Urteil des OLG Karlsruhe vom 22.11.2006

OLG Karlsruhe: Abschiebehaftverfahren in Baden-Württemberg: Sachliche Zuständigkeit für den Abschiebehaftantrag gegen unerlaubt eingereiste abgelehnte Asylbewerber, abschiebungshaft, stadt, ausreise

OLG Karlsruhe Beschluß vom 22.11.2006, 14 Wx 50/06
Abschiebehaftverfahren in Baden-Württemberg: Sachliche Zuständigkeit für den Abschiebehaftantrag gegen unerlaubt eingereiste
abgelehnte Asylbewerber; Wirksamkeit der nicht anwaltlich unterschriebenen weiteren Beschwerde gegen die Ablehnung der Haftanordnung
Leitsätze
1. Legt die Ausländerbehörde gegen eine auf ihren erstinstanzlichen Antrag (hier: Antrag auf Anordnung der Abschiebungshaft) ergangene
Beschwerdeentscheidung weitere Beschwerde ein, so bedarf es zur Wirksamkeit des Rechtsmittels nicht der Unterzeichnung durch einen
Rechtsanwalt.
2. Reist ein abgelehnter Asylbewerber, der das Land bereits verlassen hatte, später unerlaubt erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein, so ist -
solange kein Folgeantrag gestellt ist - auch die untere Ausländerbehörde für die Stellung des Antrags auf Abschiebungshaft sachlich zuständig.
Tenor
1. Auf die sofortige weitere Beschwerde der Stadt Freiburg - untere Ausländerbehörde - wird der Beschluß des Landgerichts Freiburg vom
20.10.2006 - 4 T 252/06 - aufgehoben.
2. Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das Landgericht Freiburg zurückverwiesen.
Gründe
I.
1
Der erstmals im Jahr 2001 in die Bundesrepublik Deutschland eingereiste Betroffene, ein türkischer Staatsbürger, war nach Ablehnung seines
Asylantrags durch Beschluß des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 03.05.2002, bestandskräftig seit dem
17.01.2003, am 10.08.2004 abgeschoben worden. Zu einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt danach ist er unerlaubt erneut nach
Deutschland eingereist. Am 11.10.2006 wurde er bei einer Personenkontrolle aufgegriffen.
2
Mit Beschluß vom 12.10.2006 hat das Amtsgericht Freiburg auf Antrag der Stadt Freiburg - untere Ausländerbehörde - vom selben Tag gegen
den Betroffenen zur Sicherung der Abschiebung die bis zum 11.01.2007 befristete Abschiebungshaft angeordnet.
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Auf die dagegen eingelegte sofortige Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht mit Beschluß vom 20.10.2006, welcher der Stadt Freiburg
am 24.10.2006 zugestellt wurde, die Entscheidung des Amtsgerichts aufgehoben und den Antrag auf Anordnung von Abschiebungshaft mit der
Begründung zurückgewiesen, zur Antragstellung sei im vorliegenden Fall nicht die untere Ausländerbehörde, sondern das Regierungspräsidium
als höhere Ausländerbehörde zuständig gewesen.
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Hiergegen richtet sich die mit Schriftsatz vom 06.11.2006, unterschrieben durch Stadtrechtsdirektor G., eingelegte und am selben Tag beim
Oberlandesgericht eingegangene sofortige weitere Beschwerde der Stadt Freiburg .
II.
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1. Das Rechtsmittel ist form- und fristgerecht eingelegt worden und damit zulässig. Entgegen der in dem angefochtenen Beschluß enthaltenen
Rechtsmittelbelehrung bedurfte es zur Wirksamkeit der Rechtsmitteleinlegung nicht der Unterzeichnung der Beschwerdeschrift durch einen
Rechtsanwalt. Dies ergibt sich unmittelbar aus dem in § 29 Abs. 1 S. 3 FGG normierten Behördenprivileg. Daß die untere Ausländerbehörde eine
„Behörde“ im Sinne der genannten Vorschrift ist, steht außer Frage (zum Behördenbegriff und zum Behördenprivileg vgl. etwa Meyer-Holz, in:
Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 15. Aufl. 2003, Rdn. 18 ff. zu § 29 m.w.N.). Es bestehen auch keine Zweifel daran, daß Stadtrechtsdirektor G.
behördenintern zur Unterzeichnung der Rechtsbeschwerdeschrift zuständig war.
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2. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Entgegen
der Auffassung des Landgerichts ist der Haftantrag (§ 3 Satz 1 FEVG) von der sachlich zuständigen Ausländerbehörde gestellt worden. Damit
beruht die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung i.S.v. § 27 FGG (zum Begriff vgl. Meyer-Holtz, a.a.O., Rdn. 21 zu § 27).
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a) In Baden-Württemberg richten sich örtliche und sachliche Zuständigkeit der Ausländerbehörden nach der aufgrund § 71 Abs. 1 S. 2 AufenthG
ergangenen Verordnung der Landesregierung und des Innenministeriums über Zuständigkeiten nach dem Aufenthaltsgesetz und dem
Asylverfahrensgesetz sowie über die Verteilung unerlaubt eingereister Ausländer (Aufenthalts- und Asyl-Zuständigkeitsverordnung - AAZuVO)
vom 11.01.2005 (GBl. S. 93), geändert durch ÄndVO vom 04.10.2005 (GBl. S. 678). Nach deren § 3 Abs. 1 sind grundsätzlich die unteren
Ausländerbehörden sachlich zuständig. Eine hiervon abweichende Regelung enthält § 6 Abs. 1 AAZuVO. Danach sind die Regierungspräsidien
„zuständig für Maßnahmen und Entscheidungen zur Beendigung des Aufenthalts abgelehnter Asylbewerber einschließlich ihrer
Familienangehörigen, auch wenn diese keinen Asylantrag gestellt haben.“ Darunter fällt auch die Beantragung von Abschiebungshaft (§ 6 Abs. 1
S. 2 Nr. 7 AAZuVO).
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b) Nach Auffassung des Landgerichts ergibt sich aus der Regelung nach § 6 AAZuVO eine sachliche Unzuständigkeit der unteren
Verwaltungsbehörde für die Beantragung von Abschiebungshaft auch in solchen Fällen, in denen ein Asylbewerber die Bundesrepublik nach
Ablehnung seines Asylantrags verlassen hat und zu einem späteren Zeitpunkt unerlaubt erneut eingereist ist. Dem vermag der Senat nicht zu
folgen, wobei er nicht verkennt, daß ein derartiges Verständnis mit dem Wortlaut der Vorschrift zu vereinbaren wäre. Indessen entspricht es
geläufiger und allgemein anerkannter Interpretationsmethode in sämtlichen Rechtsgebieten, den Sinngehalt einer Norm nicht allein nach ihrem
Wortlaut, sondern unter Berücksichtigung insbesondere auch von Sinn und Zweck der Regelung sowie nach ihrem Systemzusammenhang zu
bestimmen (vgl. nur etwa BVerfGE 11, S. 126 ff., 130 f.; BGHZ 17, S. 266 ff., 275 f.; v.Mangoldt/Klein/Starck, GG, 5. Aufl. 2005, Rdn. 328 zu Art. 1).
Eine dies berücksichtigende Auslegung von § 6 AAZuVO ergibt, daß in Fällen der hier vorliegenden Art für die Beantragung von
Abschiebungshaft die untere Ausländerbehörde zuständig ist:
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aa) Schon der Wortlaut der Vorschrift, wonach die Regierungspräsidien - in Abweichung von der in § 3 AAZuVO normierten Regel - sachlich
zuständig sind „für Maßnahmen und Entscheidungen zur Beendigung des Aufenthalts abgelehnter Asylbewerber einschließlich ihrer
Familienangehörigen, auch wenn diese keinen Asylantrag gestellt haben“, legt ein Verständnis dahin nahe, daß sie sich lediglich auf
Maßnahmen und Entscheidungen bezieht, die aufgrund eines erfolglos gebliebenen Asylverfahrens erforderlich werden. Für eine solche
Konzentrierung der sachlichen Zuständigkeit der höheren Ausländerbehörde für die Vollziehung von Ausreiseaufforderungen und
Abschiebungshaftandrohungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die anläßlich der Ablehnung von Asylanträgen
ergangen sind, sprechen rechtliche und organisatorische Gründe - insbesondere Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte -, die bei einer ohne
vorherigen Verwaltungsakt kraft Gesetzes (§ 50 Abs. 1 AufenthG) bestehenden Ausreisepflicht nicht vorliegen.
10 Ist ein früherer Asylbewerber nach Ablehnung seines Antrags und daraufhin erfolgter Ausreise unerlaubt wieder nach Deutschland eingereist, so
besteht Ausreisepflicht nicht aufgrund der nach Ablehnung des Antrags erfolgten Zustellung der Abschiebungsandrohung des BAMF (§ 34
AsylVfG; vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, Rdn. 6 zu § 34 AsylVfG) - diese ist infolge der zwischenzeitlichen Ausreise „verbraucht“ -,
sondern aufgrund § 50 Abs. 1 AufenthG. Die für die Zuständigkeitsregelung nach § 6 AAZuVO maßgeblichen - und von der Judikative zu
akzeptierenden - Erwägungen der Exekutive greifen dann nicht durch, so daß für eine Konzentrierung der sachlichen Zuständigkeit der höheren
Ausländerbehörde für die Stellung von Abschiebungshaftanträgen auch kein innerer Grund besteht.
11 bb) Eine allein auf den Wortlaut abstellende Auslegung von § 6 AAZuVO würde im übrigen zu einem geradezu absurden Ergebnis führen. Die
Folge einer ausschließlichen sachlichen Zuständigkeit der Regierungspräsidien für Abschiebungshaftanträge träte dann nämlich nicht nur ein,
wenn der unerlaubt Eingereiste selbst in früheren Jahren einmal einen erfolglos gebliebenen Asylantrag gestellt hat, sondern auch dann, wenn
damaliger Antragsteller ein Familienangehöriger i.S.v. § 6 Abs. 1 S.1 AAZuVO war. Für eine solche - praktisch auch gar nicht nicht durchführbare
- Regelung gäbe es keinerlei nachvollziehbare Gründe und sie ist vom Verordnungsgeber erkennbar nicht gewollt.
12 cc) Was das Landgericht zur Stützung seiner Auffassung ausführt, greift nicht durch:
13 (1) Richtig ist zwar sein Hinweis, wonach der Kompetenzordnung nicht nur im Bereich der Gesetzgebung (vgl. BVerfGE 55, S. 274 ff., 300 ff.;
BVerfGE 108, S. 169 ff., 181 f.), sondern auch im Bereich der Zuständigkeit der Verwaltungsbehörden grundrechtssichernde Funktion zukommt.
Ebenfalls richtig ist, daß es gerade im Bereich der Zuständigkeit für freiheitsentziehende Maßnahmen - wie hier der Abschiebungshaft - klarer
und eindeutiger Zuständigkeitsregelungen bedarf, um eine effektive Rechtskontrolle durch den und im Interesse des durch eine solche
Maßnahme Betroffenen zu ermöglichen. Dies kann in Fällen der hier vorliegenden Art aber schon deshalb nicht zu einer Kompetenzverlagerung
von den unteren auf die höheren Ausländerbehörden führen, weil eine solche von § 6 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 AAZuVO - wie ausgeführt - hierfür nicht
vorgesehen ist. - Davon abgesehen erscheint es gerade unter Aspekten der Rechtsstaatlichkeit geboten, eine Kompetenzverlagerung von den
gem. § 3 Abs. 1 AAZuVO regelmäßig zuständigen unteren auf die höheren Ausländerbehörden nur dann anzunehmen, wenn eine solche
Verlagerung hinreichend deutlich normiert ist, was für Fallgestaltungen der hier in Rede stehenden Art zweifellos nicht der Fall ist.
14 (2) Ebenfalls richtig ist der Hinweis des Landgerichts, daß die Qualifizierung eines Ausländers als „abgelehnter Asylbewerber“ auch nach seiner
Ausreise von rechtlicher Bedeutung ist, insbesondere im Zusammenhang mit der Stellung eines Folgeantrags (§ 71 AsylVfG). Dies ändert aber
nichts daran, daß er vor wirksamer Stellung eines solchen Antrags nicht anders als andere Ausländer zu behandeln ist, deren Aufenthalt in
Deutschland nicht auf die Gewährung von Asyl gerichtet ist. Demgemäß besteht auch kein innerer Grund, von der allgemeinen
Zuständigkeitsregel des § 3 Abs. 1 AAZuVO abzuweichen. Anders liegt es, wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen nach Stellung eines
Folgeantrags erforderlich werden. In einem solchen Fall liegen dann wieder die Voraussetzungen § 6 Abs. 1 AAZuVO für eine
Zuständigkeitsverlagerung auf die oberen Ausländerbehörden vor.
III.
15 Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, da noch Tatsachenfeststellungen zu treffen sind. Insbesondere kann nicht beurteilt
werden, ob die Stadt Freiburg auch örtlich für die Beantragung der Abschiebungshaft zuständig war (§ 4 AAZuVO). Die Sache war deshalb an
das Landgericht zurückzuverweisen.