 Gs 62/04 hw) angeordneten vorläufigen Entziehung der
Fahrerlaubnis des Angeklagten.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Angeklagte.
2. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landgerichts K. vom 9. März 2005, soweit die Aussetzung der Vollziehung des
Beschlusses des Landgerichts K. vom 23. Februar 2005 abgelehnt worden ist, ist gegenstandslos und bleibt unentschieden.
Gründe
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I. Der Angeklagte, dem mit Beschluss des Amtsgerichts K. vom 23.06.2004 die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen worden war, wurde vom
Amtsgericht K. mit Urteil vom 16.12.2004 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in
Tateinheit mit Beleidigung in vier tateinheitlichen Fällen und in Tateinheit mit Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen, davon in einem
Fall als Versuch, zu der Gesamtgeldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 60 EUR verurteilt. Des weiteren entzog das Amtsgericht dem Angeklagten
die Fahrerlaubnis, zog seinen Führerschein ein und ordnete eine Sperre für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis von sechs Monaten an. Gegen
dieses Urteil legte der Angeklagte fristgerecht Berufung ein. Das in der Berufungsinstanz mit der Sache befasste Landgericht K. hob mit
Beschluss vom 23.02.2005 die durch Beschluss des Amtsgerichts K. vom 23.06.2004 angeordnete vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis auf,
weil keine Gründe vorhanden seien, die einen hinreichenden Anlass für die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtfertigten. Gegen diese
Entscheidung legte die Staatsanwaltschaft Beschwerde ein und beantragte zugleich, die Vollziehung des angefochtenen Beschlusses
auszusetzen. Mit Beschluss vom 09.03.2005 half das Landgericht der Beschwerde der Staatsanwaltschaft nicht ab und lehnte die beantragte
Aussetzung der Vollziehung ab. Gegen die Ablehnung der Vollziehungsaussetzung richtet sich eine gesonderte Beschwerde der
Staatsanwaltschaft.
2
Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landgerichts vom 23.02.2005 hat in der Sache Erfolg. Durch die unter Nr. 1
der Beschlussformel getroffene Entscheidung in der Hauptsache ist das Rechtsmittel gegen die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung des
angefochtenen Beschlusses gegenstandslos geworden.
3
II. 1. Die Voraussetzungen für eine vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis des Angeklagten nach § 111 a Abs. 1 Satz 1 StPO sind entgegen der
Auffassung der Jugendkammer unverändert gegeben.
4
Der Angeklagte ist auf Grund der im Urteil des Amtsgerichts K. vom 16.12.2004 dargestellten Beweisergebnisse der erstinstanzlichen
Hauptverhandlung, insbesondere seines pauschalen Geständnisses, sowie der ergänzenden Ermittlungen des Landgerichts zur örtlichen Lage
des Grenzübergangs K. Autobahn dringend verdächtig, am frühen Morgen des 10.06.2004 auf schweizerischen Straßen bis zur Einreisekontrolle
nach Deutschland durch Beamte des Bundesgrenzschutzes am auf Schweizer Hoheitsgebiet gelegenen Grenzübergang K. Autobahn ein
Kraftfahrzeug geführt zu haben, obwohl er - für ihn erkennbar - infolge vorangegangenen Alkohol- und Cannabiskonsums bei einer
Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit von 1,16 Promille fahruntüchtig gewesen sei.
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Auf die dem Angeklagten zur Last gelegte Trunkenheitsfahrt findet deutsches Strafrecht Anwendung. Dies ergibt sich aus den Bestimmungen des
Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Einrichtung
nebeneinanderliegender Grenzabfertigungsstellen und die Grenzabfertigung in Verkehrsmitteln während der Fahrt vom 01.06.1961 (BGBl II
1962, 879), geändert durch das Abkommen vom 12.04.1989 (BGBl II 1991, 292), die auf Grund der Zustimmungsgesetze vom 01.08.1962 (BGBl
II 877) und 21.12.1990 (BGBl II 1991, 291) innerstaatliches Recht geworden sind und als speziellere Regelung den Anwendungsbereich
deutscher Strafgesetze über die allgemeinen Vorschriften der §§ 3 ff StGB hinaus erweitern (vgl. BayObLGSt 1981, 72; BGHSt 31, 215). Nach Art.
4 Abs. 1 des Abkommens gelten in der im Gebietsstaat gelegenen Zone, in welcher die Bediensteten des Nachbarstaates zur Grenzabfertigung
berechtigt sind, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Nachbarstaates, die sich auf die Grenzabfertigung beziehen, in gleicher Weise wie
in der Gemeinde des Nachbarstaates, der die Grenzabfertigungsstelle zugeordnet ist. Sie werden von den Bediensteten des Nachbarstaates im
gleichen Umfang und mit allen Folgen wie im eigenen Staatsgebiet durchgeführt. Bei Verstößen in der Zone gegen sich auf die Grenzabfertigung
beziehende Rechts- und Verwaltungsvorschriften üben nach Art. 4 Abs. 2 des Abkommens die Gerichte und Behörden des Nachbarstaates die
Strafgerichtsbarkeit aus. Nach der Begriffsdefinition des Art. 2 Nr. 1 des Abkommens bedeutet Grenzabfertigung die Anwendung aller Rechts-
und Verwaltungsvorschriften, die sich auf den Grenzübertritt von Personen sowie die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Waren (worunter hier und im
folgenden auch Fahrzeuge verstanden werden) und anderen Vermögensgegenständen beziehen. Zu diesen Vorschriften zählen nicht nur
verfahrensrechtliche Bestimmungen, erfasst werden vielmehr alle formellen und materiellen Vorschriften, die sich auf den Grenzübergang von
Personen oder die Ein-, Aus- oder Durchfuhr von Waren beziehen, auch auf dem Gebiet des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts (vgl.
BayObLG aaO). Ein Bezug zum Grenzübertritt von Personen ist bei der rechtlichen Bewertung solcher Vorgänge zu bejahen, die im konkreten
Fall in einem inneren sachlichen Zusammenhang mit einem Grenzübergang stehen (vgl. BayObLG aaO; OLG Oldenburg NZV 1992, 165; OLG
Köln NStZ 1984, 321; 1984, 322). Straftaten, die auf einer vorgeschobenen deutschen Grenzabfertigungsstelle in der Schweiz aus Anlass der
Grenzkontrolle oder in einem sonstigen engen sachlichen Zusammenhang mit dem Grenzübertritt begangen werden, unterfallen dem Begriff der
Grenzabfertigung i. S. des Abkommens mit der Folge, dass deutsches Strafrecht Anwendung findet (BayObLG aaO; verneinend bei Verstößen
gegen straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften OLG Köln: aaO; OLG Oldenburg aaO). Der erforderliche enge Zusammenhang zum Grenzübertritt
ergibt sich im vorliegenden Fall daraus, dass der Angeklagte die Grenze gerade mittels Führens eines Kraftfahrzeugs in fahruntüchtigem Zustand
überqueren wollte. Da nach Aktenlage davon ausgegangen werden kann, dass die Fahrt des Angeklagten auf Grund der Einreisekontrolle
innerhalb der für die Grenzabfertigung durch den Bundesgrenzschutz vorgesehenen Zone ihren Abschluss fand, ist deutsches Strafrecht
anwendbar. Die Beamten des Bundesgrenzschutzes waren nach Art. 4 Abs. 1 des Abkommens befugt, die erforderlichen strafprozessualen
Maßnahmen nach deutschem Recht zu ergreifen, insbesondere den Angeklagten, der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, zur
Durchführung einer Blutentnahme festzunehmen und nach K. zu verbringen.
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Die Trunkenheitsfahrt, deren der Angeklagte dringend verdächtig ist, ist schließlich - unbeschadet der abweichenden Bezeichnung des Tatorts im
Anklagesatz und im amtsgerichtlichen Urteil - Gegenstand der Anklage der Staatsanwaltschaft K. vom 12.09.2004 sowie der erstinstanzlichen
Verurteilung.
7
Die Anklage hat in ihrer Umgrenzungsfunktion die Aufgabe, die dem Angeschuldigten zur Last gelegte Tat so genau zu bezeichnen, dass die
Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist. Es darf nicht unklar bleiben, über
welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll. Welche Anforderungen an eine ausreichende
Tatkonkretisierung im Anklagesatz zu stellen sind, lässt sich nicht abstrakt beantworten, sondern richtet sich nach den Umständen des konkreten
Einzelfalls (vgl. Senat NJW 2005, 767, 770; BayObLG NZV 2001, 176). Die Angabe der genauen Tatörtlichkeit ist für die Bezeichnung des
angeklagten Lebenssachverhalts dann nicht von Bedeutung, wenn der in der Anklage als Tat beschriebene geschichtliche Vorgang unabhängig
von der Bezeichnung des Tatorts durch andere Merkmale so konkretisiert ist, dass vernünftige Zweifel an der Individualität des Vorganges und
damit an der Unterscheidbarkeit von anderen ähnlichen Taten nicht bestehen. So liegt der Fall hier. In der Anklage der Staatsanwaltschaft K. vom
12.09.2004 werden unter Nr. 1 des Anklagesatzes als Tatort der dem Angeklagten angelasteten Trunkenheitsfahrt zwar öffentliche Straßen und
Wege in K. im Bereich des Grenzübergangs Autobahn angegeben. Mit Blick auf den unter Nr. 2 des Anklagesatzes geschilderten, der
Trunkenheitsfahrt zeitlich nachfolgenden Lebenssachverhalt ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang des Anklagesatzes indes eindeutig,
dass die Fahrt des Angeklagten, welche zur angegebenen Zeit mit der Einreisekontrolle durch den Bundesgrenzschutz am Grenzübergang
Konstanz Autobahn ihr Ende fand, den Gegenstand des Anklagevorwurfs bildet. An der Nämlichkeit des Lebenssachverhalts besteht entgegen
der Auffassung des Landgerichts kein Zweifel.
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Da der Angeklagte somit eines Vergehens der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr nach § 316 Abs. 2 StGB dringend verdächtig ist, sind mit Blick
auf die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB dringende Gründe für die Annahme gegeben, dass dem Angeklagten die Fahrerlaubnis
entzogen werden wird. Die Voraussetzungen des § 111 a Abs. 1 Satz 1 StPO liegen somit unverändert vor.
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2. Mit der Entscheidung über die Beschwerde der Staatsanwaltschaft in der Hauptsache ist die zulässige Beschwerde gegen die Ablehnung der
Vollziehungsaussetzung nach § 307 Abs. 2 StPO durch das Landgericht (vgl. Meyer-Goßner StPO 47. Aufl. § 307 Rdnr. 4) gegenstandslos
geworden.
10 III. Die Kostenentscheidung hinsichtlich der erfolgreichen Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts K. vom 23.02.2005 beruht auf
einer entsprechenden Anwendung des § 465 StPO. Im Übrigen ist eine Kostenentscheidung nicht veranlasst.